mister-ede.de » BVerfG https://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Das Verfassungsgerichtsurteil zu Hartz-IV-Sanktionen ist ein Sieg des Sozialstaats https://www.mister-ede.de/politik/urteil-hartz-iv-sanktionen/8920 https://www.mister-ede.de/politik/urteil-hartz-iv-sanktionen/8920#comments Sat, 09 Nov 2019 17:52:26 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8920 Weiterlesen ]]> Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein regelrechter Befreiungsschlag für einen Sozialstaat, der seit zig Jahren von einer laissez-faire-neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik konsequent ausgehöhlt wurde und zwar bis weit über die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen hinaus. Das wissen wir heute.

Und alle wussten es eigentlich auch schon immer. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren immer wieder klargestellt, dass unser Staat als demokratischer und sozialer Bundesstaat grundsätzlich verpflichtet ist, Menschen in einer existenziellen Notlage zu helfen. Lediglich die Beantwortung der Frage, wie und in welchem Maße Hilfe gewährt werden muss, haben die Verfassungsrichter entsprechend der Gewaltenteilung stets so weit wie möglich der Politik in Form des Gesetzgebers überlassen.
Insofern muss man aber kein promovierter Sozial- oder Staatsrechtler sein, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass eine vollständige Kürzung aller Hilfen bei Personen, die sich nicht selbst aus ihrer Existenznot befreien können, niemals und nimmer nicht diesen Anforderung genügen kann. Und so hat man zwischen den Zeilen bei diversen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts und seiner Vertreter in der Vergangenheit einen gewissen Hilfeschrei an die Politik vernehmen können, man solle doch bitte in Berlin endlich handeln, damit Karlsruhe sich in dieser Frage nicht zum Ersatzgesetzgeber machen muss.
Diesen Ruf haben aber insbesondere CDU und CSU ganz bewusst überhört, denn für die langjährige Regierungspartei und ihre Kanzlerin bietet die jetzige Situation nur Vorteile. Zum einen wird ein innerparteilicher Streit über die Lockerung der Sanktionen vermieden und man kann nun ganz bequem sagen, das Verfassungsgericht hat uns halt zum Handeln gezwungen. Zum anderen dürfte die Kritik an dem bisherigen, in weiten Teilen massiv verfassungswidrigen Hartz-IV-Sanktionsregime insbesondere die SPD treffen. Sie hatte Hartz-IV und die Sanktionen eingeführt und das Urteil verdeutlicht nun einmal wieder, wie sehr bei der Sozialpolitik der SPD Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen.

Nun aber hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil gesprochen und damit erstmals ein Grenze festgelegt, die als absolutes Existenzminimum angesehen werden kann. 10 Euro am Tag, ein Dach über dem Kopf, Heizung und Krankenversicherung – darunter kommt der Staat nie mehr, bei niemandem der hierzulande in Existenznot ist. Und auch an diese absolut unterste Grenze kommt der Staat künftig nur noch in jenen Ausnahmefällen, in denen es absolut triftige Gründe für die Unterschreitung des vom Gesetzgeber festgelegten Existenzminimums gibt. Wenn aber eine 30% Sanktion das Maximum dessen ist, was im verfassungsrechtlichen Rahmen noch ausnahmsweise zulässig bleibt, wird man künftig bei einem ersten abgelehnten Jobangebot nicht gleich 30% sanktionieren. Das Urteil wird deshalb erhebliche Auswirkungen auf das bisherige Sanktionsregime insgesamt haben und auch die Debatte über eine Umstellung von Sanktionen auf Anreize dürfte wieder deutlich an Fahrt aufnehmen. Statt 10% Sanktionen für diejenigen, die Termine verpassen, sind ja auch 10% Bonus für all jene denkbar, die ihre Sachen mit dem Amt ordentlich regeln.

Möglich bleibt aber natürlich weiterhin, die Leistungen in den Fällen komplett zu streichen, in denen überhaupt keine Existenznot vorliegt, welche die Menschenwürde bedroht. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn und solange direkt verwertbare Rücklagen vorhanden sind, gegebenenfalls auch im Bereich des eigentlichen Schonvermögens, oder wenn und solange es zumutbare Arbeit gibt, z.B. durch ein staatliches Arbeitsprogramm, das eine jederzeitige Arbeitsaufnahme erlaubt. Gibt es solche Möglichkeiten, um direkt und unmittelbar für seine Existenzsicherung zu sorgen, so hat man durch das Nachrangprinzip auch weiterhin keinen Anspruch auf eine Hilfsleistung der Solidargemeinschaft. Zwar wird dies in einigen Veröffentlichungen zum Urteil als Hintertür bezeichnet, aber rechtsdogmatisch wie auch inhaltlich-logisch ist das konsistent und aus meiner Sicht war jetzt auch nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht den lange entwickelten Nachranggrundsatz kippt.
Sobald in der nächsten Zeit die tatsächlichen Auswirkungen des Urteils sichtbar werden, z.B. durch die Aussetzung der Sanktionen auch für unter 25-Jährige, dürfte sich aber auch diese mancherorts noch vorhandene Skepsis gegenüber dem Urteil legen und noch viel deutlich werden, welchen Fortschritt der Richterspruch aus Karlsruhe für den Sozialstaat bedeutet.

Link zur Pressemeldung des BVerfG mit dem Urteil (www.bundeverfassungsgericht.de)


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CETA und die unsägliche Stimmungsmache der Tagesschau https://www.mister-ede.de/politik/ceta-stimmungsmache/5572 https://www.mister-ede.de/politik/ceta-stimmungsmache/5572#comments Sat, 22 Oct 2016 07:08:01 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=5572 Weiterlesen ]]> Es ist mal wieder soweit. Die Tagesschau schaltet von Nachrichtenmodus auf Stimmungsmache um. Anscheinend passt es den Mitarbeitern dort nicht, dass sich die demokratisch gewählten Vertreter des wallonischen Parlaments gegen CETA wehren. Und so präsentiert die Tagesschau, wie beispielsweise bei der Ukraine-Krise, nicht nur eine eigene Meinung, sondern schafft sich gleich auch ihre ganz eigenen Fakten fern jedweder Realität.

So schreibt beispielsweis Karin Bensch in einem Kommentar für tagesschau.de, „es ist schon sehr kurios, dass eine belgische Mini-Region ein europäisches Handelsabkommen blockieren kann“ [1].
Kurios ist allerdings viel eher, dass eine Journalistin der Tagesschau nicht mitbekommen haben will, dass das Bundesverfassungsgericht in der letzten Woche CETA noch mal ganz klar als gemischtes Abkommen mit weitreichenden Eingriffen in die nationale Gesetzgebung und eben gerade nicht als reines Handelsabkommen eingestuft hat. Wenn die Tagesschau also so tut, als wäre CETA nur ein klitzekleines Handelsabkommen, dann schafft man sich dort einfach eine ganz eigene Realität.

Hinzu kommt die klar abwertende Bezeichnung „belgische Mini-Region“ für die Wallonie. Tatsächlich leben dort prozentual mehr Belgier als Bundesbürger in NRW leben. Käme Frau Bensch wohl auf die Idee, NRW als deutsche Mini-Region zu bezeichnen?
Außerdem leben dort weit mehr EU-Bürger als in Malta, Luxemburg, Zypern und Estland zusammen. Diesen Ländern würde man doch wohl auch nicht das Recht absprechen, sich im Rahmen des vorhandenen politischen Systems am demokratischen Prozess in der EU zu beteiligen. Warum jetzt aber die 3,6 Millionen Wallonen aus der angeblichen „Mini-Region“ weniger demokratische Rechte haben sollen als 3,1 Millionen Malteser, Luxemburger, Zyprioten und Esten, beantwortet Frau Bensch nicht. Wahrscheinlich wäre es auch verdammt schwer, das zu erklären.

Ein weiteres Beispiel für die Schaffung einer eigenen Wirklichkeit durch die Journalisten der Tagesschau ist die Behauptung, „der wallonische Ministerpräsident Paul Magnette muss sich vorwerfen lassen, erst im letzten Moment die Brechstange angesetzt zu haben“ [2]. Auch dies ist nämlich schlicht falsch, denn bis vor 3 Monaten waren weder das belgische Parlament noch der Bundestag und eben auch nicht die Wallonie für CETA zuständig.
Die Brechstange wurde also von der EU angesetzt, die über 7 Jahre lang versucht hat, den CETA-Vertrag, trotz seiner weitreichenden Folgen für die nationale Gesetzgebung, an diesen demokratischen Institutionen vorbei zu schleusen. Und warum hätte sich in dieser Zeit das wallonische Parlament oder der Ministerpräsident Paul Magnette für Veränderungen bei CETA einsetzen sollen? Damals hätte man ihn ausgelacht und mit den Worten „CETA geht dich nichts an“ wieder heimgeschickt.

Ob den Journalisten der Tagesschau diese Fakten wirklich alle unbekannt sind oder ob vielleicht, wie schon bei der Maidan-Berichterstattung, später, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, eingestanden wird, ein völlig verzerrtes Bild präsentiert zu haben, weiß ich nicht.
Klar ist aber, dass man die Wallonie nicht als „Mini-Region“ abwerten oder das gemischte Abkommen CETA als einfaches Handelsabkommen verniedlichen muss. Und der Versuch, jetzt die Wallonen oder die Belgier dafür verantwortlich zu machen, dass 7 Jahre lang über ihre Köpfe hinweg diskutiert und entschieden wurde, muss sicher auch nicht sein. Dass es bei der Tagesschau trotzdem gemacht wird, zeigt daher, dass dort mal wieder von Nachrichtenmodus auf Stimmungsmache umgeschaltet wurde.


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[1] Kommentar von Karin Bensch vom 21.10.2016 auf tagesschau.de (Link zum Kommentar auf www.tageschau.de)

[2] ebenda

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