mister-ede.de » Testquote http://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Corona-Epidemie in Deutschland: Aktuelle Lage (6.5.) in Zahlen und Grafiken http://www.mister-ede.de/politik/corona-lage-deutschland/9060 http://www.mister-ede.de/politik/corona-lage-deutschland/9060#comments Wed, 06 May 2020 17:51:08 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9060 Weiterlesen ]]> Der RKI-Tagesbericht vom 5. Mai weist für das DIVI-Register an diesem Tag unter 2.000 durch COVID-19-Erkrankungen belegte Intensivbetten aus. Das ist ein deutlicher Rückgang zu Anfang April mit ca. 3.000 belegten Betten. Als freie Kapazität sind zum jetzigen Zeitpunkt über 12.000 solcher Intensivbetten gemeldet. Eine Überlastung der Intensivkapazitäten in den nächsten Wochen ist damit aktuell nicht zu erwarten. Noch deutlich stärker als die Zahl der intensivmedizinisch betreuten Personen ist die Zahl der täglichen Neuinfektionen gesunken. Im 7-Tages-Schnitt kommt Deutschland auf täglich rund 1.000 Neuinfektionen, bislang mit klar sinkender Tendenz.

Diese Tendenz kann sich natürlich durch die neuen lockereren Rahmenbedingungen in nächster Zeit ändern. Aber selbst wenn die Reproduktionszahl auf 1,3 steigt, was einem täglichen Anstieg der Neuinfektionen von rund 5% entspricht, würde Deutschland erst nach 5, 6 Wochen wieder dort stehen, wo es in den bisherigen Spitzenzeiten der Corona-Epidemie Anfang April war. Und auch vor einem Monat stand das Gesundheitssystem ja nicht strukturell vor einem Kollaps, sondern es gab lediglich einen Mangel an Ausrüstung, der inzwischen weitestgehen behoben zu sein scheint. Die Lage hat sich damit ganz klar entspannt.

Weiterhin gibt es allerdings erhebliche Unterschiede zwischen den Bundesländern, wobei eine allmähliche Angleichung stattfindet. Insbesondere die stärker betroffenen Bundesländer konnten während des Shutdowns das Infektionsgeschehen breitflächig eindämmen. Umgekehrt verzeichnet aktuell Mecklenburg-Vorpommern, das bislang kaum Fälle hatte, einen leichten Anstieg. Dieser müsste jedoch gute ein bis zwei Monate anhalten, damit das Bundesland an den aktuell auch schon niedrigen, aber noch immer fünfmal höheren Bundesschnitt bei den Neuinfektionen herankommt.

Gerade in den schwächer betroffenen Flächenländern ist das Infektionsgeschehen weiterhin vor allem durch lokale Ausbrüche geprägt. So kommt es immer wieder in einzelnen Einrichtungen, z.B. in Pflegeheimen oder Krankenhäusern, oder auch in einzelnen Regionen zu einem deutlich vom Durchschnitt abweichenden Infektionsgeschehen. Exemplarisch wird hier die teils sehr unterschiedliche Entwicklung in den verschiedenen Kreisen des Dreiländerecks NRW, Hessen, Rheinland-Pfalz dargestellt. Solche Unterschiede sind allerdings keine Seltenheit, sondern Kennzeichen des aktuell niedrigeren Infektionsgeschehens.

Während beim anfänglich erheblichen Seuchenausbruch solche lokalen Ereignisse in der Masse der Fälle untergegangen sind, machen diese inzwischen einen größeren Anteil des Infektionsgeschehens aus. Damit bleibt das Bild über das tatsächliche Infektionsgeschehen bundesweit diffus, auch wenn das Licht am Ende des Tunnels allmählich erkennbar wird. Was im einen Landkreis gilt, kann im Nachbarlandkreis schon wieder ganz anders aussehen. Weiterhin muss daher ein adäquates regionales Monitoring aufgebaut werden mit regelmäßigen Stichproben und einem Frühwarnsystem für den Fall, dass sich irgendwo Hotspots des Infektionsgeschehens entwickeln. Weitere Lockerungen unter Auflagen sind daher vertretbar, sollten allerdings besonders jene Bereiche umfassen, aus denen nur ein geringes zusätzliches Risiko resultiert, z.B. Lockerungen für Kleingruppen und Familien. All das, was viele Menschen anzieht, also Theater, Profifußball, Außer-Haus-Gastronomie, sollte hingegen erst nach einer sorgfältigen Überprüfung der Auswirkungen der jetzigen Öffnungen im Einzelhandel und bei Schulen in Betracht gezogen werden.


Text als PDF: Corona-Epidemie in Deutschland: Aktuelle Lage (6.5.) in Zahlen und Grafiken


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Coronavirus: Abschätzung der Testquote mittels Modellierung der tatsächlichen Infektionskurve http://www.mister-ede.de/natur/coronavirus-infektionskurve/9052 http://www.mister-ede.de/natur/coronavirus-infektionskurve/9052#comments Wed, 06 May 2020 13:12:00 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9052 Weiterlesen ]]> Der nachfolgende Beitrag erläutert einen Ansatz zur Abschätzung der Testquote. Diese sagt aus, wie hoch der Anteil der Corona-Infizierten ist, die positiv auf eine Infektion mit dem Coronavirus getestet werden. Während allerdings die Zahl der täglichen positiven Befunde bekannt ist – sie wird vom Robert-Koch-Institut (RKI) regelmäßig veröffentlicht – liegt der Nenner, die Gesamtzahl der Infizierten, im Dunkeln. Um diese Dunkelziffer abzuschätzen, wird nachfolgend eine Kurve der tatsächlichen täglichen Neuinfektion aus den Daten des Robert-Koch-Instituts heraus mit Stand 6.5.2020 modelliert.

Dem Modellierungsansatz liegt dabei die Annahme zugrunde, dass im Verlauf der Epidemie bei einem konstanten Anteil der Infizierten eine Erkrankung diagnostiziert wird. Eine solche konstante Diagnoserate dürfte jedoch nicht der Realität entsprechen, weil sich zum einen das Verhalten der Menschen im Verlauf der Epidemie vermutlich geändert hat, der Arzt wird also häufiger oder vielleicht umgekehrt auch seltener aufgesucht, und zum anderen weil inzwischen durch angeordnete Reihenuntersuchungen zusätzliche Erkrankte gefunden werden, die wegen schwacher Symptome von sich aus nie zu einem Arzt gegangen wären. Dies wird hier aber vernachlässigt.

Zur Abschätzung der Testquote werden pro Tag zwei RKI-Daten verwendet, zum einen die Infektionsmeldungen nach Meldedatum und zum anderen die Erkrankungsmeldungen nach Erkrankungsdatum. Das Meldedatum spiegelt dabei das Datum wieder, an dem ein meldepflichtiger Verdachtsfall vorliegt, bei dem später eine Coronavirus-Infektion bestätigt wurde. Das Erkrankungsdatum spiegelt hingegen jenen Zeitpunkt wieder, an dem aufgrund von Symptomen eine Erkrankung an COVID-19 festgestellt werden konnte. Somit liegen beispielsweise für den 9. April die Zahl der an diesem Tag neuen und später positiv auf das SARS-CoV-2 getesteten Verdachtsfälle vor (4.923) sowie die Zahl derjenigen, die an diesem Tag erste Symptome einer COVID-19-Erkrankung verspürt haben (1.683).

Modellierung der Kurve der tatsächlichen täglichen Neuinfektionen:

Um die Daten des RKI für die Abschätzung der Testquote von Tages- und Wochenendeffekten zu bereinigen, wird jeweils der 7-Tages-Schnitt der Infektionsmeldungen (grüne Kurve) und der 7-Tages-Schnitt der Erkrankungsmeldungen (gelbe Kurve) verwendet. Weil es bei den jüngeren Daten noch eine gewisse Unsicherheit gibt, die auf verzögerter Übermittlung bzw. erst später festgestellten Erkrankungen beruhen, werden die Meldedaten hier nur bis zum 1.5.2020 und die diagnostizierten Erkrankungen nur bis zum 16.4.2020 ausgewiesen. Unter den zuvor getroffenen Annahmen kann dann zunächst eine Kurve der tatsächlichen täglichen Neuinfektionen modelliert werden, indem die Parameter Inkubationszeit und Anteil der Erkrankungen unterschiedlich gesetzt werden.

Bei einer Diagnoserate von 5% und einer Inkubationszeit von 4 Tagen ist die modellierte Kurve der tatsächlichen Neuinfektion 20-mal höher und verläuft 4 Tage vor der Kurve der Erkrankungsmeldungen. Bei einer Diagnoserate von 20% und 6-tägiger Inkubationszeit ist die Kurve der tatsächlichen Neuinfektion hingegen nur 5-mal höher und verläuft dafür 6 Tage früher.

Deutlich wird, dass die Inkubationszeit keine sonderliche Rolle für die Abschätzung der tatsächlichen Neuinfektionen spielt, sehr wohl jedoch die Frage, wie viele der SARS-CoV-2-Infizierten eine positive COVID-19-Diagnose gestellt bekommen. Es wäre daher sinnvoll, durch eine repräsentative Studie einen näherungsweisen Wert für die aktuelle Diagnoserate in Deutschland insgesamt und den verschiedenen Regionen zu ermitteln. Denn der Vorteil einer Modellierung der tatsächlichen Infektionen anhand der Erkrankungsfälle besteht darin, dass diese zu Beginn einer Epidemie eher korrekt erfasst werden als die Gruppe der symptomlosen Infizierten. Außerdem ist die Zahl der Erkrankungsfälle nicht so stark von der Anzahl der Tests pro Einwohner in einem bestimmten Zeitraum oder einer bestimmten Region abhängig, wie das bei den Infektionsmeldungen der Fall ist.

Abschätzung der Testquote:

Vergleicht man die modellierte Kurve der tatsächlichen Neuinfektionen mit der Entwicklung der bestätigten Corona-Meldungen, kann in etwa abgeschätzt werden, wie viele der Corona-Infizierten über die durchgeführten Corona-Tests gefunden werden. Am Anfang der Epidemie waren das verständlicherweise nur wenige bis sich ab Ende März, Anfang April die beiden Kurven annähern. Um besser abzuschätzen, ob die Testquote zu diesem Zeitpunkt nur 15% – 20% oder doch schon deutlich mehr betragen hat, bräuchte es allerdings einen engeren Korridor für die Diagnoserate als die sehr groben 5% bis 20%. Schlussfolgern kann man aber schon aus dieser Modellierung, dass wir in Deutschland zumindest nicht mehr gänzlich im Dunkeln stochern.

Abschätzung der Testquote auf Basis prognostizierter Erkrankungsmeldungen:

Mit einer in Studien ermittelten Diagnoserate lässt sich die Genauigkeit der Kurve erhöhen. Die Aktualität lässt sich hingegen nur mit Hilfe von Prognosen verbessern. Das RKI verwendet hierzu ein eigenes Nowcast-Modell, um die aktuelle Zahl der Erkrankungsmeldungen zu prognostizieren. Diese Zahlen könnten als Basis für eine Modellierung verwendet werden. Für die nachfolgende Modellierung wird allerdings auf einen eigenen Prognose-Ansatz zurückgegriffen, um getroffene Annahmen und Schätzfehler (z.B. bei zusätzlichen Feiertagen) besser überblicken zu können. Während die gelbe Kurve die aktuellen Rohdaten des RKI zur Zahl der Erkrankungen im 7-Tages-Schnitt darstellt, ist die rote Kurve die rudimentär prognostizierte Gesamtzahl der Personen, deren Erkrankungsbeginn für diesen Tag irgendwann diagnostiziert worden sein wird.

Für die anschließende Modellierung der Gesamtzahl der Infizierten werden eine Diagnoserate von 12,5% und eine mittlere Inkubationszeit von 4 Tagen angenommen. Die blaue Kurve der tatsächlichen Infizierten verläuft damit 4 Tage früher und 8-mal höher als die rote Kurve der prognostizierten Erkrankungsmeldungen. Die auf Basis dieser Annahmen und Prognosen modellierte Kurve der täglichen Neuinfektionen würde dann wie folgt aussehen:

Die jeweilige Testquote zu einem bestimmten Zeitpunkt errechnet sich dann als Bruch aus den täglichen Infektionsmeldungen des RKI durch die modellierte Gesamtzahl der tatsächlichen täglichen Neuinfektionen:

Während der Kurvenverlauf bis Mitte April einigermaßen der Realität entsprechen dürfte – danach nehmen die Unsicherheiten durch die Prognose der Erkrankungszahlen erheblich zu – ist die tatsächliche Höhe der Testquote ungewiss. So führen schon kleine Änderungen der angenommen Diagnoserate zu erheblich höheren oder niedrigeren Testquoten. Mit geeigneten Annahmen dürfte dies allerdings ein durchaus probater Ansatz sein, um einen Überblick zu erhalten, wie gut es gelingt, neue Infektionsfälle aufzuspüren.


Text als PDF: Coronavirus: Abschätzung der Testquote mittels Modellierung der tatsächlichen Infektionskurve


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Die richtige Strategie im Kampf gegen das Coronavirus: Belagerung oder Angriff? http://www.mister-ede.de/politik/corona-belagerung-oder-angriff/9033 http://www.mister-ede.de/politik/corona-belagerung-oder-angriff/9033#comments Thu, 30 Apr 2020 06:38:49 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9033 Weiterlesen ]]> Aktuell gibt es in Deutschland eine große Debatte über die richtige Strategie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Einig ist man sich lediglich darin, dass die Reproduktionszahl R nicht dauerhaft über einem Wert von 1 liegen darf. Denn das hätte zur Folge, dass die Neuinfektionen Tag für Tag ansteigen, was früher oder später zu einem nicht mehr beherrschbaren Infektionsgeschehen und einer Überlastung der Intensivstationen führen würde. Abseits dieser rudimentären Festlegung herrscht jedoch große Uneinigkeit und auch viel Ratlosigkeit bezüglich des Umgangs mit dem Coronavirus. Zwei größere Strömungen lassen sich in dieser Debatte allerdings ausmachen. Es gibt das erste Lager, das versuchen möchte, so viele Einschränkungen wie möglich zu reduzieren, ohne dass dabei R dauerhaft über 1 steigt. Und demgegenüber steht ein zweites Lager, welches die Reproduktionszahl so niedrig wie möglich halten möchte, damit sich das Infektionsgeschehen schneller reduziert.

Beide Ansätze sind von ihrer Intention absolut nachvollziehbar. Natürlich ist es zielführend, zunächst das Infektionsgeschehen möglichst klein zu bekommen. Allerdings ist es eben genauso wichtig, einen Kreislaufkollaps für Gesellschaft und Volkswirtschaft zu verhindern. Der Vorteil der gemächlicheren ersten Strategie ist deshalb, dass Deutschland bei einem R um die 1 ohne unnötig große wirtschaftliche und gesundheitliche Schäden bis in den Juni kommt. Im Sommer kann dann unterstützt von höheren Temperaturen mit den bis dorthin vorhandenen Schnell- und Reihentest, den aufgebauten Kapazitäten in den Gesundheitsbehörden oder auch einer neuentwickelten Corona-App das Infektionsgeschehen effektiv und effizient reduziert werden.
Der große Vorteil der aggressiveren zweiten Strategie wäre hingegen – so deren Befürworter – dass es durch ein sofortiges Senken der Reproduktionszahl schon bis zum Juni im Prinzip gar keine Infizierten mehr gibt. Und die wenigen Fälle, die dann noch auftreten oder die vom Ausland neu eingetragen werden, könnten dann wie bei der ersten Strategie durch breitflächige Tests, eine App und die Nachverfolgung von Infizierten durch Gesundheitsämter eingedämmt werden.

Unterstellt man zunächst, dass es möglich sei, die Reproduktionszahl signifikant zu senken, könnte die Dauer der Einschränkungen durch dieses schnellere Vorgehen deutlich verkürzt werden. Entsprechend viele Befürworter hat diese Strategie in der Wissenschaft (z.B. Helmholtz-Zentrum)[1], bei Journalisten (z.B. Mai Thi Nguyen-Kim)[2], in der Politik (z.B. Marina Weisband)[3] und in den sozialen Medien unter Hashtags wie #TurnTheTide, #StopTheVirus oder #BendTheCurve. In Modellrechnung wird dazu dargestellt, dass wir bei einer niedrigen Reproduktionszahl in wenigen Wochen die Chance hätten, die Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Deutschland weitestgehend hinter uns zu lassen. Und das ist natürlich eine verlockende Vorstellung, zumal bei der abwartenden Belagerungs-Strategie klar ist, dass wir bis weit in den Sommer mit einer Vielzahl von Verboten und Beschränkungen leben müssten. Doch es ist Vorsicht geboten, denn das einzige, worauf sich diese Angriffs-Strategie stützt, ist die Annahme, dass sich die Reproduktionszahl tatsächlich über ein paar Wochen auf ein sehr niedriges Niveau drücken lässt. Nur dann wäre es möglich, die Fallzahlen in wenigen Wochen erheblich abzusenken. Schon ein R von 0,75 führt bei einer Reproduktionsdauer von 5 Tagen dazu, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erst nach 2,5 Monaten auf 2% des heutigen Stands verringert, also auf täglich grob 40 entdeckte Fälle in Deutschland. Und bei R = 0,85 ist dies sogar erst nach 4 Monaten der Fall. Der Zeitvorteil, den ein solches Vorgehen verspricht, würde bei einer höheren Reproduktionszahl also schnell verloren gehen, während die zusätzlichen Einschränkungen für Menschen und Unternehmen dennoch bestehen würden.

Für eine solche Angriffs-Strategie ist daher ein R von 0,5 oder niedriger über einen Zeitraum von 4 Wochen nötig, um auf rund 2% der aktuellen täglichen Fallzahlen zu kommen. Leider findet sich bei den Befürwortern dieses Ansatzes aber an keiner Stelle ein Hinweis, ob es in der jetzigen Situation in Deutschland überhaupt noch möglich ist, über einen solchen Zeitraum eine so niedrige Reproduktionsrate zu erreichen, und wenn ja, mit welchen Maßnahmen das gelingen soll. Wenn dafür beispielsweise Krankenhäuser und Arztpraxen geschlossen werden müssten, weil es dort trotz aller Sicherheitsvorkehrungen vermehrt zu Infektionen kommt, dann ist es vielleicht theoretisch möglich, auf ein R von 0,5 zu kommen, aber faktisch eben nicht, weil man das Gesundheitswesen schlicht nicht für vier Wochen stilllegen kann. Und das gilt genauso für die Versorgungsinfrastruktur, also die Lebensmittelgeschäfte wie auch Kraftwerke, Kläranlagen oder die Müllabfuhr. Das gilt für Polizei und Feuerwehr, für Gefängnisse und Pflegeeinrichtungen. Und das gilt für die Land- und Viehwirtschaft, die auch nicht eben mal 4 Wochen pausieren kann. Es gibt daher ganz viele Bereiche, bei denen eine weitere Senkung der Reproduktionszahl durch mehr Verbote und Schließungen ausgeschlossen ist. Hinzukommen auch noch einige weitere Gründe, die zumindest zweifeln lassen, dass beim jetzigen Infektionsgeschehen eine Reproduktionszahl von 0,5 über einen Zeitraum von vier Wochen schaffbar ist. Vielleicht wäre das Anfang März noch gegangen und irgendwann wird es auch sicher wieder gehen, beispielsweise wenn die richtigen Werkzeuge vorhanden sind oder ein Impfstoff zur Verfügung steht. Das ist aber in den nächsten vier Wochen nicht der Fall.

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Insofern müssten die Befürworter der Angriffs-Strategie jetzt erst einmal plausibel darlegen, wie aktuell ein R von 0,5 erreicht werden soll. Erst wenn da etwas Konkretes vorliegt, kann bewertet werden, ob das für eine Dauer von 4 Wochen ein gangbarer Weg ist oder ob dann an anderer Stelle unverantwortlich hohe Schäden auftreten. Aber jetzt einfach nur auf Verdacht planlos loszurennen und zu versuchen, auf eine niedrige Reproduktionszahl zu kommen, erscheint nicht ratsam.
Zielführend ist in der jetzigen Situation daher zunächst, das Coronavirus so zu belagern, dass eine Vermehrung verhindert wird und im Idealfall die Zahl der Infizierten allmählich etwas abnimmt. Sobald es dann ein schlüssiges Konzept gibt, kann jederzeit aus dieser Belagerung heraus in den Angriff übergegangen werden. Es ist eine seit Jahrtausenden im Militär, im Wirtschafts- und Berufsleben wie auch privat erfolgreich praktizierte Taktik, auf eine günstige Gelegenheit, den richtigen Moment zu warten. Und der wird aus meiner Sicht erst dann kommen, wenn wir geeignete Werkzeuge (Tests, App, vorbereitete Gesundheitsbehörden) und Methoden (Teststrategien, Regionalisierungskonzept) haben, um das Coronavirus effektiv und effizient einzudämmen. Ich lasse mich allerdings auch sehr gerne von einem Konzept überzeugen, das schlüssig aufzeigt, wie man schon jetzt ohne all diese Instrumente ein Ende des Infektionsgeschehens herbeiführen kann. Es wäre daher an der Zeit, dass die Befürworter der Angriffs-Strategie konkrete Maßnahmen aufzeigen, wie ein R = 0,5 über 4 Wochen erreicht werden kann.


Text als PDF: Die richtige Strategie im Kampf gegen das Coronavirus: Belagerung oder Angriff?


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[1] Paper des Helmholtz-Zentrums aus dem April 2020: Link zum Paper auf www.helmholtz.de

[2] Ausgabe von maiLab vom 1.4.2020: Link zum Video auf YouTube

[3] YouTube-Video von Marina Weisband vom 24.4.2020: Link zum Video auf YouTube

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Wieso sich die Reproduktionszahl nicht beliebig weit senken lässt http://www.mister-ede.de/politik/die-reproduktionszahl-senken/9029 http://www.mister-ede.de/politik/die-reproduktionszahl-senken/9029#comments Wed, 29 Apr 2020 14:25:32 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9029 Weiterlesen ]]> Die Corona-Pandemie hat Deutschland voll im Griff und da ist es natürlich verständlich, dass die allermeisten Menschen auf ein möglichst schnelles Ende dieser Ausnahmesituation hoffen. Und nicht weniger als das verspricht ein Szenario, welches vor Kurzem von Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums präsentiert wurde. Ihr Plan ist, die Reproduktionszahl für einige Wochen auf 0,5 oder niedriger zu senken, sodass nur noch wenige Fälle am Tag auftreten, welche dann durch die Gesundheitsbehörden nachverfolgt werden können. Ausgespart wurde bei der Darstellung dieses Szenarios allerdings die Frage, ob es überhaupt möglich ist, die Reproduktionszahl in einem so weit fortgeschrittenen Stadium der Ausbreitung auf einen so niedrigen Wert zu drücken und wenn ja, mit welchen Maßnahmen und unter welchen Bedingungen das gelingen kann.

Beispiele Taiwan und Südkorea

Häufig werden die beiden Vorzeigeländer Taiwan und Südkorea als Beispiele dafür angeführt, dass die Reproduktionszahl auf ein Niveau von 0,5 oder niedriger gedrückt und die Epidemie auf diese Weise unter Kontrolle gebracht werden kann. Und tatsächlich gibt es keinen ernsthaften Zweifel daran, dass diesen beiden Ländern das bislang gelungen ist. Sehr wohl kann man allerdings anzweifeln, dass die Situationen dort und in Deutschland wirklich miteinander vergleichbar sind.
Taiwan ist eine Insel, also ohne Massen an Grenzpendlern und mit Einreisemöglichkeiten nur an wenigen See- und Flughäfen. Und Südkorea ist zwar nur eine Halbinsel, allerdings hält sich der Grenzverkehr mit Nordkorea bekanntermaßen ebenfalls in überschaubarem Rahmen und ansonsten gilt für Südkorea dasselbe wie für Taiwan. Es gibt damit schon ganz unterschiedliche geografische Voraussetzungen wie in Deutschland. Noch wichtiger ist jedoch, dass beide Länder umgehend mit Gegenmaßnahmen begonnen haben, also noch zu einem Zeitpunkt, als es keine große Dunkelziffer in den Ländern gab. Wer neu einreiste, musste automatisch in Quarantäne. Und die wenigen Infektionsketten, die es schon bis ins Land geschafft hatten, konnten mit einigem Aufwand unterbrochen werden.
Hinzukommt aber noch ein dritter Punkt, nämlich dass die Fallzahlen insgesamt noch niedrig genug waren, um effektiv im Einzelfall vorzugehen. So konnte bei neuentdeckten Infizierten jeweils das komplette Umfeld, also die bisherigen Kontaktpersonen und womöglich auch deren Kontaktpersonen, die Arbeitskollegen oder die Leute im Supermarkt getestet oder vorsorglich in Quarantäne genommen werden. Das sind dann schnell 50, 100 oder 200 Leute bei einem einzigen entdeckten Infizierten. Jetzt kann sich jeder ausrechnen, was das für Deutschland bedeuten würde. Wenn aktuell 10.000 Infizierte pro Woche entdeckt werden, müssten gleich ein paar Hundertausend wenn nicht gar ein paar Millionen Menschen aufgespürt, isoliert und getestet werden – aktuell völlig illusorisch.

Die Dunkelziffer

Während es also in Taiwan und Südkorea gelungen zu sein scheint, das Infektionsgeschehen im eigenen Land klein zu halten und damit ein Anwachsen der Dunkelziffer zu verhindern, gibt es in Deutschland inzwischen zahlreiche unbekannte Infizierte. Damit ist aber nicht mehr nur eine kleine Gruppe von Einreisenden aus dem Ausland potentiell infiziert, sondern jeder Einwohner könnte ein Virusträger und Virusverbreiter sein. Und wie hoch diese Dunkelziffer in Deutschland ist, weiß aktuell niemand. Klar ist jedoch, dass man ganz anders suchen müsste, um diese Infektionsquellen zu finden. Wie das mit den jetzigen Kapazitäten und Methoden gehen soll, ist mir allerdings schleierhaft. Zurzeit können wir ja in vielen Fällen nur feststellen, dass es in einer Stadt, einem Pflegeheim oder einer Schule vermehrt Infizierte gibt, aber nicht wirklich erklären, wo diese Fälle jeweils herkommen. Solange das aber nicht klar ist, können wir das Infektionsgeschehen nicht reduzieren, sondern immer nur hinterherlaufen und die Verwüstungen des Coronavirus aufräumen.
Und was für das Infektionsgeschehen im Inland gilt, gilt genauso für Eintragungen aus dem Ausland. Auch hier wäre es notwendig, das Infektionsgeschehen so umfassend unterbrechen zu können, dass sich die Zahl der Infektionsquellen durch solche Eintragungen, z.B. durch LKW-Fahrer oder Berufspendler, nicht weiter erhöht.

Corona-App und Massentests

Immer wieder wird in der Diskussion über die Absenkung der Reproduktionszahl darauf hingewiesen, dass durch eine entsprechende Corona-App das Tracking (Verfolgen) von Infizierten und das anschließende Tracing (Aufspüren, Nachverfolgen) von Kontaktpersonen ermöglicht würden. Das ist allerdings nur insoweit richtig, als man zunächst natürlich erst einmal einen Infizierten finden muss, bevor man anhand der Trackingdaten eine Nachverfolgung starten kann. Und die Preisfrage bleibt: Wie will man ohne massenhaft Tests einen Infizierten finden, der selbst nicht mal den leisesten Verdacht hat, dass er infiziert sein könnte?
Was es neben einer App bräuchte, die von weiten Teilen der Bevölkerung auch wirklich genutzt werden müsste, wären daher ausreichend Tests, um überhaupt erst einmal Ansatzpunkte für das Tracking und das Tracing zu finden. Da es aktuell aber weder das eine noch das andere gibt, habe ich auch aus diesem Grund ernsthafte Zweifel, dass im Moment ein R von 0,5 erreichbar ist.

Inselgeschehen

Ein Fünf-Personen-Haushalt, in dem am Anfang des Monats ein aktiver Virusverbreiter lebt, kann am Ende des Monats noch immer einen aktiven Virusverbreiter unter sich haben, selbst wenn es in dieser Zeit keinerlei Kontakte nach außen gab. Man kann sich damit leicht ausrechnen, wie lange das Coronavirus in einzelnen Einrichtungen, wie in Senioren-, Pflege- oder Kinderheimen, in Bundeswehrkasernen oder Gefängnissen oder auch in Obdachlosenunterkünften zirkulieren kann, bis das Infektionsgeschehen zum erliegen kommt. Außerdem ist gerade in solchen Bereichen bei vielen Kontakten das Abstandhalten unmöglich, insbesondere natürlich bei der Pflege.
Das heißt, in solchen Einrichtungen kann es über mehrere Wochen oder gar Monate ein deutlich erhöhtes Infektionsgeschehen geben. Allerdings reicht ja schon ein R = 1 in mehreren dieser Einrichtungen aus, um selbst bei einem niedrigen Infektionsgeschehen im Rest des Landes die Reproduktionszahl insgesamt oben zu halten. Und Pflegeheime oder Ähnliches sind ja nicht gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Das Pflegepersonal oder die Schließer gehen nach der Arbeit weiterhin ganz normal nach Hause zu ihren Familien und die Obdachlosen verbringen üblicherweise ihren Tag irgendwo auf der Straße. Auch aufgrund solcher Sondersituationen ist es aus meiner Sicht aber fraglich, ob mit den jetzigen Werkzeugen und Methoden ein R von 0,5 erreichbar ist.

Fazit

Offenkundig ist es möglich, die Reproduktionszahl unter 1 zu drücken und damit eine großflächige Ausbreitung des Virus zu verhindern. Das konnte man in Deutschland und in vielen anderen Ländern sehen. Daraus folgt aber eben nicht, dass sich die Reproduktionszahl beliebig weit senken lässt. Und wie weit man sie senken kann, hängt von vielen Faktoren ab, wie der absoluten Zahl der täglichen Neuinfizierten, der Dunkelziffer, der Art und Intensität des grenzüberschreitenden Verkehrs oder den vorhanden Instrumenten und Methoden zur Eindämmung des Coronavirus. Eine Reproduktionszahl von 0,8 erscheint für Deutschland eine realistische Größe unter den bisherigen Shutdown-Bedingungen. Und mit noch strikteren Maßnahmen lässt sich vielleicht auch noch ein etwas niedrigerer Wert erreichen. Aber irgendwo ist dann halt einfach eine Grenze, unter die man aus einer gegebenen Situation heraus nicht drunter kommt. In Deutschland muss es daher zunächst darum gehen, die Gegebenheiten so zu verändern – insbesondere im Hinblick auf die Testmöglichkeiten und die Nachverfolgung – dass ein effektives Vorgehen gegen das Coronavirus möglich wird.


Text als PDF: Wieso sich die Reproduktionszahl nicht beliebig weit senken lässt


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Warum eine hohe Testquote für Containment genauso wichtig ist wie eine niedrige Reproduktionszahl http://www.mister-ede.de/politik/testquote-reproduktionszahl/9015 http://www.mister-ede.de/politik/testquote-reproduktionszahl/9015#comments Mon, 27 Apr 2020 11:24:57 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9015 Weiterlesen ]]> Die Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Personen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Liegt R unter eins (R < 1), so gehen die Neuinfektionen mit der Zeit zurück. Daher wird diese Zahl aktuell sehr genau beobachtet und ihre Entwicklung bestimmt das Handeln der Politik. Das Problem an der Reproduktionszahl ist jedoch, dass zu ihrer Ermittlung nur diejenigen Infektionen herangezogen werden können, die bekannt sind. Aktuell sind das im Schnitt rund 2.500 Fälle am Tag. Darunter sind Personen, die selbst den Arzt aufgesucht haben, aber auch Befunde aus Reihenuntersuchungen oder präventiven Tests, z.B. beim medizinischen Personal. In all diesen Fällen können dann natürlich Maßnahmen eingeleitet werden, die das Infektionsgeschehen minimieren, z.B. das Aufspüren von Kontaktpersonen, die Anordnung einer Quarantäne oder Reihentestungen in der jeweiligen Umgebung des Infizierten, z.B. am Arbeitsplatz. Rund um die bekannten Infizierten sinkt dadurch die Reproduktionszahl erheblich. Wie sich allerdings das Infektionsgeschehen außerhalb dieses Hellfeldes entwickelt, kann man hieraus nicht ablesen. Vermutlich dürfte gerade im Dunkelbereich, also bei jenen Infizierten, die ohne Symptome bleiben und die auch nicht zufällig gefunden werden, die Ansteckungsrate deutlich höher sein. Das liegt zum einen daran, dass diese Personen keinerlei Verdacht auf ihre Infektion schöpfen, und zum anderen daran, dass insbesondere jüngere Menschen, die viele Kontakte haben, im Berufsleben stehen, studieren, Sport machen, diejenigen sind, die öfters ohne Symptome bleiben, vor allem natürlich Kinder. Und gerade wenn jüngere Menschen dann viele Kontakte mit Personen aus derselben Altersgruppe haben, z.B. zu Schulfreunden, Studien- oder Arbeitskollegen, kann die Reproduktionszahl in diesem Dunkelfeld, sozusagen Rdunkel, schnell und unbemerkt auf ein Vielfaches dessen steigen, was wir bei den bekannten Infektionsketten bzw. bei Rhell oder Rsichtbar beobachten. Im schlimmsten Fall, wenn die Gruppe im Hellfeld sehr groß ist, z.B. weil anfangs gezielt Urlaubsrückkehrer in Quarantäne geschickt wurden, kann es durch diese tatsächlich vorhandene Verzerrung der Reproduktionstätigkeit noch über Wochen eine spürbare Abnahme der Neuinfektionen geben, während sich unbemerkt im Hintergrund eine zweite Infektionswelle aufbaut. Möglicherweise sehen wir einen solchen Effekt momentan in Singapur. Für Deutschland ist das allerdings bisher eher unwahrscheinlich, weil ähnlich wie in der Schweiz reagiert wurde und dort bei einer guten Datenlage bislang keine zweite Infektionswelle erkennbar ist. Vermutlich haben die flächendeckenden Maßnahmen, wie Schul- und Geschäftsschließungen, auch die Kontakte der unbekannten Infizierten soweit eingeschränkt, dass Rdunkel ebenfalls nicht wesentlich über 1 oder vielleicht sogar unter 1 lag. Das wird sich in Deutschland aufgrund der zahlreichen zum Teil sehr weitgehenden Lockerungen so aber sicher nicht fortsetzen.

Kommt es dann allerdings dazu, dass Rdunkel ein gutes Stück über 1 liegt, verliert die Reproduktionszahl an Aussagekraft. Natürlich gilt weiterhin, wenn R insgesamt über 1 steigt, steht Deutschland wieder dort, wo es vor einem Monat schon einmal war, nämlich bei zunehmenden Infektionszahlen. Das möchte zwar niemand, aber bei den Bildern von Schlangen vor Baumärkten, Gedränge in Shoppingcentern und vollen Innenstädten ist das leider kein unwahrscheinliches Szenario.
Aber auch dann, wenn die Reproduktionszahl zunächst noch unter 1 bleibt, verliert die Betrachtung von R an Bedeutung für das Containment, weil der Rückgang der Infektionen im Hellfeld zunehmend durch Infektionseinträge aus dem Dunkelfeld ausgeglichen wird. Gelingt es nicht, die Zahl der unbekannten Infizierten zu verringern, wird die Reproduktionszahl damit automatisch immer wieder Richtung 1 steigen. Mit dem nachfolgendem Beispiel-Szenario wird dieser Effekt dargestellt:

Zu Beginn der Betrachtung gibt es 100 Infizierte im Hellfeld mit einem Rhell von 0,7 und daneben eine Dunkelziffer von 20 Infizierten mit einem Rdunkel von 1,5. In jeder Reproduktionsphase gelangt ein Drittel der Infizierten aus dem Dunkelfeld ins Helle. Somit bleibt die Dunkelziffer konstant bei 20 Infizierten (20 * 1,5 * 2/3) und in jeder Reproduktionsphase findet eine Eintragung von 10 Infizierten (20 * 1,5 * 1/3) aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld statt. Im Hellbereich haben wir dann nach der ersten Reproduktionsphase 70 Fälle (0,7 * 100), die sich aus dem Hellfeld selbst ergeben, plus 10 weitere Infektionen, die aus dem Dunkelfeld hinzukommen, also insgesamt 80 Fälle. Wir messen ein Rsichtbar = 0,8. In der nächsten Phase sind es im Hellfeld dann 56 plus wieder 10 Fälle aus dem Dunkelfeld, insgesamt also 66 Infizierte bzw. ein Rsichtbar = 66/80 = 0,82. Noch eine Phase später haben wir 56,2 Fälle bzw. Rsichtbar = 0,85. Das Ganze geht nun immer so weiter bis sich Rsichtbar an 1 annähert und die Zahl der täglich Neuinfizierten im Hellfeld an 33 Fälle, die sich jede Reproduktionsphase auf 23 reduzieren und durch 10 neue Eintragungen aus dem Dunkelfeld ergänzt werden.

Alleine die Tatsache, dass die Reproduktionszahl insgesamt wie auch Rsichtbar die ganze Zeit unter der magischen 1 lag, anfangs sogar recht deutlich, trägt damit noch lange nicht zu einer Situation bei, die zu einer Beendigung der Epidemie führt. Unerheblich ist dabei auch, ob Rhell im Hellfeld bei 0,7 oder 0,5 liegt oder sogar auf 0,2 gedrückt wird. Über kurz oder lang wird sich Rsichtbar wie auch die Reproduktionszahl insgesamt unweigerlich durch die Eintragungen aus dem Dunkelfeld wieder auf 1 heben und die tägliche Fallzahl wird sich auf die Eintragungen aus dem Dunkelfeld geteilt durch (1 – Rhell) einpendeln, also auf 33 Fälle bei Rhell = 0,7 bzw. 12,5 Fälle bei Rhell = 0,2.

Zur Beantwortung der Frage, ob eine Epidemie eingedämmt werden kann, reicht deshalb die Betrachtung des Hellfeldes und der Reproduktionszahl bzw. Rsichtbar nicht aus. Klar, wenn die Epidemie schon bei den bekannten Fällen außer Kontrolle ist, braucht man sich um die Dunkelziffer keine Sorgen mehr machen. Allerdings ist umgekehrt eben noch lange nicht alles gut, nur weil die sichtbare Reproduktionszahl unter 1 liegt.
Daher braucht es für jedes Containment neben der Reproduktionszahl eine weitere Kennzahl, die eine Aussage zur Entwicklung des Dunkelfeldes zulässt. Eine Möglichkeit hierfür ist die Bestimmung des Anteils der Corona-Infizierten, die positiv auf eine Infektion mit dem Coronavirus getestet wurden. Eine solche Testquote kann entweder durch repräsentative Studien ermittelt oder durch Modellrechnungen abgeschätzt werden.
Im dargestellten Beispiel-Szenario liegt die Testquote Anfangs recht hoch bei 100/120 (83%), während sie sich im Verlauf auf 33/53 also etwa 62,5% einpendelt. Die reine Prozentzahl selbst hat aber nur wenig Aussagekraft, solange die Größe des Reservoirs an Infizierten im Dunkelfeld und Rdunkel unbekannt sind. Dafür kann allerdings aus der Entwicklung der Testquote abgelesen werden, ob es „nur“ gelingt, die Fallzahlen zu senken, oder ob darüber hinaus auch immer weiter in das Duneklfeld vorgedrungen und damit ein Ende der Epidemie ermöglicht wird. Sinkt die Testquote, obwohl genügend Tests verfügbar sind und sich das Testschema nicht verändert hat, dann ist das ein deutliches Anzeichen dafür, dass sich das Infektionsgeschehen auch mit einem aktuell beobachtbaren R von 0,9 nicht auf null senken lässt, sondern sich wegen konstanter Einträge aus dem Dunkelfeld auf irgendeinem Niveau einpendelt, wie bei dem obigen Beispiel-Szenario. Oberflächlich betrachtet ist man zwar lange auf einem guten Weg in Richtung Containment. Man testet viel und findet auch viel und neben Rhell liegt sowohl die sichtbare Reproduktionszahl gut unter 1 wie auch die tatsächliche Reproduktionszahl. Aber allmählich drückt sich die Reproduktionszahl dann doch wieder gegen 1. Und auch wenn man in diesem Fall herginge und mit einem gewissen Aufwand Rhell nochmals auf 0,2 drückt, bekommt man zwar die Neuinfektionen auf 12,5 am Tag gesenkt, aber eben nicht das Problem beseitigt. Denn anstatt tiefer in das Dunkelfeld vorzudringen und das Reservoir der unbekannten Infizierten zu verkleinern, wird auf diese Weise einfach nur die Testquote gesenkt.

Für ein erfolgreiches Containment ist daher neben einer Reproduktionszahl kleiner 1 auch eine konstant hohe oder steigende Testquote unerlässlich – oder eben eine andere Maßzahl, mit der ein Rückgang der Dunkelziffer überwacht werden kann. Denn, solange es keine Herdenimmunität und keinen Impfstoff gibt, müssen auch die letzten aktiven Infizierten im Dunkelfeld gefunden worden sein oder zumindest gefunden werden können, um die Epidemie auf Dauer einzudämmen. Das heißt, es darf durchaus noch unbekannte Infizierte geben, aber es muss klar sein, dass neu auftretende Ausbrüche, egal ob durch eine Infektion aus dem Dunkelfeld oder durch eine Eintragung aus dem Ausland, immer wieder so schnell und umfassend unter Kontrolle gebracht werden können, dass sich daraus nicht wieder eine exponentielle Vermehrung ergibt. Und das gelingt eben nur, wenn ein ausreichend großer Anteil der Infizierten durch Tests gefunden wird. Daneben hat die Testquote aber auch noch aus einem anderem Grund Charme: Während man die Reproduktionszahl nur mit hohem Aufwand und sehr indirekt beeinflussen kann, ist eine Erhöhung der Testquote über die schlichte Ausweitung von Testkapazitäten und die vermehrte Durchführung von Reihentests vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen. Solange also die Reproduktionszahl unter 1 liegt und damit eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert wird, ist die Erhöhung der Testquote ein relativ einfacher und milder Ansatz, um das Infektionsgeschehen nach und nach unter Kontrolle zu bringen.

Disclaimer: Dieser Beitrag stellt ein logisches Grundproblem dar und basiert nicht auf tieferen Kenntnissen der Epidemiologie.


Text als PDF: Warum eine hohe Testquote für Containment genauso wichtig ist wie eine niedrige Reproduktionszahl


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