Die Europäische Föderation: Plädoyer für unterschiedliche Integrationsstufen in Europa

Die Europäische Föderation ist keine phantastische Utopie der fernen Zukunft, sie ist die logische Konsequenz der nahen Vergangenheit. Als Anfang der 2000er-Jahre die Einführung des Euro wie auch die Aufnahme zahlreicher neuer Staaten in die Europäische Union beschlossene Sache waren, sollte die EU eine neue, in eine europäische Verfassung gegossene Struktur erhalten. Doch das Vorhaben scheiterte Mitte des letzten Jahrzehnts.
Hätte man zu diesem Zeitpunkt innegehalten und die Lage analysiert, wäre vermutlich schon damals erkannt worden, was heute offensichtlich ist: Das Misstrauen in vielen Mitgliedsstaaten hinsichtlich Kompetenzübertragungen an die gemeinsamen EU-Institutionen und der Dissens innerhalb der EU darüber, was die Europäische Union überhaupt sein soll. Ein Misstrauen und ein Dissens, die beide quer durch die Gesellschaften der EU gehen, von Regierungen, über Parteien bis in die Breite der Bevölkerungen der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten. Anstatt aber diesen Moment zu nutzen und die schon damals vorhandenen Ideen einer Europäischen Union der unterschiedlichen Geschwindigkeiten, die den verschiedenen Sichtweisen, Anforderungen und Interessenslagen der Mitgliedsstaaten gerecht wird, aufzugreifen, beschritt man einen anderen Weg. So wurde ein Kompromiss unter allen EU-Ländern ausgearbeitet und die EU mit dem Vertrag von Lissabon 2007 in ein neues Korsett gezwängt, das jedoch für den einen Teil der Europäischen Union zu mehr Integration als dort gewünscht und für den anderen Teil zu weniger Integration als dort nötig führte. Die Folgen dieser Fehlentwicklung sind heute eine Eurozone, die nicht tief genug integriert ist, um Krisen vorbeugen oder managen zu können, ein Schengen-Raum, dessen Grenzschutz nationales Stückwerk ist, ein Dublin-System, das unter der mangelnden Kooperation der EU-Länder zusammengebrochen ist, und eine Ablehnung der EU, die zahllose EU-Gegner in die Parlamente spült und in Großbritannien gestern für ein mehrheitliches Votum gegen den Verbleib in der EU sorgte.

Genau deshalb kehrt die Europäische Föderation heute, am Tag nach dem britischen Referendum, zu jener Frage zurück, die eigentlich schon vor zehn Jahren nach dem Scheitern der EU-Verfassung hätte beantwortet werden müssen: Wie machen wir aus der EU einen Raum, in dem jeder seinen Platz findet? Jene, die in der EU ein Bündnis sehen, um zusammen mit anderen EU-Mitgliedsstaaten gleichgelagerte Interessen verfolgen zu können. Und jene, die daneben auch den Ausgleich gegensätzlicher Interessen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten als wesentliches gemeinsames Interesse identifizieren.

Dementsprechend ist die Europäische Föderation nicht als isoliertes Projekt einzelner EU-Mitgliedsstaaten konzipiert, sondern vielmehr als ein Prozess zum Umbau der gesamten EU. Den Rahmen bilden dabei eine Verfassung der Europäischen Föderation, ein Kooperationsvertrag zwischen Europäischer Föderation und Europäischer Union und eine entsprechende Anpassung der EU-Verträge.
Durch die enge Verflechtung von Europäischer Föderation und Europäischer Union wird als wesentlichstes Element der Neustrukturierung zunächst eine tatsächliche Wahlmöglichkeit für die EU-Mitgliedsstaaten geschaffen. Während die Briten gestern nur darüber abstimmen konnten, ob sie in der EU verbleiben oder nicht, ermöglicht die Europäische Föderation den EU-Mitgliedsstaaten, sich die für sie passende Integrationsstufe auszusuchen. Anders als bei der damals gescheiterten EU-Verfassung, der alle EU-Mitgliedsstaaten hätten zustimmen müssen, lässt die Europäische Föderation deshalb bewusst offen, welche und wie viele EU-Länder sich am Ende für die gemeinsame Verfassung entscheiden. Gleichzeitig ermöglicht die Europäische Föderation mit ihrer Struktur jenen Ländern, die sich gegen die gemeinsame Verfassung entscheiden, weiterhin uneingeschränkt Mitglied der EU zu sein und z.B. den vollen Marktzugang in der EU und damit auch für die Europäische Föderation zu behalten.
Während somit die Errungenschaften der EU für alle EU-Länder zugänglich bleiben und auch eine tiefere Integration der EU bei gleichgelagerten Interessen weiterhin möglich ist, können diejenigen EU-Länder, die die Verfassung der Europäischen Föderation annehmen, ihrerseits eine tiefere Integration mit dem Ziel des dauerhaften Interessensausgleichs vorantreiben. So kann z.B. in der EU das Asylsystem mit seinen Dublin-Regeln fortbestehen, während gleichzeitig die Mitglieder der Europäischen Föderation für sich einen Lastenausgleich oder ein echtes gemeinsames Asylsystem auf Ebene der Föderation aufbauen können.

Mit dieser grundsätzlichen Auswahlmöglichkeit zwischen zwei Integrationsstufen eröffnet die Europäische Föderation in der EU genau jenen Gestaltungsspielraum, der bislang fehlte.
Die EU kann sich damit künftig auf ihre Kernelemente konzentrieren, wie die EU-Grundrechtecharta, den offenen Austausch von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital, den Schengen-Raum, die Sicherheitszusammenarbeit z.B. bei der Terrorbekämpfung, das Verteidigungsbündnis oder den Bildungsaustausch. Das erlaubt das Subsidiaritätsprinzip sehr weit auszulegen und die EU-Verwaltung entsprechend zu verkleinern.
Umgekehrt kann dafür die Europäische Föderation künftig auf eine vollwertige durch den Souverän verabschiedete Verfassung aufbauen, die es ihr ermöglicht, demokratisch legitimiert und parlamentarisch kontrolliert genau jene gemeinsamen Einrichtungen und Regeln zu schaffen, die zur Vollendung der Währungs- und Wirtschaftsunion notwendig sind. Die Europäische Föderation löst damit auch das mit der zunehmenden Kompetenzübertragung an die EU entstandene Problem einer immer weitergehenden Integration, die ohne echte Verfassung und ohne die passenden rechtsstaatlichen und demokratischen Strukturen stattfindet.

Mit der Trennung zwischen mehr und weniger tief integrierten Ländern sorgt die Europäische Föderation überdies für klare Verhältnisse. Diejenigen EU-Länder, die nicht in der Europäischen Föderation vereinigt sind, haben Gewissheit darüber, dass ihr Status als souveränes Land in der EU anerkannt wird und keine Pflicht zu einem Aufgehen in der Europäischen Föderation besteht. Sie bleiben auf jeden Fall gleichberechtigte Partner und können weiterhin problemlos die Vorzüge der EU nutzen. Aber auch die Mitglieder der Europäischen Föderation haben mit der gemeinsamen Verfassung endlich klare und verbindliche Regeln für die Gestaltung des Integrationsprozesses.

Die Europäische Föderation gibt der EU also insgesamt die Chance zu atmen und sich zu verändern. Sie bewahrt für alle EU-Mitglieder die bisherigen Errungenschaften und ermöglicht ihnen, nach ihren jeweiligen Wünschen und Erfordernissen zusammenzuarbeiten.
Die Europäische Föderation ist damit die Antwort auf die Frage nach einem gemeinsamen Europa, in dem jeder seinen Platz finden kann.


Mehr zur Europäischen Föderation:
Die Europäische Föderation

Die Europäische Föderation: Grundgerüst einer Verfassung

Die Europäische Föderation: Skizze eines Kooperationsvertrages mit der EU


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Diskussion:

2 Gedanken zu “Die Europäische Föderation: Plädoyer für unterschiedliche Integrationsstufen in Europa

  1. Ich finde das hier beschriebene Konzept sehr interessant. Generell ist mein Eindruck, dass die auf der Webseite verfügbaren Beiträge auf ein gründlich durchdachtes Projekt hinweisen. Vermutlich wäre der jetzige Zeitpunkt – in der Katerstimmung nach dem Brexit-Votum – ideal, um alternative Konzepte, wie die hier vorgestellte Europäische Föderation, zu diskutieren. Die Herausforderung wird sein, die Aufmerksamkeit einer kritischen Masse darauf zu lenken.

    • Danke für Ihren Beitrag. Der Vorschlag mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist ja insgesamt nicht neu. Meine Hoffnung ist, dass es leichter wird, einen solchen Weg zu debattieren, wenn es zumindest eine Grundlage gibt, auf der man eine Diskussion aufbauen kann.

      Die kritische Masse zu erreichen, ist natürlich schwer. Aber ich will es zumindest nicht unversucht lassen. Über eine Mitwirkung dabei würde ich mich freuen.

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