mister-ede.de » Belgien https://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Wir haben in Europa viele nationale Narrative, aber nur eine gemeinsame europäische Geschichte https://www.mister-ede.de/kultur/die-geschichte-ist-europaeisch/8812 https://www.mister-ede.de/kultur/die-geschichte-ist-europaeisch/8812#comments Mon, 13 May 2019 07:47:18 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8812 Weiterlesen ]]> Damit wir uns nicht falsch verstehen. Natürlich hat jede Gegend auf der Erdkugel ihre eigene Geschichte – Europa als Kontinent, aber auch die einzelnen Regionen, Landstriche bis hin zu Dörfern oder sogar Gebäuden. Ebenso lässt sich die Geschichte der Menschheit über Sippen und Familien bis hin zu einzelnen Personen herunter brechen. In beiden Fällen gilt allerdings gleichermaßen, je kleiner der betrachtete Ausschnitt gewählt wird, desto weniger lässt sich die jeweilige Geschichte ohne die Geschichte des Umfelds denken. Selbstverständlich ist die Relativitätstheorie untrennbar mit der Person Albert Einsteins verbunden. Und dennoch ist sie historisch betrachtet lediglich ein Glied in einer ganzen Kette wissenschaftlicher Erkenntnisse und Entdeckungen. Genauso verhält es sich mit Regionen oder Ländern. Die Entwicklung der Stadt Dresden ist nicht losgelöst von sächsischer, deutscher und europäischer Geschichte denkbar, genauso wie die Entstehung des Frankenreiches nicht ohne die vorherige Existenz des Römischen Imperiums.

Die Gemeinsamkeit der europäischen Vergangenheit lässt sich schon an der Entwicklung der europäischen Sprachen ablesen oder aus der Verbreitung von Genmustern in der Bevölkerung herleiten. Am einfachsten ist es jedoch, sich der einigermaßen gesicherten Geschichtsschreibung der letzten zwei Jahrtausende zu bedienen. Man denke nur an die Kirchengeschichte und den enormen Einfluss der katholischen bzw. orthodoxen Kirche auf die Entwicklung Europas – und zwar bis in jedes kleinste Dorf hinein. Der Kölner Dom gehört natürlich untrennbar zur Kölner Geschichte, aber er steht dort eben nicht als Zeichen für eine Kölner Provinzreligion, sondern als Monument eines europäischen Katholizismus. Ganz Europa weiß, was mit der Inquisition gemeint ist. Aber auch Wirtschaft und Handel sind schon seit zig Jahrhunderten nicht mehr regional oder national, sondern europäisch organisiert – man denke an die Anfänge des Bankwesens in Italien, die Hanse oder die Fugger. Genauso sind die Entwicklung von Wissenschaft und Bildung und konkret das Entstehen von Universitäten und Schulen gesamteuropäische Prozesse, die nicht auf eine Stadt oder Region begrenzt blieben. Und natürlich sind auch viele Kriege und Katastrophen ein Teil unserer kollektiven europäischen Geschichte.

Insgesamt sind die gesellschaftlichen Ordnungen und wesentlichen Machtstrukturen – weltliche wie kirchliche, ökonomische wie politische – schon seit langer Zeit europäisch und nicht national oder gar regional. Buchdruck, Aufklärung, Kolonialisierung, Demokratisierung, Industrialisierung oder im religiösen Bereich die Reformation und der Weg zu Religionsfreiheit und Laizismus sind dementsprechend paneuropäische Prozesse, die sich zumindest im Grundsatz in ganz Europa kaum unterscheiden und unsere heutige europäische Gesellschaft maßgeblich prägen. Natürlich ist ein Deutscher kein Franzose, genauso wie ein Bayer kein Berliner ist und ein Düsseldorfer kein Kölner. Aber von der Vergangenheit bis in die Gegenwart sind wir so tief miteinander verflochten – privat, familiär, beruflich, politisch, wirtschaftlich, kulturell – dass wir letztlich eine gemeinsame europäische Gesellschaft bilden. Der Feudalismus und die Verzahnungen des Adels haben dann noch ihr Übriges dazu beigetragen, dass die Geschichte keiner europäischen Region losgelöst von gesamteuropäischer Geschichte gedacht werden kann.

Warum ist es aber überhaupt so wichtig, zu verstehen, dass unsere Vergangenheit im Wesentlichen europäisch ist? Es ist notwendig, um von der europäischen Wirklichkeit die aufgesetzten nationalen Narrative lösen zu können. Natürlich hat Deutschland auch seine eigene Geschichte, die Bundesrepublik, die DDR, die Naziherrschaft, die Weimarer Republik, die Kaiserzeit. Aber schon davor wird es schwierig: Preußen? Hessen? Baden? Noch vor zweihundert Jahren haben die Bayern auf die Preußen geschossen und wäre Napoleon vor Moskau, dann bei Leipzig und final in Waterloo nicht untergegangen, würde ich – gebürtig im Rhein-Neckar-Raum – heute vielleicht Französisch sprechen und beim Fußball „Allez les Bleus!“ rufen. Im 18. Jahrhundert hat unser Kurfürst Karl Theodor übrigens mal versucht, das geerbte Bayern mit den Habsburgern gegen weite Teile des heutigen Belgiens einzutauschen [1]. Möglicherweise wäre Flämisch dann heute einfach ein deutscher Dialekt und in Brüssel und Antwerpen würde man stolz auf die gemeinsame deutsche Geschichte zurückblicken. Südöstlich von Deutschland läge dann vermutlich die Republik Österreich-Bayern. Und was ist eigentlich mit den Habsburgern oder Luxemburgern, sind die nicht auch deutsch? Oder umgekehrt? Ein etwas anderer Verlauf der Geschichte und wir wären heute vielleicht von der Nord- und Ostsee bis zum Balkan auf die lange Tradition der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie stolz.

Im Rhein-Neckar-Raum hatten zuerst die Römer das Sagen und im Anschluss die Franken. Ich fühle mich aber weder als Italiener noch als Franzose. Im Heiligen Römischen Reich hatten wir dann Kaiser aus ganz Mitteleuropa – nach heutiger Landkarte unter anderem aus Deutschland, Italien, Österreich, Luxemburg. Dennoch nehme ich italienische oder luxemburgische Geschichte nicht als deutsche Geschichte wahr. Danach kam dann Napoleon – ich fühle mich aber noch immer nicht als Franzose – und kurz darauf hatten vor allem die Preußen die Fäden der Macht in der Hand – als Preuße fühle ich mich allerdings noch weniger, dann doch lieber Franzose. Erst im Laufe des 19. Jahrhundert, insbesondere seit Bismarck und der Gründung des Deutschen Reiches, verändert sich dann etwas und zwar quer durch die Gesellschaft hindurch.
Durch die Etablierung einer nationalstaatlichen Ordnung, also die Vereinheitlichung des Rechtswesens, Hochdeutsch als Amtssprache, gemeinsame Währung, Armee, auch Medien, Kultur, Sport und noch vieles mehr, hat sich seit 1871 eine nationalstaatliche Realität in Deutschland herausgebildet, die sich selbstverständlich nicht nur gefühlt von der nationalstaatlichen Realität z.B. in den Niederlanden unterscheidet. Über die Zeit hinweg hat sich dadurch die Wahrnehmung und die Perspektive verändert und damit auch die Erzählung unserer Herkunft. Heute nehmen wir die Geschichte unserer Region, selbst wenn sie in die Zeit lange vor dem 19. Jahrhundert fällt, ganz selbstverständlich als einen Bestandteil deutscher Geschichte wahr. Es entsteht der Eindruck, als habe unserer Region seit vielen hunderten Jahren weit mehr mit anderen „deutschen“ Städten wie Hamburg oder Rostock gemein als beispielsweise mit dem „französischen“ Straßburg oder Luxemburg. Viel treffender wäre es allerdings, den Rhein-Neckar-Raum bzw. die Kurpfalz als eine europäische Region zu begreifen, die aktuell zur Bundesrepublik Deutschland gehört.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Sichtweisen entsteht durch die nationalen Narrative, in diesem Fall unsere Erzählung Deutschlands, einer speziellen deutschen Nation, einer uns eigenen deutschen Geschichte, die am besten bis zu den Germanen zurückreicht. Zwar gibt es Ereignisse wie die Varusschlacht oder Personen wie Karl den Großen, die selbstverständlich hingeführt haben zur Ausgestaltung eines Europas, das schon im Mittelalter sprachliche und politische Grenzen kannte oder auch einen französischen König und einen römisch-deutschen Kaiser. Es gibt aber aus dieser Situation heraus keine Kontinuität hin zu unseren aktuellen Nationalstaaten. Dass Frankreich, Belgien, Deutschland, Österreich, Italien oder Polen heute eigenständige Länder sind und so aussehen wie sie aussehen, hängt mit wesentlich späteren Entwicklungen und Ereignissen zusammen.
Das gilt nicht nur in Zentral- oder Mitteleuropa, sondern auch auf dem Balkan, in Skandinavien, Richtung Russland und letztlich in ganz Europa. Dass England, Schottland, Wales und Nordirland heute ein Vereinigtes Königreich bilden, während Irland eigenständig ist, war vor zweihundert Jahren genauso wenig absehbar wie der heutige Zustand auf der iberischen Halbinsel mit Portugal als eigenem Nationalstaat und Katalonien als Teil Spaniens. Oder wer kennt eigentlich noch Jugoslawien oder die Tschechoslowakei? Und auch die Vorstellung, die Machtsituation nach dem zweiten Weltkrieg wäre so gewesen, dass Westdeutschland den Benelux-Ländern und Frankreich zugeschlagen worden wäre und „Deutschland“ würde heute aus Ostdeutschland und den früheren Ostgebieten bestehen, macht schnell deutlich, wie absurd es in manchen Fällen sogar schon bei einem Rückblick über nur ein paar Jahrzehnte wird, die davorliegende Geschichte als Teil einer wie auch immer definierten nationalen Geschichte zu begreifen.

Wer sich auf tausend Jahre deutsche Geschichte berufen wollte, müsste sich deshalb stets genauso auf tausend Jahre französische, skandinavische, russische und auf viele weitere europäische Geschichten berufen, um das heutige Deutschland damit zu erklären. Die Alternative dazu ist, anzuerkennen, dass wir eine europäische Vergangenheit haben, die lediglich seit der Entstehung der nationalstaatlichen Ordnung in Europa mit verschiedenen nationalen Narrativen ausgeschmückt wurde.
Klar, Bismarck ist ein Deutscher und Napoleon ein Franzose, aber dass ich mich und meine kurpfälzische Heimat heute ganz selbstverständlich als Teil Deutschlands ansehe, ist eben nur ein Zufall der Geschichte, so wie mit Belgien und Bayern. Insofern mögen wir Europäer zwar weiterhin eine Vielzahl nationaler Narrative pflegen, mit denen wir unsere heutigen Nationalstaaten erklären, allerdings eine Geschichte haben wir dennoch nur eine einzige, und zwar die gemeinsame europäische.


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[1] Der Hinweis zum versuchten Tauschgeschäft findet sich unter anderem bei Wikipedia: Zum Wikipedia-Artikel über Kurfürst Karl Theodor

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CETA ist kein Weltuntergang, ein vorläufiger Stopp aber auch nicht https://www.mister-ede.de/politik/die-welt-wird-nicht-untergehen/5608 https://www.mister-ede.de/politik/die-welt-wird-nicht-untergehen/5608#comments Wed, 26 Oct 2016 09:44:09 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=5608 Weiterlesen ]]> Die Kritik am Handelsabkommen CETA zwischen der EU und Kanada ist absolut berechtigt. Schon innerhalb der EU schaffen wir es nicht, den Rahmen für den EU-Binnenmarkt so zu gestalten, dass ein tatsächlich fairer Wettbewerb entsteht. Obwohl die EU mit ihrem Europäischen Parlament oder den öffentlichen europäischen Gerichten vergleichsweise gut auf eine demokratische und rechtsstaatliche Begleitung des EU-Binnenmarktes eingestellt ist, gelingt es beispielsweise nicht, das Steuerdumping einzelner EU-Länder zu beenden. Dass nun ein CETA-Abkommen, das auf solche demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen verzichtet, plötzlich leisten kann, woran selbst die EU scheitert, ist deshalb höchst unwahrscheinlich.

So wie allerdings der EU-Binnenmarkt, trotz all seiner Schwächen, nicht der Untergang Europas ist, wäre auch CETA kein Weltuntergang. Selbst wenn also die Wallonie ihren Widerstand gegen das Abkommen aufgibt, wird sich die Welt weiterdrehen.
Die bessere Option wäre aber natürlich, wenn die Wallonie die CETA-Verhandlungen vorerst auf Eis legen und damit den Weg für ein ernsthaftes Nachdenken über die Gestaltung der Wirtschafts- und Währungsunion frei machen würde. Gelänge es auf diese Weise, eine neue Rahmensetzung für den EU-Binnenmarkt zu finden, könnte später dann auch CETA abgeschlossen werden. Insofern ist aber auch ein vorläufiger Stopp von CETA sicher nicht das Ende der Welt.

Festzuhalten bleibt daher: Sollte CETA morgen von den Staats- und Regierungschefs der EU und Kanada unterzeichnet werden, wird der Weg hin zu einer gerechteren Wirtschaft in der EU oder einem faireren Welthandel schwerer, aber nicht unmöglich. Umgekehrt macht ein Stopp von CETA einen Weg dorthin zwar nicht schwerer, aber auch kein Stück leichter. So oder so wird es deshalb notwendig bleiben, für faire Bedingungen in Wirtschaft und Handel zu streiten – in Europa, in Kanada und weltweit.


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Für diesen Widerstand geht mein aufrichtiger Dank an die Wallonie, die Bevölkerung dort und den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Paul Magnette.

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Nous sommes en 2016 après Jésus-Christ. Toute l’Europe est occupée par les lobbyistes industrielles. Toute? Non! Une region peuplé d’irréductibles Wallons résiste encore et toujours aux intérêts du capital.

Pour cette résistance j’adresse mes remerciements sincères à la Wallonie, la population et le Ministre-président social-démocrate Paul Magnette.

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The year is 2016 A.C. Europe is entirely occupied by business lobbyists. Well, not entirely… One small region of indomitable Walloons still holds out against the capital interests.

For this resistance my sincere thanks go to Wallonia, the population there and the social democratic Minister-President Paul Magnette.


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So schreibt beispielsweis Karin Bensch in einem Kommentar für tagesschau.de, „es ist schon sehr kurios, dass eine belgische Mini-Region ein europäisches Handelsabkommen blockieren kann“ [1].
Kurios ist allerdings viel eher, dass eine Journalistin der Tagesschau nicht mitbekommen haben will, dass das Bundesverfassungsgericht in der letzten Woche CETA noch mal ganz klar als gemischtes Abkommen mit weitreichenden Eingriffen in die nationale Gesetzgebung und eben gerade nicht als reines Handelsabkommen eingestuft hat. Wenn die Tagesschau also so tut, als wäre CETA nur ein klitzekleines Handelsabkommen, dann schafft man sich dort einfach eine ganz eigene Realität.

Hinzu kommt die klar abwertende Bezeichnung „belgische Mini-Region“ für die Wallonie. Tatsächlich leben dort prozentual mehr Belgier als Bundesbürger in NRW leben. Käme Frau Bensch wohl auf die Idee, NRW als deutsche Mini-Region zu bezeichnen?
Außerdem leben dort weit mehr EU-Bürger als in Malta, Luxemburg, Zypern und Estland zusammen. Diesen Ländern würde man doch wohl auch nicht das Recht absprechen, sich im Rahmen des vorhandenen politischen Systems am demokratischen Prozess in der EU zu beteiligen. Warum jetzt aber die 3,6 Millionen Wallonen aus der angeblichen „Mini-Region“ weniger demokratische Rechte haben sollen als 3,1 Millionen Malteser, Luxemburger, Zyprioten und Esten, beantwortet Frau Bensch nicht. Wahrscheinlich wäre es auch verdammt schwer, das zu erklären.

Ein weiteres Beispiel für die Schaffung einer eigenen Wirklichkeit durch die Journalisten der Tagesschau ist die Behauptung, „der wallonische Ministerpräsident Paul Magnette muss sich vorwerfen lassen, erst im letzten Moment die Brechstange angesetzt zu haben“ [2]. Auch dies ist nämlich schlicht falsch, denn bis vor 3 Monaten waren weder das belgische Parlament noch der Bundestag und eben auch nicht die Wallonie für CETA zuständig.
Die Brechstange wurde also von der EU angesetzt, die über 7 Jahre lang versucht hat, den CETA-Vertrag, trotz seiner weitreichenden Folgen für die nationale Gesetzgebung, an diesen demokratischen Institutionen vorbei zu schleusen. Und warum hätte sich in dieser Zeit das wallonische Parlament oder der Ministerpräsident Paul Magnette für Veränderungen bei CETA einsetzen sollen? Damals hätte man ihn ausgelacht und mit den Worten „CETA geht dich nichts an“ wieder heimgeschickt.

Ob den Journalisten der Tagesschau diese Fakten wirklich alle unbekannt sind oder ob vielleicht, wie schon bei der Maidan-Berichterstattung, später, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, eingestanden wird, ein völlig verzerrtes Bild präsentiert zu haben, weiß ich nicht.
Klar ist aber, dass man die Wallonie nicht als „Mini-Region“ abwerten oder das gemischte Abkommen CETA als einfaches Handelsabkommen verniedlichen muss. Und der Versuch, jetzt die Wallonen oder die Belgier dafür verantwortlich zu machen, dass 7 Jahre lang über ihre Köpfe hinweg diskutiert und entschieden wurde, muss sicher auch nicht sein. Dass es bei der Tagesschau trotzdem gemacht wird, zeigt daher, dass dort mal wieder von Nachrichtenmodus auf Stimmungsmache umgeschaltet wurde.


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[1] Kommentar von Karin Bensch vom 21.10.2016 auf tagesschau.de (Link zum Kommentar auf www.tageschau.de)

[2] ebenda

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