mister-ede.de » Sozialstaat http://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Das Verfassungsgerichtsurteil zu Hartz-IV-Sanktionen ist ein Sieg des Sozialstaats http://www.mister-ede.de/politik/urteil-hartz-iv-sanktionen/8920 http://www.mister-ede.de/politik/urteil-hartz-iv-sanktionen/8920#comments Sat, 09 Nov 2019 17:52:26 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8920 Weiterlesen ]]> Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein regelrechter Befreiungsschlag für einen Sozialstaat, der seit zig Jahren von einer laissez-faire-neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik konsequent ausgehöhlt wurde und zwar bis weit über die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen hinaus. Das wissen wir heute.

Und alle wussten es eigentlich auch schon immer. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren immer wieder klargestellt, dass unser Staat als demokratischer und sozialer Bundesstaat grundsätzlich verpflichtet ist, Menschen in einer existenziellen Notlage zu helfen. Lediglich die Beantwortung der Frage, wie und in welchem Maße Hilfe gewährt werden muss, haben die Verfassungsrichter entsprechend der Gewaltenteilung stets so weit wie möglich der Politik in Form des Gesetzgebers überlassen.
Insofern muss man aber kein promovierter Sozial- oder Staatsrechtler sein, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass eine vollständige Kürzung aller Hilfen bei Personen, die sich nicht selbst aus ihrer Existenznot befreien können, niemals und nimmer nicht diesen Anforderung genügen kann. Und so hat man zwischen den Zeilen bei diversen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts und seiner Vertreter in der Vergangenheit einen gewissen Hilfeschrei an die Politik vernehmen können, man solle doch bitte in Berlin endlich handeln, damit Karlsruhe sich in dieser Frage nicht zum Ersatzgesetzgeber machen muss.
Diesen Ruf haben aber insbesondere CDU und CSU ganz bewusst überhört, denn für die langjährige Regierungspartei und ihre Kanzlerin bietet die jetzige Situation nur Vorteile. Zum einen wird ein innerparteilicher Streit über die Lockerung der Sanktionen vermieden und man kann nun ganz bequem sagen, das Verfassungsgericht hat uns halt zum Handeln gezwungen. Zum anderen dürfte die Kritik an dem bisherigen, in weiten Teilen massiv verfassungswidrigen Hartz-IV-Sanktionsregime insbesondere die SPD treffen. Sie hatte Hartz-IV und die Sanktionen eingeführt und das Urteil verdeutlicht nun einmal wieder, wie sehr bei der Sozialpolitik der SPD Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen.

Nun aber hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil gesprochen und damit erstmals ein Grenze festgelegt, die als absolutes Existenzminimum angesehen werden kann. 10 Euro am Tag, ein Dach über dem Kopf, Heizung und Krankenversicherung – darunter kommt der Staat nie mehr, bei niemandem der hierzulande in Existenznot ist. Und auch an diese absolut unterste Grenze kommt der Staat künftig nur noch in jenen Ausnahmefällen, in denen es absolut triftige Gründe für die Unterschreitung des vom Gesetzgeber festgelegten Existenzminimums gibt. Wenn aber eine 30% Sanktion das Maximum dessen ist, was im verfassungsrechtlichen Rahmen noch ausnahmsweise zulässig bleibt, wird man künftig bei einem ersten abgelehnten Jobangebot nicht gleich 30% sanktionieren. Das Urteil wird deshalb erhebliche Auswirkungen auf das bisherige Sanktionsregime insgesamt haben und auch die Debatte über eine Umstellung von Sanktionen auf Anreize dürfte wieder deutlich an Fahrt aufnehmen. Statt 10% Sanktionen für diejenigen, die Termine verpassen, sind ja auch 10% Bonus für all jene denkbar, die ihre Sachen mit dem Amt ordentlich regeln.

Möglich bleibt aber natürlich weiterhin, die Leistungen in den Fällen komplett zu streichen, in denen überhaupt keine Existenznot vorliegt, welche die Menschenwürde bedroht. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn und solange direkt verwertbare Rücklagen vorhanden sind, gegebenenfalls auch im Bereich des eigentlichen Schonvermögens, oder wenn und solange es zumutbare Arbeit gibt, z.B. durch ein staatliches Arbeitsprogramm, das eine jederzeitige Arbeitsaufnahme erlaubt. Gibt es solche Möglichkeiten, um direkt und unmittelbar für seine Existenzsicherung zu sorgen, so hat man durch das Nachrangprinzip auch weiterhin keinen Anspruch auf eine Hilfsleistung der Solidargemeinschaft. Zwar wird dies in einigen Veröffentlichungen zum Urteil als Hintertür bezeichnet, aber rechtsdogmatisch wie auch inhaltlich-logisch ist das konsistent und aus meiner Sicht war jetzt auch nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht den lange entwickelten Nachranggrundsatz kippt.
Sobald in der nächsten Zeit die tatsächlichen Auswirkungen des Urteils sichtbar werden, z.B. durch die Aussetzung der Sanktionen auch für unter 25-Jährige, dürfte sich aber auch diese mancherorts noch vorhandene Skepsis gegenüber dem Urteil legen und noch viel deutlich werden, welchen Fortschritt der Richterspruch aus Karlsruhe für den Sozialstaat bedeutet.

Link zur Pressemeldung des BVerfG mit dem Urteil (www.bundeverfassungsgericht.de)


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„Den Deutschen geht es doch eigentlich gut.“ Wirklich? http://www.mister-ede.de/politik/deutschen-geht-es-doch-gut/5799 http://www.mister-ede.de/politik/deutschen-geht-es-doch-gut/5799#comments Sun, 04 Dec 2016 08:21:19 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=5799 Weiterlesen ]]> „Den Deutschen geht es doch eigentlich gut“, gleich dreimal ist mir dieser Satz im Laufe der vergangenen Woche begegnet – in einer längeren Diskussion mit einem Bekannten, am Rande einer Diskussionsveranstaltung im Gespräch mit David Schrock, stellvertretender Landesvorsitzender der Europa-Union NRW, und in ähnlicher Form in einem Artikel auf Carta.info von Klaus Vater (SPD), der früher Pressesprecher des BMG und auch schon stellvertretender Regierungssprecher war.
Nun will ich überhaupt nicht bestreiten, dass es zig Millionen Menschen gibt, denen es in Deutschland gut geht. Dennoch bringt mich dieser Satz, den man in allen drei Kontexten um ein, „ich verstehe gar nicht, warum sich die Leute beklagen“, ergänzen kann, zum Kopfschütteln. In seiner Pauschalität blendet er nämlich die Fehlentwicklungen der letzten Jahre aus und blickt auf einen Durchschnitt, der wenig bis gar nichts über die Lebenssituation des Einzelnen aussagt. Tatsächlich ist es sogar wenig verwunderlich, dass zahlreiche Bürger unseres Landes einen anderen Eindruck haben. Warum ihr Gefühl nicht falsch ist und sie völlig zu Recht beklagen, dass hierzulande vieles im Argen liegt, soll in diesem Artikel dargestellt werden.

Blicken wir zunächst auf die Entwicklung der allgemeinen Kosten der Lebensführung. Anfang 1998 lag der Mehrwertsteuersatz noch bei 15%, wurde aber seitdem auf 19% erhöht [1]. Auch viele andere Verbrauchssteuern, z.B. für Benzin, wurden im Laufe der Zeit angehoben und überdies müssen die Bürger heute zusätzliche Abgaben stemmen, wie beispielsweise die EEG-Umlage für die erneuerbaren Energien. Die Lebenshaltung wurde in Deutschland somit durchaus teurer und gerade diejenigen, die wenig Geld in der Tasche haben und dieses vollständig für den notwendigen Lebensbedarf ausgeben müssen, spüren das natürlich besonders.

Schauen wir als nächstes auf die gesetzliche Rente. Weder heute noch vor 20 Jahren war sie die einzige Alterssicherung, allerdings ist völlig klar, dass jene, die in ihrem Leben kein weiteres Vermögen aufbauen konnten, auf eben diese Rente angewiesen sind.
1995 lag das Rentenniveau beim Renteneintritt noch bei etwa 54%, heute liegt es hingegen bei nur noch rund 48% [2] und das, obwohl gleichzeitig das Rentenzugangsalter der Gesamtgesellschaft von 60,1 Jahren im Jahr 2000 auf 61,9 Jahre im Jahr 2015 angestiegen ist [3]. Hinzu kommt, dass die 2001 als Ersatz für die bis dahin geltende Berufsunfähigkeitsrente eingeführte Erwerbsminderungsrente oftmals unzureichend ist und außerdem seit 2005 die Rentenbezüge teilweise versteuert werden müssen [4].
Genauso gab es auch beim Kindergeld, also der staatlichen Förderung für Kinder einkommensschwacher Eltern, keinen Zuwachs, sondern eher einen Verfall. Von 2002 bis 2015 stieg das Kindergeld um 22% für das erste und zweite Kind, um 26% für das dritte Kind und wiederum um 22% für jedes weitere Kind [5].
Der Verbraucherpreisindex ist allerdings im selben Zeitraum ebenfalls um 21% angestiegen [6]. Das klingt zwar zunächst ausgeglichen, jedoch muss hierbei berücksichtigt werden, dass Eltern heute zahlreiche neue Ausgaben tragen müssen. Beispielsweise ist der Computer samt Internetanschluss inzwischen unerlässlich für die schulische Bildung und statt des früheren Förderunterrichts für leistungsschwache Schüler ist heute die privat zu finanzierende Nachhilfe zum Standard geworden. Auch die einst üblichen Zusatzangebote der Schulen, z.B. im Bereich Musik, Sport oder Technik, wurden vielerorts eingespart und müssen heute von den Eltern aus eigener Tasche bezahlt werden – sofern sie es sich denn überhaupt noch leisten können.

Dann denken wir an den Arbeitsmarkt. Die Zahl der Leiharbeiter hat sich von 181.000 im Jahr 1997 auf inzwischen 951.000 erhöht [7]. Auch die Zahl der Befristungen hat sich bei jüngeren Arbeitnehmern seit den 90ern mehr als verdoppelt [8]. Überdies gibt es zahlreiche Arbeitnehmer, die früher zur Stammbelegschaft eines Unternehmens gehört hätten, inklusive Tarifvertrag, jedoch heute über Subunternehmer und Werkverträge beschäftigt sind und dieselbe Tätigkeit für einen weit geringeren Lohn durchführen müssen.
Natürlich gibt es innerhalb dieser Beschäftigtengruppe auch Leiharbeiter, die gut bezahlt sind, Zeitarbeiter, die über einen solchen Vertrag einen Einstieg in ein Unternehmen schaffen, oder hochbezahlte Informatiker, die von ihrem Arbeitgeber für fünfstellige Beträge monatsweise in verschiedene andere Betriebe entsendet werden. Aber es gibt darunter eben auch Paketzusteller, Reinigungskräfte oder Regaleinräumer, die zum Teil unter obskuren Bedingungen mit Minilöhnen regelrecht ausgebeutet werden.
Zusätzlich hat die berüchtigte Hartz-Gesetzgebung aus der Zeit der Agenda-2010-Reformen zahlreiche Menschen spürbar schlechter gestellt. So fallen Arbeitslose heute schon wesentlich schneller aus dem Arbeitslosengeld-I auf Hartz-IV-Niveau und es gibt z.B. verschärfte Zumutbarkeitsregeln für die Aufnahme einer neuen Tätigkeit. Überdies müssen sich Hartz-IV-Empfänger zum gläsernen Bürger machen lassen und selbst die Kinder oder die Eltern von Hartz-IV-Beziehern werden für die Unterhaltssicherung zur Kasse gebeten.

Wir haben in Deutschland also eine Alterssicherung, die für den Einzelnen spürbar schlechter ist als vor 20 Jahren. Wir haben Eltern mit geringen und mittleren Einkommen, die in der Relation heute weniger Kinderförderung erhalten als Anfang des Jahrtausends. Wir haben Millionen Arbeitnehmer, die prekär beschäftigt sind und von Minilöhnen leben müssen. Und dazu haben wir dann auch noch ein zum Teil demütigendes Hartz-IV-System, das zu einem schnelleren und tieferen Sturz aus der Mitte der Gesellschaft führt.
Natürlich geht es in Deutschland nicht allen 80 Millionen Einwohnern schlecht. Aber wenn es 15 oder 20 Millionen Menschen gibt, die am finanziellen Rand der Gesellschaft leben müssen oder im Rentenalter dort leben werden, kann man das auch nicht einfach wegwischen. Der Satz, „den Deutschen geht es doch eigentlich gut“, ist zwar in seiner pauschalen Durchschnittsbetrachtung richtig, sobald man aber auf einzelne Gruppen in der Gesellschaft schaut, erkennt man recht schnell, dass eine solche Betrachtungsweise in die Irre führt.

Blickt man zusätzlich noch auf das andere Ende der Skala und sieht die spürbare Entlastung von Vermögenden und Besserverdienenden, kann man durchaus von einer Politik der sozialen Spaltung sprechen. In etwa dem gleichen Zeitraum wurde nämlich die Vermögenssteuer abgeschafft, die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge eingeführt und der Spitzensteuersatz abgesenkt. Wer also im Jahr 1997 ein Vermögen in Höhe von 5 Millionen Euro hatte und hieraus Kapitalerträge in Höhe von 300.000 Euro bezog, musste davon ganz grob 150.000 Euro an Steuern (Vermögenssteuer, Einkommensteuer + Soli) zahlen. Heute muss eine solche Person hingegen gerademal mit rund 85.000 Euro Steuern (Abgeltungsteuer + Soli) rechnen. So lässt sich dann natürlich auch eine um vier Prozentpunkte höhere Mehrwertsteuer oder die EEG-Umlage gut verkraften.
Dass sich allerdings umgekehrt Millionen Bürger in unserem Land von einer solchen Politik des Fordern und Förderns veräppelt fühlen, weil offensichtlich von den ärmeren Schichten immer mehr gefordert wird, während die reicheren Schichten ordentlich gefördert werden, ist kein Wunder. Und wenn dann auch noch beispielsweise Managerboni hinzu kommen, die gezahlt werden, obwohl das betreffende Unternehmen wegen Managementfehlern massiv Stellen abbauen muss, oder Milliardenhilfen für Banken gewährt werden, die am Ende natürlich nur denjenigen nutzen, die bei diesen Geldhäusern ihr Vermögen liegen haben, ist es absolut verständlich, dass viele Bürger eine wachsende Ungerechtigkeit in Deutschland beklagen.


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Die Konzentration von Vermögen und die Auswirkungen (www.mister-ede.de – 26.11.2012)

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Die Zentrifugalkraft des Politikversagens: Grexit, PEGIDA und „Charlie Hebdo“ (www.mister-ede.de – 10.01.2015)


[1] Bundeszentrale für politische Bildung u.a. zur Entwicklung der MwSt.-Steuersätze (Link zum Beitrag auf www.bpb.de)

[2] Bundeszentrale für politische Bildung u.a. zum Rentenniveau (Link zum Beitrag auf www.bpb.de)

[3] PDF der Deutschen Rentenversicherung u.a. zum Zugangsalter (Link zur PDF auf www.deutsche-rentenversicherung.de)

[4] Übersicht der Deutschen Rentenversicherung zur Rentenbesteuerung (Link zur Übersicht auf www.deutsche-rentenversicherung.de)

[5] PDF der Universität Duisburg Essen zur Entwicklung des Kindergelds (Link zur PDF auf www.sozialpolitik-aktuell.de)

[6] PDF des Statistischen Bundesamtes zur Entwicklung des Verbraucherpreisindex (Link zur PDF auf www.destatis.de)

[7] Statistik der Arbeitsagentur zu verschiedenen Beschäftigungsformen (Stand November 2016) (Link zur Statistik auf arbeitsagentur.de)

[8] Statistik des Statistischen Bundesamtes zum Anteil der befristet Beschäftigten (Link zur Statistik auf www.destatis.de)

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Lohnaufstockung und die Folgen: Als der Staat zum Lohndumping einlud http://www.mister-ede.de/politik/lohnaufstockung-und-folgen/4703 http://www.mister-ede.de/politik/lohnaufstockung-und-folgen/4703#comments Wed, 13 Jan 2016 20:03:16 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4703 Weiterlesen ]]> 20 Jahre ist es her, dass sich Bündnis 90/Die Grünen mit besten Absichten auf den Weg machten, die Sozialhilfe durch eine Grundsicherung zu ersetzen [1]. Ein Ziel war es damals, auf diese Weise niedrige Einkommen durch staatliche Leistungen abzufedern und so die Armut zu reduzieren.

Im Rahmen der beiden Regierungsbeteiligungen seit 1998 wurde dies dann insbesondere ab 2002 im Rahmen der Hartz-Reformen zusammen mit der SPD auch umgesetzt und damit jene Personengruppe geboren, die heute unter dem Namen „Aufstocker“ bekannt ist.
Jedoch gepaart mit Veränderungen bei den Zumutbarkeitsregeln, so dass ein Arbeitsloser ein Arbeitsangebot kaum noch ausschlagen konnte, und der gleichzeitigen Weigerung der SPD einen Mindestlohn einzuführen, weil die Gewerkschaften diesen damals ablehnten, entstand eine für Arbeitgeber günstige Situation. Wo es keine Tarifbindung gab oder Tarife durch Scheingewerkschaften ausgehandelt wurden, konnten sie ihre Löhne erheblich nach unten schrauben und trotzdem auf ein großes Reservoir an Arbeitskräften zurückgreifen, die dann ihren Lohn über die Arbeitsagentur aufstocken mussten.
Erst 15 Jahre später, wenn 2017 der Mindestlohn wirklich allgemeinverbindlich ist und es auch keine Ausnahmen für Tarifverträge mehr gibt, wird das Aufstocken aufgrund von Lohndumping der Vergangenheit angehören und diese milliardenteure Lücke wieder geschlossen sein.

Doch auch künftig bleiben kritische Fragen zu diesem Instrument berechtigt. Ist es zum Beispiel wirklich wünschenswert, dass zahlreiche berufstätige Alleinerziehende erst noch eine solche Aufstockung beantragen müssen, statt von Anfang an eine ausreichende finanzielle Unterstützung zu erhalten? Auch wenn die Grundsicherung und die Möglichkeit des Aufstockens unseren Sozialstaat abrunden, so kann es doch nicht verdecken, dass damit an vielen Stellen nur die immer größer klaffenden Lücken bei den Sozialleistungen ausgebügelt werden.
Auch wenn das größte Problem, der zusätzliche Anreiz zum Lohndumping, mittlerweile beseitigt wurde, muss deshalb weiterhin darauf geachtet werden, dass nicht mit dem Hinweise, im Zweifel greife eine Grundsicherung, der Sozialstaat schleichend ausgehöhlt wird und Selbstverständliches, z.B. eine anständige Förderung von Kindern und Eltern, zu einer ausnahmsweise gewährten Hilfe für Bedürftige wird.


Ähnliche Artikel:
Die Entwicklung der Lohnnebenkosten (www.mister-ede.de – 22.12.2012)

Die Begrenzung des Lohndumpings und der Aushöhlung der Tarifstruktur (www.mister-ede.de – 08.01.2013)


[1] Tagesschau vor 20 Jahren unter anderem zum Treffen der Grünen im thüringischen Ilmenau 1996 (Link zum Video auf www.tagesschau.de)

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SPD will die Kinderförderung umstellen http://www.mister-ede.de/politik/spd-will-neue-kinderfoerderung/1753 http://www.mister-ede.de/politik/spd-will-neue-kinderfoerderung/1753#comments Wed, 09 Jan 2013 07:28:02 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=1753 Weiterlesen ]]> Die SPD hat sich für die nächste Bundestagswahl auf die Fahne geschrieben, endlich die Bevorteilung finanziell bessergestellter Kinder zu beenden [1]. Wenn Eltern ein hohes Einkommen haben, bekommen diese nicht nur Kindergeld, sondern darüber hinaus durch den Kinderfreibetrag weitere finanzielle Vorteile eingeräumt.

Die Logik, die eine solche Zweiteilung ausdrückt, ist absolut unsozial. Wenn Eltern in einer günstigen Wohnung leben, dann kostet die Miete für das Kinderzimmer auch nicht so viel und dann reicht ja das geringere Kindergeld aus. Und wenn Eltern sich schon von vornherein gar keinen Urlaub leisten können, dann muss für das Kind auch kein teures Flugticket gekauft werden.
Eine Abschaffung dieses Privilegs von bessergestellten Kindern ist daher sehr zu begrüßen. Überdies muss aber insgesamt die Versorgung der Kinder verbessert werden.

Die SPD setzt hier am anderen Ende an und möchte nun umgekehrt gerade einkommensschwachen Familien mehr Geld zur Verfügung stellen. Das allerdings halte ich ebenso für einen Irrweg. Nachdem es nicht um die Versorgung der Eltern geht, sollte deren Finanzlage für die Bedarfszumessung eine untergeordnete Rolle spielen. Jedes Kind sollte die gleiche Unterstützung erhalten, denn bei aller Individualität ist der Grundbedarf für Kinder recht ähnlich. Außerdem erfordert so eine Differenzierung erneut eine Grenzziehung, sowie Übergangsregeln und einen Verwaltungsapparat der dann die Ansprüche prüft.

Aus meiner Sicht ist daher sowohl die Differenzierung bei der Förderung in der einen, wie in der anderen Richtung wenig zielführend. Meines Erachtens wäre ein einheitliches Kindergeld von rund 250 Euro ab dem 1. Kind wünschenswert. Auch hier könnte ich mir, ähnlich wie ich das für den Mindestlohn beschrieben habe, vorstellen, dass man bei 225 Euro beginnt und diesen Betrag um jährlich 10 Euro über die nächsten fünf Jahre auf 275 Euro erhöht.

Insgesamt ist der SPD-Vorstoß zur Abschaffung des Kinderfreibetrags zu begrüßen, allerdings sollte dann nicht derselbe Fehler spiegelverkehrt wiederholt werden. Wenn es um die Verbesserung der Kinderförderung gehen soll, dann darf nicht nur eine kleine Gruppe, sondern muss die Mehrheit der Kinder davon profitieren.


[1] Interview mit Manuela Schwesig (Arbeits- und Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern und Mitglied im SPD-Parteivorstand) mit spd.de vom 09.01.2013 (Link zum Interview auf www.spd.de)

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Die Ursprünge der Sozialversicherung http://www.mister-ede.de/politik/ursprunge-sozialversicherung/1660 http://www.mister-ede.de/politik/ursprunge-sozialversicherung/1660#comments Fri, 21 Dec 2012 19:20:00 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=1660 Weiterlesen ]]> Krankheit oder Alter haben schon immer das Armutsrisiko von Menschen deutlich erhöht. Dabei waren Versorgung und Sicherheit früher eng mit der Familie verknüpft. Wie gut z.B. Krankheiten abgefedert wurden, hing maßgeblich mit der Stärke der Familie zusammen. Kinderlosigkeit war ein erheblicher Faktor für Armut im Alter.

Verstärkt wurden diese Risiken durch die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts und den damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen. Hierdurch wurden die üblichen Familiengefüge um das bäuerliche oder handwerkliche Dasein aufgebrochen und auch der Zusammenhalt in der Dorfgemeinschaft wurde durch die Wanderungsbewegungen geschwächt. Dadurch wurden Krankheiten oder Unfälle zu noch größeren Gefahren und die Versorgung der älteren Menschen problematisch. In einigen Bereichen gab es zwar schon früher Absicherungen, wie bei den Knappschaften der Bergleute, aber bei weitem nicht alle Arbeiter hatten hierzu Zugang [1].

Auch neue Risiken entstanden durch die veränderten Abhängigkeiten. Waren die Menschen zuvor noch maßgeblich von Einflüssen wie dem Wetter abhängig, waren sie nun in viel stärkerem Maße von anderen Menschen abhängig. Nicht mehr die Missernte war die größte Gefahr, sondern die Arbeitslosigkeit. Diese sozialen Probleme trafen auf Demokratiebestrebungen und Freiheitsbedürfnissen der Bevölkerung.

Dem Geruch von Freiheit und Fortschritt aus den USA, England oder Frankreich, verbunden mit der Arbeiterbewegung  und einer immer größeren Zeitungswelt, begegnete Bismarck folglich mit einer Sozialversicherung, die genau hier ansetzte. Die Versorgung und Absicherung der Arbeiter sollte nicht mehr nur durch die Familie, sondern durch eine neue Solidargemeinschaft aller Arbeiter gewährleistet werden.

In der Folge wurden dann allgemeine Sozialversicherungen, wie die Kranken- oder Rentenversicherung eingeführt, die entsprechend vom Lohn der Arbeiter getragen wurden. Hieraus ergibt sich das bis heute andauernde System, dass die Kosten der Sozialversicherung über die Arbeit finanziert werden.

Im Laufe des letzten Jahrhunderts sind dann die Sozialsysteme weiter gewachsen. Eine Arbeitslosenversicherung wurde eingeführt und die Sozialleistungen wurden allgemein deutlich ausgeweitet.


[1] Zeitleiste zum 750. Geburtstag der Knappschaft (www.750jahre.info)

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