Bundestagswahl 2021: Wahl(kampf)analyse und Ausblick

Ich muss zugeben, bei dieser Bundestagswahl lief einiges anders, als ich das vor einem Jahr erwartet hätte. Schon die Auswahl des Unions-Kandidaten hat mich überrascht, aber auch, dass beispielsweise die Linke so wenig von einem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz profitiert oder die AfD so wenig von einem Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet.

Union:
Bis ins Frühjahr hinein bin ich fest davon ausgegangen, dass die Union mit Markus Söder als Kanzlerkandidat ins Rennen startet. Merkel regiert nun seit 2005 und bis auf Wolfgang Schäuble blieb das Personal der Union unter ihr stets ziemlich blass – eine Lücke, durch die kurzzeitig ein gewisser Karl-Theodor von und zu Guttenberg samt Gattin auf einer frisierten Dissertation rauschte. Ein Thomas de Maiziere – die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern – war da ja noch einer der bekannteren unter den Unions-Ministern. Aber wer kennt noch Michael Glos, Kristina Schröder, Jung, Wanka, Gröhe, Schmitt oder HP Friedrich? Und was die Union in dieser Legislatur abliefert – Scheuer, Altmaier, Spahn, Maskendealer, Korruptionsaffäre – ist ja objektiv unterirdisch. Insofern hätte ich erwartet, dass die Union die Gunst der Stunde mit einem bei Unionswählern bundesweit gut angesehenen Markus Söder nutzt und auf die Karte setzt: „Der nächste Kanzler heißt nicht Merkel und kommt nicht von der CDU, und natürlich wird damit einiges anders und ich, Markus Söder, verspreche ihnen, mit mir wird alles besser.“
Daher war ich über die Entscheidung der Union bzw. der CDU wirklich verwundert, es lieber mit dem Merkel-nahen Armin Laschet probieren zu wollen. Wenn die Union mit ihm jetzt 25% holt, ist für die CDU machtstrategisch ja nichts gewonnen. Aber gut, man muss natürlich auch sagen, dass niemand in der Union damit gerechnet hat, dass Laschet den Wahlkampf so komplett vergeigt. Das Wahlergebnis wird dementsprechend heute aber leistungsgerecht ausfallen und die Union vermutlich in eine ziemliche Krise stürzen.

FDP:
Überraschend finde ich ebenfalls, dass der FDP die Schwäche der Union nur mäßig nutzt. Gegen einen Markus Söder hätte die FDP mit ihren 5 – 7 % vom letzten Herbst vermutlich noch einen sehr viel schwereren Stand gehabt, aber auch vom schwachen Laschet profitieren FDP und auch die AfD offenkundig gar nicht so sehr. So stürzte die Union nach der Nominierung von Laschet von Umfragewerten von einstmals 35 – 40% krachend auf zwischenzeitlich nur noch 20% ab, während umgekehrt die FDP lediglich um 6 oder 7 Prozentpunkte anstieg. Glücklicherweise profitierte auch die AfD seit dem Herbst nur mit 2 oder 3 Prozentpunkten von der massiven Schwäche der Union. Ein kleiner Teil des bürgerlichen Lagers aus Union und FDP ist damit aber nach rechts hin zur AfD abgewandert und ein anderer größerer Teil entweder zu den Nichtwählern oder ins rote bzw. grüne Lager. Insgesamt bedeuten diese Wanderungen für das bürgerliche Lager aus Union und FDP einen dramatischen Verlust an Wählern in alle Richtungen hin. Für die FDP stellt sich damit wiederum die Frage, wie sie nun mit diesem starken Wahlergebnis umgehen soll, das zur Hälfte durch geflüchtete Unions-Anhänger zustande gekommen ist. In die Opposition will Lindner mit diesem Ergebnis sicher nicht, allerdings bei einer Ampel könnte man die neu gewonnenen Wähler auch schnell wieder verprellen und dasselbe gilt im Falle, dass man ausgerechnet nun doch Laschet zu einer Kanzlerschaft verhilft und das auch noch mit den Grünen im Schlepptau. Blieben also noch eine SPD-geführte „Deutschland-Koalition“, an der allerdings eine unterlegene Union kaum ein Interesse haben dürfte, oder eine Unions-geführte „Deutschland-Koalition“, die wiederum in der SPD auf wenig Gegenliebe stoßen dürfte.

AfD:
Nachdem die Politikverdrossen, die von der AfD einst aus dem Nichtwählertum eingesammelt wurden, allmählich von der AfD genauso genervt sind wie von allen anderen Parteien, ist deren Wählerschwund außerhalb einzelner Hochburgen nicht sonderlich überraschend und vermutlich auch von den Strategen der Ost-AfD einkalkuliert. Für den harten Kern sind hingegen auch Skandale, ekelhaftes Auftreten und interner Streit mindestens egal, vielleicht sogar gewünscht. Denn solange eine Bundestags-Präsenz gesichert ist, ist es für einen Björn Höcke wichtiger, zwei AfDler aus seinem Thüringer Dunstkreis in den Bundestag zu bekommen als fünf moderate AfDler aus irgendwelchen Westverbänden. Entscheidend ist für die Ost-AfD ja nicht, ob 8 oder 15 % der Abgeordnete im Bundestag von der AfD sind – mitregieren will man ja eh nicht – sondern dass unter den AfD-Abgeordneten ausreichend viele aus eben jenen östlichen Hochburgen sind, damit die Netzwerke der Ost-AfD ihren Einfluss in der Bundestagsfraktion geltend machen können. Insofern liegt der Fokus der rechten Strategen wohl weniger auf bundesweiter Stärke als auf konzentrierter regionaler Stärke. Das Ziel scheint, ein einzelnes Puzzleteil – z.B. einen Landkreis – aus dem föderalen Konstrukt der freiheitlich-demokratischen BRD herauszulösen und zu übernehmen. Was machen Sie denn, wenn Ihr Landrat plötzlich Björn Höcke heißt? Auch wenn sich die AfD im Gegensatz zur letzten Bundestagswahl kaum in den Prozentpunkten verändern wird, darf man daher nicht übersehen, dass sich mit dieser Wahl die parteiinternen Machtverhältnisse durch die Konzentration im Osten – die AfD startete einstmals als Partei westdeutscher Professoren – erheblich zugunsten von Höcke und Co. verschoben haben.

Grüne:
Wenn mich die Grünen gefragt hätten, hätte ich ihnen auf jeden Fall zu Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin geraten, denn es war völlig klar, dass sich die Grünen bei dieser Bundestagswahl gezielten und orchestrierten Hetzkampagnen gegenübersehen werden. Vor keiner Partei fürchten sich die rechten Netzwerke und die versammelten Autokraten dieser Welt so sehr wie vor den Grünen. Und ob ein Robert Habeck, der ja durchaus auch mal in die Rolle des Beleidigten rutscht, einem solchen Shit-Hurricane, wie ihn Baerbock über sich ergehen lassen musste, besser standgehalten hätte, mag ich noch immer bezweifeln. Baerbock hat es auf jeden Fall trotz des Dauerbeschusses aus eigener Kraft und aufrecht gehend ins Ziel geschafft. Dass es unter diesen Voraussetzungen aber schwer sein würde, die Umfragewerte von 20% – 23%, über die Nominierung eines Kanzlerkandidaten hinaus bis zum Wahlabend zu halten, war klar. Dass die Wählergunst auf 15 – 16 % abfällt, hätte ich allerdings dennoch nicht erwartet und die Grünen, insbesondere durch Laschet als Konkurrenten, eher bei 20% erwartet. Dafür hätten die Grünen dann aber vermutlich schon einen etwas pro-aktiveren und vor allem besser kommunizierenden Wahlkampf machen müssen. Griffige Forderungen unter denen sich alle etwas vorstellen können, wie beispielsweise „12 Euro Mindestlohn“ (SPD) oder die „vollständige Abschaffung des Solis“ (FDP), sind aus dem Grünen-Wahlkampf, zumindest bei mir, nicht hängen geblieben. Und wer so ein verbrauchtes Wort wie „Grundsicherung“ verwendet, um auszudrücken, dass es mehr Geld für Kinder geben soll, hat vielleicht auch wirklich ein Marketingproblem. Trotz des absolut beachtlichen Stimmenzugewinns bleibt daher – m.E. zu Recht – der Eindruck, dass die Grünen einige Prozentpunkte leichtfertig verschenkt haben.

SPD:
Es war zu erwarten, dass Olaf Scholz versuchen wird, im Wahlkampf den Merkel-Erben zu mimen – nach einer Sozialdemokratin aus der CDU, jetzt ein Bürgerlicher aus der SPD. Dass das funktionieren könnte, hatte ich mir zwar vorstellen können, allerdings nur dann, wenn Scholz rasch nach seiner Nominierung eine Aufwärtsdynamik entfaltet. Als das ausblieb, hatte ich ihn spätestens Anfang 2021 im Prinzip abgeschrieben. Wie wir wissen, kam es gänzlich anders – Totgesagte leben länger.
Meines Erachtens ist das im Wesentlichen auf die fast schon panische Flucht von Unionsanhängern vor Armin Laschet und seiner grauenhaften Performance zurückzuführen. Leute, die früher eher „Merkel“ und gar nicht unbedingt die Union gewählt haben, hätten einem gut organisierten Laschet vermutlich durchaus eine Chance gegeben, werden nach diesem Wahlkampf nun aber doch lieber das Kreuz bei „Scholz“ machen, auch wenn sie gar nicht unbedingt SPD wählen würden. Ähnlich wie die FDP hat die SPD damit aber nun das Problem, dass sie mit diesem Wahlergebnis sicherlich gerne regieren würde, dann aber entweder mit Rot-grün-rot gerade diese Wechselwähler zumindest in Teilen wieder an die Union verlieren dürfte oder sich bei einer Deutschland-Koalition von vielen zentralen Wahlversprechen verabschieden müsste. Es bliebe damit die Ampelkoalition, die allerdings, wie zuvor beschrieben, für die FDP nicht sonderlich attraktiv sein dürfte.

Linke:
Mit der Kandidatur von Olaf Scholz hätte ich erwartet, dass sich einige Wähler von der Union zur SPD bewegen und dafür einige Wähler von der SPD zur Linken. Beides blieb zunächst und Letzteres bis zum Schluss aus. Die innerparteilichen Auseinandersetzungen, vor allem mit Sahra Wagenknecht, wirken auf viele Wähler ermüdend. Dazu immer mal wieder ziemlich schräge Auftritte und Aussagen von einzelnen Parteimitgliedern. Vermutlich dürften die Grünen hierdurch einige Unzufriedene der SPD eingesammelt haben, die sich ansonsten auch ein Kreuz bei den Linken hätten vorstellen können.
Dennoch habe ich die Linke stärker erwartet, auch wenn sie natürlich das Problem hat, sich auf der einen Seite von der SPD abgrenzen und gezielt bei der SPD-Wählerschaft um Stimmen für die Linke werben zu müssen und sich auf der anderen Seite an die SPD annähern zu müssen, so dass eine Koalition zumindest in Ansätzen realistisch ist. So etwas kann Schizophrenie verursachen und tatsächlich wirkt die Linke ja auch manchmal wie eine Partei mit Persönlichkeitsspaltung. Ob es sich für die Linke am Ende auszahlen wird, dieses Mal im Wahlkampf nicht so stark auf Attacke gegenüber der rot-grünen Konkurrenz gesetzt zu haben, wird sich aber erst am Ende zeigen. Sofern es, wie bereits 2013, für Rot-grün-rot reicht, dürften es SPD und Grüne so auf jeden Fall deutlich schwerer haben, sich gegen eine solche Koalition zu entscheiden und das dann abermals mit einem angeblich „mangelnden Zubewegen“ der Linken zu begründen.

Die große Unbekannte:
Egal wie sich die Prozente auf die Parteien am Ende verteilen, bleibt die große Unbekannte für den Wahlsonntag: Wie viele Abgeordnete werden in den Bundestag einziehen? Sollte die jüngste Wahlrechtsreform erneut ihre Wirkung verfehlen und der Bundestag weiter auf über 750 oder gar 800 Abgeordnete anwachsen, könnte plötzlich eine ganz andere Debatte aufkommen, nämlich über zügige Neuwahlen. Möglicherweise von AfD und Springer entfacht und von einer Union als Wahlverlierer und einer FDP mit wenig Lust auf eine Ampel-Koalition befeuert, könnte so eine neue Dynamik entstehen. Und wenn sich Schwarz und Gelb, getragen vom Argument eines durch die Größe nicht mehr wirklich arbeitsfähigen Parlaments, einer Regierungsbildung kategorisch verschließen und es gleichzeitig für Rot-grün-rot keine Mehrheit gibt, bliebe am Ende nur noch ein erneuter Urnengang als Ausweg. Es bleibt also bis zum Schluss spannend und letztlich könnten die Würfel sogar nochmal ganz neu geworfen werden.


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