Das Verfassungsgerichtsurteil zu Hartz-IV-Sanktionen ist ein Sieg des Sozialstaats

Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein regelrechter Befreiungsschlag für einen Sozialstaat, der seit zig Jahren von einer laissez-faire-neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik konsequent ausgehöhlt wurde und zwar bis weit über die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen hinaus. Das wissen wir heute.

Und alle wussten es eigentlich auch schon immer. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren immer wieder klargestellt, dass unser Staat als demokratischer und sozialer Bundesstaat grundsätzlich verpflichtet ist, Menschen in einer existenziellen Notlage zu helfen. Lediglich die Beantwortung der Frage, wie und in welchem Maße Hilfe gewährt werden muss, haben die Verfassungsrichter entsprechend der Gewaltenteilung stets so weit wie möglich der Politik in Form des Gesetzgebers überlassen.
Insofern muss man aber kein promovierter Sozial- oder Staatsrechtler sein, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass eine vollständige Kürzung aller Hilfen bei Personen, die sich nicht selbst aus ihrer Existenznot befreien können, niemals und nimmer nicht diesen Anforderung genügen kann. Und so hat man zwischen den Zeilen bei diversen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts und seiner Vertreter in der Vergangenheit einen gewissen Hilfeschrei an die Politik vernehmen können, man solle doch bitte in Berlin endlich handeln, damit Karlsruhe sich in dieser Frage nicht zum Ersatzgesetzgeber machen muss.
Diesen Ruf haben aber insbesondere CDU und CSU ganz bewusst überhört, denn für die langjährige Regierungspartei und ihre Kanzlerin bietet die jetzige Situation nur Vorteile. Zum einen wird ein innerparteilicher Streit über die Lockerung der Sanktionen vermieden und man kann nun ganz bequem sagen, das Verfassungsgericht hat uns halt zum Handeln gezwungen. Zum anderen dürfte die Kritik an dem bisherigen, in weiten Teilen massiv verfassungswidrigen Hartz-IV-Sanktionsregime insbesondere die SPD treffen. Sie hatte Hartz-IV und die Sanktionen eingeführt und das Urteil verdeutlicht nun einmal wieder, wie sehr bei der Sozialpolitik der SPD Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen.

Nun aber hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil gesprochen und damit erstmals ein Grenze festgelegt, die als absolutes Existenzminimum angesehen werden kann. 10 Euro am Tag, ein Dach über dem Kopf, Heizung und Krankenversicherung – darunter kommt der Staat nie mehr, bei niemandem der hierzulande in Existenznot ist. Und auch an diese absolut unterste Grenze kommt der Staat künftig nur noch in jenen Ausnahmefällen, in denen es absolut triftige Gründe für die Unterschreitung des vom Gesetzgeber festgelegten Existenzminimums gibt. Wenn aber eine 30% Sanktion das Maximum dessen ist, was im verfassungsrechtlichen Rahmen noch ausnahmsweise zulässig bleibt, wird man künftig bei einem ersten abgelehnten Jobangebot nicht gleich 30% sanktionieren. Das Urteil wird deshalb erhebliche Auswirkungen auf das bisherige Sanktionsregime insgesamt haben und auch die Debatte über eine Umstellung von Sanktionen auf Anreize dürfte wieder deutlich an Fahrt aufnehmen. Statt 10% Sanktionen für diejenigen, die Termine verpassen, sind ja auch 10% Bonus für all jene denkbar, die ihre Sachen mit dem Amt ordentlich regeln.

Möglich bleibt aber natürlich weiterhin, die Leistungen in den Fällen komplett zu streichen, in denen überhaupt keine Existenznot vorliegt, welche die Menschenwürde bedroht. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn und solange direkt verwertbare Rücklagen vorhanden sind, gegebenenfalls auch im Bereich des eigentlichen Schonvermögens, oder wenn und solange es zumutbare Arbeit gibt, z.B. durch ein staatliches Arbeitsprogramm, das eine jederzeitige Arbeitsaufnahme erlaubt. Gibt es solche Möglichkeiten, um direkt und unmittelbar für seine Existenzsicherung zu sorgen, so hat man durch das Nachrangprinzip auch weiterhin keinen Anspruch auf eine Hilfsleistung der Solidargemeinschaft. Zwar wird dies in einigen Veröffentlichungen zum Urteil als Hintertür bezeichnet, aber rechtsdogmatisch wie auch inhaltlich-logisch ist das konsistent und aus meiner Sicht war jetzt auch nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht den lange entwickelten Nachranggrundsatz kippt.
Sobald in der nächsten Zeit die tatsächlichen Auswirkungen des Urteils sichtbar werden, z.B. durch die Aussetzung der Sanktionen auch für unter 25-Jährige, dürfte sich aber auch diese mancherorts noch vorhandene Skepsis gegenüber dem Urteil legen und noch viel deutlich werden, welchen Fortschritt der Richterspruch aus Karlsruhe für den Sozialstaat bedeutet.

Link zur Pressemeldung des BVerfG mit dem Urteil (www.bundeverfassungsgericht.de)


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