mister-ede.de » Bundesverfassungsgericht https://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Das Verfassungsgerichtsurteil zu Hartz-IV-Sanktionen ist ein Sieg des Sozialstaats https://www.mister-ede.de/politik/urteil-hartz-iv-sanktionen/8920 https://www.mister-ede.de/politik/urteil-hartz-iv-sanktionen/8920#comments Sat, 09 Nov 2019 17:52:26 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8920 Weiterlesen ]]> Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein regelrechter Befreiungsschlag für einen Sozialstaat, der seit zig Jahren von einer laissez-faire-neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik konsequent ausgehöhlt wurde und zwar bis weit über die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen hinaus. Das wissen wir heute.

Und alle wussten es eigentlich auch schon immer. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren immer wieder klargestellt, dass unser Staat als demokratischer und sozialer Bundesstaat grundsätzlich verpflichtet ist, Menschen in einer existenziellen Notlage zu helfen. Lediglich die Beantwortung der Frage, wie und in welchem Maße Hilfe gewährt werden muss, haben die Verfassungsrichter entsprechend der Gewaltenteilung stets so weit wie möglich der Politik in Form des Gesetzgebers überlassen.
Insofern muss man aber kein promovierter Sozial- oder Staatsrechtler sein, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass eine vollständige Kürzung aller Hilfen bei Personen, die sich nicht selbst aus ihrer Existenznot befreien können, niemals und nimmer nicht diesen Anforderung genügen kann. Und so hat man zwischen den Zeilen bei diversen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts und seiner Vertreter in der Vergangenheit einen gewissen Hilfeschrei an die Politik vernehmen können, man solle doch bitte in Berlin endlich handeln, damit Karlsruhe sich in dieser Frage nicht zum Ersatzgesetzgeber machen muss.
Diesen Ruf haben aber insbesondere CDU und CSU ganz bewusst überhört, denn für die langjährige Regierungspartei und ihre Kanzlerin bietet die jetzige Situation nur Vorteile. Zum einen wird ein innerparteilicher Streit über die Lockerung der Sanktionen vermieden und man kann nun ganz bequem sagen, das Verfassungsgericht hat uns halt zum Handeln gezwungen. Zum anderen dürfte die Kritik an dem bisherigen, in weiten Teilen massiv verfassungswidrigen Hartz-IV-Sanktionsregime insbesondere die SPD treffen. Sie hatte Hartz-IV und die Sanktionen eingeführt und das Urteil verdeutlicht nun einmal wieder, wie sehr bei der Sozialpolitik der SPD Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen.

Nun aber hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil gesprochen und damit erstmals ein Grenze festgelegt, die als absolutes Existenzminimum angesehen werden kann. 10 Euro am Tag, ein Dach über dem Kopf, Heizung und Krankenversicherung – darunter kommt der Staat nie mehr, bei niemandem der hierzulande in Existenznot ist. Und auch an diese absolut unterste Grenze kommt der Staat künftig nur noch in jenen Ausnahmefällen, in denen es absolut triftige Gründe für die Unterschreitung des vom Gesetzgeber festgelegten Existenzminimums gibt. Wenn aber eine 30% Sanktion das Maximum dessen ist, was im verfassungsrechtlichen Rahmen noch ausnahmsweise zulässig bleibt, wird man künftig bei einem ersten abgelehnten Jobangebot nicht gleich 30% sanktionieren. Das Urteil wird deshalb erhebliche Auswirkungen auf das bisherige Sanktionsregime insgesamt haben und auch die Debatte über eine Umstellung von Sanktionen auf Anreize dürfte wieder deutlich an Fahrt aufnehmen. Statt 10% Sanktionen für diejenigen, die Termine verpassen, sind ja auch 10% Bonus für all jene denkbar, die ihre Sachen mit dem Amt ordentlich regeln.

Möglich bleibt aber natürlich weiterhin, die Leistungen in den Fällen komplett zu streichen, in denen überhaupt keine Existenznot vorliegt, welche die Menschenwürde bedroht. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn und solange direkt verwertbare Rücklagen vorhanden sind, gegebenenfalls auch im Bereich des eigentlichen Schonvermögens, oder wenn und solange es zumutbare Arbeit gibt, z.B. durch ein staatliches Arbeitsprogramm, das eine jederzeitige Arbeitsaufnahme erlaubt. Gibt es solche Möglichkeiten, um direkt und unmittelbar für seine Existenzsicherung zu sorgen, so hat man durch das Nachrangprinzip auch weiterhin keinen Anspruch auf eine Hilfsleistung der Solidargemeinschaft. Zwar wird dies in einigen Veröffentlichungen zum Urteil als Hintertür bezeichnet, aber rechtsdogmatisch wie auch inhaltlich-logisch ist das konsistent und aus meiner Sicht war jetzt auch nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht den lange entwickelten Nachranggrundsatz kippt.
Sobald in der nächsten Zeit die tatsächlichen Auswirkungen des Urteils sichtbar werden, z.B. durch die Aussetzung der Sanktionen auch für unter 25-Jährige, dürfte sich aber auch diese mancherorts noch vorhandene Skepsis gegenüber dem Urteil legen und noch viel deutlich werden, welchen Fortschritt der Richterspruch aus Karlsruhe für den Sozialstaat bedeutet.

Link zur Pressemeldung des BVerfG mit dem Urteil (www.bundeverfassungsgericht.de)


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Urteil im Bremer Fußballstreit um Polizeikosten: Warum das Bundesverfassungsgericht prüfen sollte https://www.mister-ede.de/gesellschaft/bremen-polizeikosten-fussball/8823 https://www.mister-ede.de/gesellschaft/bremen-polizeikosten-fussball/8823#comments Sat, 18 May 2019 12:18:32 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8823 Weiterlesen ]]> Ende März sprach das Bundesverwaltungsgericht im Bremer Fußballstreit ein Grundsatzurteil: Der Staat darf bei sogenannten Hochrisikospielen die Kosten für zusätzliche Polizeikräfte den Fußballvereinen in Rechnung stellen. Doch was im ersten Moment absolut klar und logisch klingt, schafft bei genauerem Hinsehen doch eher Unklarheit und Durcheinander.

Gesetz hat Logik-Schwächen:

Nun muss ein Gesetz nicht logisch sein, um mit unserer Verfassung in Einklang zu stehen. Aber man muss schon einmal klar ziehen, dass hier ein Bundesland, also die Allgemeinheit, für die Polizeikosten bei einem Hochrisikospiel entschädigt werden soll, während die konkret betroffenen Anwohner rund um das Stadion genau solche Unannehmlichkeiten von gesperrten Straßen über laute Fangesänge bis hin zu Randalen ganz selbstverständlich ohne Entschädigung hinnehmen müssen. Im Gegensatz zu Bund, Ländern und Kommunen profitieren diese Anwohner nicht einmal anteilig von den dadurch fließenden Steuereinnahmen.
Und auch ein Blick auf die Kostenentstehung macht deutlich, wie kurios diese Regelung ist. Stellt der Staat eine gute Verkehrsinfrastruktur bereit, z.B. ein Stadion mit direktem Bahn- und Autobahnanschluss, wird dies zu geringeren Kosten für polizeiliche Maßnahmen führen. Wenn hingegen, so wie in Bremen, die Auswärtsfans erst quer durch die Stadt vom Hauptbahnhof bis zum Weserstadion und wieder zurück geleitet werden müssen, ist der Polizeiaufwand natürlich deutlich größer. Insofern stellt sich schon die Frage, wieso nun gerade und ausschließlich die Polizeikosten auf Werder Bremen abgewälzt werden sollen. Dieses Herauspicken eines Einzelpostens führt letztlich zu dem widersinnigen Ergebnis, dass Fußballvereine mehr zahlen müssen, wenn der Staat eine schlechte Infrastruktur bereitstellt.

Der Staat ist für den öffentlichen Raum zuständig:

Eigentlich gilt in Deutschland der Grundsatz, dass der Staat für den öffentlichen Raum zuständig ist. Er ist beispielsweise für Bau und Erhalt von öffentlichen Wegen, Parks und anderer Infrastruktur verantwortlich, muss für Sicherheit und Sauberkeit sorgen oder auch auf die Einhaltung von Umweltgrenzwerten achten. Insofern ist es schon ärgerlich, wenn öffentliche Toiletten gebührenpflichtig sind oder Anwohner in unangemessener Höhe an den Sanierungskosten von Straßen beteiligt werden. Gleichwohl lässt sich dies – zumindest solange es in einem vertretbaren Rahmen bleibt – immerhin noch mit einem ganz konkreten und ausschließlichen Nutzen für einen einzelnen Bürger begründen. Und genauso lassen sich Gebühren natürlich mit einer ganz konkreten und unmittelbaren Verantwortung eines Einzelnen begründen, wie z.B. bei der polizeilichen Begleitung von Schwertransporten. Alleine die Entscheidung des Spediteurs, einen Schwertransport loszuschicken, macht den Einsatz der Polizei erforderlich.
Im Fußball-Fall ist allerdings weder das eine noch das andere gegeben. Die Ordnung im öffentlichen Raum dient nicht alleine dem Fußballverein Werder Bremen, sondern gleichermaßen allen, die den öffentlichen Raum in diesem Moment nutzen. Das gilt für andere Geschäftstreibende genauso wie für die Bürgerinnen und Bürger, egal ob sie nun in einen Park, ein Geschäft, ein Eiscafé oder eben auch ins Stadion gehen.
Und genauso wenig kann man die Verantwortung alleine bei den Fußballvereinen abladen. Was für ein Menschenbild ist das überhaupt? Ist wirklich Werder Bremen dafür verantwortlich, dass Zuschauer ins Stadion gehen, oder ist das nicht vielmehr die freie und eigenverantwortliche Entscheidung von 40.000 Menschen? Auf jeden Fall kann man das Verhalten der Zuschauer auf dem Weg zum Stadion, von Heim- wie von Gästefans, nicht einfach dem Fußballverein Werder Bremen zurechnen. Insofern ist der Unterschied zur Toiletten-Nutzung und zum Schwertransport, dass der Polizeieinsatz im öffentlich Raum eben kein ausschließlicher Nutzen für und keine unmittelbare Verantwortung von Werder Bremen ist.

Grenzziehung unmöglich:

Fängt man mit einer willkürlichen Grenzziehung an, wie viel öffentliche Daseinsvorsorge im „Grundtarif“ enthalten ist und welche öffentlichen Leistungen nur „Premium-Kunden“ gegen gesonderte Bezahlung erhalten, öffnet man die Büchse der Pandora. Warum soll künftig nicht auch die Verkehrslenkung bei großen Handelsmessen, Formel-1-Rennen oder Rock-Festivals – alles kommerziell – eine Premium-Leistung sein, für die die Veranstalter extra zahlen müssen? Oder wieso sind 250 Beamte für ein kommerzielles sportliches Großereignis, z.B. ein ganz normales Bundesligaspiel von Werder Bremen, noch völlig in Ordnung, 750 Beamte bei einem Derby hingegen nicht mehr? Und weshalb ist eigentlich nur die Polizei gesondert zu entlohnen und nicht auch die notwendige Straßenreinigung?
Mit gutem Grund hat der Staat deshalb bislang die Finger von solchen Gebührenerhebungen gelassen. Die Club-Besitzer auf St. Pauli oder die Wirte auf dem Oktoberfest müssen also nicht gesondert dafür zahlen, dass ihre angetrunkenen Partygäste ständig mit der Polizei in Konflikt geraten. Gleichwohl zahlen Club-Besitzer, Festwirte und Werder Bremen natürlich schon etwas, nämlich ihre Steuern, und zwar entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit für Umsatz und Gewinn. Und das ist ja fair und zielführend. Denn was wäre unsere Gesellschaft, wenn der öffentliche Raum nur noch jenen vorbehalten bliebe, die ihn sich leisten könnten? Gerade mit Blick auf den Fußball drängt sich diese Frage auf. Regionalligavereine wie Rot-Weiss Essen, Waldhof Mannheim, Kickers Offenbach oder Chemnitzer FC könnten sich niemals hunderttausende Euro für ein „Risikospiel“ leisten. Sollen solche Spiele künftig dann ohne Zuschauer stattfinden? Und auch in der Zweiten Liga ist nicht jeder Verein finanziell auf Rosen gebettet. 2017 musste beispielsweise der Zweitligist TSV 1860 München Insolvenz anmelden. Sollen Derbys und attraktive Fußballspiele also bald nur noch kapitalstarken Vereinen bzw. Investoren wie Red Bull oder VW vorbehalten bleiben? Das kann niemand wollen. Der öffentliche Raum sollte deshalb weiterhin als Teil der Daseinsvorsorge jedem, reich wie arm, gleichermaßen zur Verfügung stehen.

Öffentliches Leben braucht öffentlichen Raum:

Als Gesellschaft sollten wir doch froh darüber sein, dass wir so ein buntes öffentliches Leben mit vielen Veranstaltungen haben, die unzählige Menschen anziehen, und eben auch Fußballvereine, die tausende Zuschauer im Stadion begeistern. Letztlich ist ein angesagtes Bundesligaspiel nichts weiter als ein x-beliebiges anderes Ereignis, das eine große Masse an Menschen anzieht, wie der Berlin-Marathon oder die Frankfurter Buchmesse.
Und logischerweise kann ein solches öffentliches Leben gerade nicht ausschließlich im privaten Kämmerlein stattfinden. Es braucht dafür immer auch irgendwo den öffentlichen Raum, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger frei und sicher aufhalten und bewegen können, mindestens für An- und Abreise. Insofern müssen wir als Gesellschaft schon damit leben, dass bei Ereignissen und Veranstaltungen, die eine größere Menschenmenge anziehen, auch selbstverständlich etwas mehr Polizei notwendig ist, um genau diese Ordnung zu gewährleisten.

Vor das Verfassungsgericht?

Sollte das Gesetz in ähnlicher Form auch in anderen Bundesländern eingeführt werden, kann es für DFB, DFL und die Vereine schnell um eine mittleren bis hohen zweistelligen Millionenbetrag gehen. Es wäre daher nicht allzu verwunderlich, wenn nach dem Urteil nun das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe angerufen würde. Nachdem die Frage, wofür der Staat in Bezug auf den öffentlichen Raum originär zuständig ist, ganz zentral mit Hinblick auf unser Gemeinwesen und Zusammenleben ist, wäre es aber auch grundsätzlich wünschenswert, wenn dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichts noch einmal von Karlsruhe geprüft würde.


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Bundestagswahlrecht: Vom Verfassungsgericht bis zum Riesen-Parlament https://www.mister-ede.de/politik/bundestagswahlrecht-bverfg/8714 https://www.mister-ede.de/politik/bundestagswahlrecht-bverfg/8714#comments Fri, 10 Aug 2018 19:48:23 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8714 Weiterlesen ]]> Es ist schon eine peinliche Situation: Alle Parteien wissen, dass die Wahlrechtsreform von 2013, durch die es zu einer massiven Aufblähung des Bundestages kommen kann, ein echter Griff ins Klo war. Und trotzdem ist eine Lösung des Problems bis heute nicht in Sicht. Aber dafür gibt es Gründe:

Noch immer beharren viele Parlamentarier auf einer zum Teil mutwilligen Fehlinterpretation des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte am 25.7.2012 zwar geurteilt, dass das bis dahin geltende Bundestagswahlrecht verfassungswidrig sei [1]. Doch liest man sich das Urteil des Zweiten Senats durch, wird einem schnell klar, dass den Verfassungsrichtern die vorhandenen Zielkonflikte (Wahlrechts-Trilemma) sehr bewusst waren. Sie sehen und benennen diese und lassen dem Gesetzgeber deshalb auch einen angemessenen Spielraum, um bei der Gestaltung des Wahlrechts zwischen den verschiedenen Zielen abwägen zu können.
Die Richter geben den Klägern zwar insoweit Recht, als die Gleichheit der Wahl ein hohes Gut ist und deshalb eine korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses notwendig sei. Allerdings schränken sie diesen Grundsatz mit Hinblick auf die Zielkonflikte auch ein: Zum einen darf es, wenn es sich nicht vermeiden lässt, bis zu einem gewissen Maße Abweichungen von der korrekten Abbildung des Zweitstimmenergebnisses geben. Wenn damit andere wichtige Ziele verfolgt werden und die Maßnahmen wirksam sind, können solche Einschränkungen also zulässig sein. Zum anderen muss das Wahlgesetz die Einhaltung dieses Grundsatzes auch nur für solche Wahlergebnisse sicherstellen, die objektiv auch eine gewisse Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Wenn es also bei einem Ausnahme-Wahlergebnis zu einer nicht ganz korrekten Abbildung des Zweitstimmenergebnisses käme, kann das durchaus vertretbar sein.

Damit haben die Verfassungsrichter ein sehr bedachtes Urteil gefällt. Und letztlich wäre es auch verwunderlich gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite eine 5%-Hürde tolerieren würde, durch die 2013 deutlich über 10% der Zweitstimmen gar keinen Einfluss auf die Sitzverteilung im Bundestag hatten, aber dann auf der anderen Seite für die restlichen 90% eine haargenaue Abbildung des Zweitstimmenergebnisses ohne irgendwelche Ausnahmen einfordern würde.
Gleichwohl, auf politischer Ebene hat sich bei zahlreichen Parlamentariern eine andere Lesart des Urteils etabliert. Die korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses hat für diese Abgeordneten nun höchste Priorität und folgerichtig sind andere Bestandteile des Wahlrechts, z.B. die garantierten Sitze für die Direktkandidaten, oder eben auch das Ziel einer Größenbeschränkung des Bundestages nachrangig. Und tatsächlich hat sich diese Haltung bei der Neugestaltung des Wahlrechts am Ende auch durchgesetzt. Das kurz vor der Bundestagswahl 2013 verabschiedete Wahlgesetz ist jetzt so gestaltet, dass das Zweitstimmenergebnis stets korrekt abgebildet wird, allerdings zum Preis, dass aktuell eben 709 statt 598 Abgeordnete im Parlament sitzen – und bei kommenden Wahlen könnten es auch noch deutlich mehr werden.

Entsprechend gibt es seit der Bundestagswahl 2013 Bestrebungen, das Wahlgesetz einer neuerlichen Reform zu unterziehen. So forderte beispielsweise der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert die Fraktionen bereits in der ersten Sitzung des letzten Bundestages auf, eine Lösung zu erarbeiten [2]. Doch seitdem ist es trotz zahlreicher Anläufe noch immer nicht gelungen, die Parlamentarier zu einem vernünftigen Kompromiss zu bringen. Und daran wird sich vermutlich auch nichts ändern, solange größere Teile des Parlaments weiter auf ihrer Fehlinterpretation des Verfassungsgerichtsurteils beharren und die korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses unter keinen Umständen aufgeben wollen. Es bleibt daher abzuwarten, ob der erneute Versuch, dieses Mal von Wolfgang Schäuble initiiert [3], endlich zu einem brauchbaren Ergebnis führt.


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Die Wirkung des neuen Wahlrechts: Bundestag wächst (www.mister-ede.de – 22.10.2013)

Wie ein neues Bundestagswahlrecht aussehen könnte (www.mister-ede.de – 21.04.2016)


[1] Urteil des Zweiten Senats des BVerfG zum Bundestagswahlrecht vom 25.7.2012 (Link zum Urteil auf www.bundesverfassungsgericht.de)

[2] Bericht des Bundestages zur konstituierenden Sitzung 2013 (Link zum Bericht auf www.bundestag.de)

[3] Artikel des Tagesspiegel vom 25.07.2018 zur geforderten Wahlrechtsreform (Link zum Artikel auf www.tagesspiegel.de)

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https://www.mister-ede.de/politik/bundestagswahlrecht-bverfg/8714/feed 3
Die Gleichwertigkeit der Stimmen und das Verfassungsgerichtsurteil zur 3%-Hürde https://www.mister-ede.de/politik/bverfg-urteil-zur-sperrklausel/2386 https://www.mister-ede.de/politik/bverfg-urteil-zur-sperrklausel/2386#comments Fri, 28 Feb 2014 18:09:50 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=2386 Weiterlesen ]]> Am Mittwoch urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die 3%-Hürde für Parteien bei der Europawahl unzulässig ist und entfallen muss. Als Begründung führte das Gericht an, dass die Sperrklausel „gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien“ [1] verstößt.
Dies ist juristisch sicherlich richtig, denn für die Beurteilung des Wahlverfahrens der deutschen Abgeordneten ist das deutsche Grundgesetz maßgeblich und deshalb muss eben auch die Gleichwertigkeit der Stimmen in besonderem Maße beachtet werden. Es stellt sich für das Gericht somit lediglich die Frage, ob es für eine solche Sperrklausel einen Rechtfertigungsgrund gibt und genau dies verneint das BVerfG zurzeit.
Kritisiert wird am BVerfG, dass es damit möglicherweise zu weit auf das Spielfeld der Politik vorgedrungen ist. Denn ob und wie weit eine Gefahr einer Zersplitterung droht, ist eine Frage der Einschätzung, und bei solchen Fragen darf das Bundesverfassungsgericht eigentlich nur dem Spielraum des Gesetzgebers verfassungsrechtliche Grenzen setzen.
Ich teile aber auch hier die Auffassung des Gerichts, denn nachdem es keine Anzeichen dafür gibt, dass bei einem Wegfall der 3%-Hürde die Funktionsfähigkeit des Parlaments in irgendeiner Form beeinträchtigt wird, entfällt meines Erachtens auch der Spielraum des Gesetzgebers, eine mögliche Gefährdung zu prognostizieren.

Doch obwohl ich das Urteil für juristisch völlig korrekt halte, ist es aus meiner Sicht ein glatter Witz – ein Schildbürgerstreich. So stellt das Urteil höchstrichterlich fest, dass bei einer Wahl, bei der von vorneherein keine Gleichwertigkeit der Stimmen gegeben ist, eine 3%-Hürde an genau diesem Gleichwertigkeitsgebot scheitert. Betrachtet man das Europäische Parlament, dann ist die Zusammensetzung des Parlaments nicht proportional zu der Einwohnerzahl. Während Luxemburg mit rund einer halben Million Einwohner sechs Abgeordnete nach Brüssel oder Straßburg schicken darf, entfallen auf die BRD mit der 150-fachen Anzahl an Einwohnern gerade mal 96 Sitze [2], also nur 16-mal so viele.
Nun kann man sich fragen, ob es, auf die Einwohnerzahl bezogen, leichter ist 90.000 Luxemburger oder 800.000 Deutsche zu überzeugen, aber von einer Gleichwertigkeit der Stimmen kann man hier nicht sprechen.
Würde man das Bundestagswahlrecht auf diese Weise ausgestalten, also z.B. proportional dem Saarland mehr Sitze im Bundestag zuteilen, würde man gegen das Grundgesetz verstoßen. Doch weil für das Europäische Parlament europäische Gesetze gelten, muss die Gleichwertigkeit der Stimmen eben nicht bei der Wahl des gesamten Parlaments sondern nur bei der Wahl des deutschen Kontingents beachtet werden. Dies führt zu diesem zwar juristisch korrekten aber dennoch recht sinnfreien Urteil.

Aber neben dieser Realsatire wirft das Urteil auch noch für einen anderen Bereich eine Frage auf. Sind heutzutage denn noch Sperrklauseln bei Bundestags- und Landtagswahlen zulässig und in welcher Höhe sind diese vertretbar? Welche Auswirkungen die 5%-Hürde auf die Zusammensetzung des Parlaments haben kann, hat die jüngste Bundestagswahl mit zwei Parteien, die kurz vor dieser Hürde scheiterten, gezeigt. Mehrere Millionen Stimmen sind nicht im Bundestag vertreten und auch die Miniopposition ist eine direkte Folge der hohen Hürde. Auf der anderen Seite kann eine niedrigere Hürde auch den Anreiz erhöhen, mit kleineren Nischenparteien den politischen Erfolg zu suchen, was möglicherweise dann tatsächlich auf Dauer zu Problemen bei der Regierungsbildung führt.
Aus meiner Sicht sind jetzt die Abgeordneten auf Bundes- und Landesebenen gefordert, die jeweiligen Sperrklauseln zumindest auf den Prüfstand zu stellen.


[1] Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2014 (Link zur Entscheidung auf www.bundesverfassungsgericht.de)

[2] Zusammensetzung des europäischen Parlaments laut Wikipedia (Link zum Artikel über das europäische Parlament auf de.wikipedia.org)

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Hans-Jürgen Papier als überparteilicher Kandidat geeignet? https://www.mister-ede.de/politik/kandidat-hans-jurgen-papier/430 https://www.mister-ede.de/politik/kandidat-hans-jurgen-papier/430#comments Fri, 17 Feb 2012 16:23:57 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=430 Weiterlesen ]]> Schon einmal hat Hans-Jürgen Papier eine wichtige, überparteiliche Rolle in der Bundesrepublik wahrgenommen. Er war mehrere Jahre Präsident des Bundesverfassungsgerichts und kennt als solcher den politischen Druck der auf Entscheidungen lastet. Es wäre zumindest ein Name über den man bei den Parteien sprechen sollte. Das setzt natürlich voraus, dass Papier überhaupt bereit wäre, nochmal ein solches Amt auszufüllen.

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Geeint geteilt: Merkels Interpretation der Gewaltenteilung https://www.mister-ede.de/politik/merkels-gewaltenteilung/347 https://www.mister-ede.de/politik/merkels-gewaltenteilung/347#comments Sat, 11 Feb 2012 12:43:17 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=347 Weiterlesen ]]> Die Gewaltenteilung soll dazu dienen, dass sich die unterschiedlichen Organe des Staates gegenseitig kontrollieren. Frau Merkel hat aber anscheinend eine eigene Interpretation gefunden. Es ist schon etwas länger her als Nikolaus Brender, Intendant des ZDF, keine Vertragsverlängerung erhielt. Für den Wechsel an der Spitze des Zweiten soll vor allem die CDU verantwortlich gewesen sein. Im Jahr 2010 wechselte dann der Regierungssprecher der schwarz-gelben Koalition, Ulrich Wilhelm, als Intendant zum Bayerischen Rundfunk. Im Gegenzug durfte Steffen Seibert von den Heute-Nachrichten des ZDF ins Kanzleramt wechseln.
Nachdem bei Brender und Wilhelm die Positionierung gelungen war, sollte das Ganze wohl beim MDR wiederholt werden. Zum Intendanten sollte Bernd Hilder gewählt werden. Hilder arbeitete als Chefredakteur für verschiedene Zeitungen die im Madsack-Verlag erschienen sind. Das ist im Übrigen derselbe Verlag, der das Kochbuch veröffentlichte, wegen dem Olaf Glaeseker, Ex-Sprecher von Wulff, in die Kritik geraten war.
Als Krönung der Personalbesetzungen wurde im letzten Jahr Peter Müller (CDU) zum Verfassungsrichter ernannt. Er soll nun über die Rechtmäßigkeit von Gesetzen wachen, welche zurzeit von Parteikollegen verabschiedet werden.

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