Wieso sich die Reproduktionszahl nicht beliebig weit senken lässt

Die Corona-Pandemie hat Deutschland voll im Griff und da ist es natürlich verständlich, dass die allermeisten Menschen auf ein möglichst schnelles Ende dieser Ausnahmesituation hoffen. Und nicht weniger als das verspricht ein Szenario, welches vor Kurzem von Wissenschaftlern des Helmholtz-Zentrums präsentiert wurde. Ihr Plan ist, die Reproduktionszahl für einige Wochen auf 0,5 oder niedriger zu senken, sodass nur noch wenige Fälle am Tag auftreten, welche dann durch die Gesundheitsbehörden nachverfolgt werden können. Ausgespart wurde bei der Darstellung dieses Szenarios allerdings die Frage, ob es überhaupt möglich ist, die Reproduktionszahl in einem so weit fortgeschrittenen Stadium der Ausbreitung auf einen so niedrigen Wert zu drücken und wenn ja, mit welchen Maßnahmen und unter welchen Bedingungen das gelingen kann.

Beispiele Taiwan und Südkorea

Häufig werden die beiden Vorzeigeländer Taiwan und Südkorea als Beispiele dafür angeführt, dass die Reproduktionszahl auf ein Niveau von 0,5 oder niedriger gedrückt und die Epidemie auf diese Weise unter Kontrolle gebracht werden kann. Und tatsächlich gibt es keinen ernsthaften Zweifel daran, dass diesen beiden Ländern das bislang gelungen ist. Sehr wohl kann man allerdings anzweifeln, dass die Situationen dort und in Deutschland wirklich miteinander vergleichbar sind.
Taiwan ist eine Insel, also ohne Massen an Grenzpendlern und mit Einreisemöglichkeiten nur an wenigen See- und Flughäfen. Und Südkorea ist zwar nur eine Halbinsel, allerdings hält sich der Grenzverkehr mit Nordkorea bekanntermaßen ebenfalls in überschaubarem Rahmen und ansonsten gilt für Südkorea dasselbe wie für Taiwan. Es gibt damit schon ganz unterschiedliche geografische Voraussetzungen wie in Deutschland. Noch wichtiger ist jedoch, dass beide Länder umgehend mit Gegenmaßnahmen begonnen haben, also noch zu einem Zeitpunkt, als es keine große Dunkelziffer in den Ländern gab. Wer neu einreiste, musste automatisch in Quarantäne. Und die wenigen Infektionsketten, die es schon bis ins Land geschafft hatten, konnten mit einigem Aufwand unterbrochen werden.
Hinzukommt aber noch ein dritter Punkt, nämlich dass die Fallzahlen insgesamt noch niedrig genug waren, um effektiv im Einzelfall vorzugehen. So konnte bei neuentdeckten Infizierten jeweils das komplette Umfeld, also die bisherigen Kontaktpersonen und womöglich auch deren Kontaktpersonen, die Arbeitskollegen oder die Leute im Supermarkt getestet oder vorsorglich in Quarantäne genommen werden. Das sind dann schnell 50, 100 oder 200 Leute bei einem einzigen entdeckten Infizierten. Jetzt kann sich jeder ausrechnen, was das für Deutschland bedeuten würde. Wenn aktuell 10.000 Infizierte pro Woche entdeckt werden, müssten gleich ein paar Hundertausend wenn nicht gar ein paar Millionen Menschen aufgespürt, isoliert und getestet werden – aktuell völlig illusorisch.

Die Dunkelziffer

Während es also in Taiwan und Südkorea gelungen zu sein scheint, das Infektionsgeschehen im eigenen Land klein zu halten und damit ein Anwachsen der Dunkelziffer zu verhindern, gibt es in Deutschland inzwischen zahlreiche unbekannte Infizierte. Damit ist aber nicht mehr nur eine kleine Gruppe von Einreisenden aus dem Ausland potentiell infiziert, sondern jeder Einwohner könnte ein Virusträger und Virusverbreiter sein. Und wie hoch diese Dunkelziffer in Deutschland ist, weiß aktuell niemand. Klar ist jedoch, dass man ganz anders suchen müsste, um diese Infektionsquellen zu finden. Wie das mit den jetzigen Kapazitäten und Methoden gehen soll, ist mir allerdings schleierhaft. Zurzeit können wir ja in vielen Fällen nur feststellen, dass es in einer Stadt, einem Pflegeheim oder einer Schule vermehrt Infizierte gibt, aber nicht wirklich erklären, wo diese Fälle jeweils herkommen. Solange das aber nicht klar ist, können wir das Infektionsgeschehen nicht reduzieren, sondern immer nur hinterherlaufen und die Verwüstungen des Coronavirus aufräumen.
Und was für das Infektionsgeschehen im Inland gilt, gilt genauso für Eintragungen aus dem Ausland. Auch hier wäre es notwendig, das Infektionsgeschehen so umfassend unterbrechen zu können, dass sich die Zahl der Infektionsquellen durch solche Eintragungen, z.B. durch LKW-Fahrer oder Berufspendler, nicht weiter erhöht.

Corona-App und Massentests

Immer wieder wird in der Diskussion über die Absenkung der Reproduktionszahl darauf hingewiesen, dass durch eine entsprechende Corona-App das Tracking (Verfolgen) von Infizierten und das anschließende Tracing (Aufspüren, Nachverfolgen) von Kontaktpersonen ermöglicht würden. Das ist allerdings nur insoweit richtig, als man zunächst natürlich erst einmal einen Infizierten finden muss, bevor man anhand der Trackingdaten eine Nachverfolgung starten kann. Und die Preisfrage bleibt: Wie will man ohne massenhaft Tests einen Infizierten finden, der selbst nicht mal den leisesten Verdacht hat, dass er infiziert sein könnte?
Was es neben einer App bräuchte, die von weiten Teilen der Bevölkerung auch wirklich genutzt werden müsste, wären daher ausreichend Tests, um überhaupt erst einmal Ansatzpunkte für das Tracking und das Tracing zu finden. Da es aktuell aber weder das eine noch das andere gibt, habe ich auch aus diesem Grund ernsthafte Zweifel, dass im Moment ein R von 0,5 erreichbar ist.

Inselgeschehen

Ein Fünf-Personen-Haushalt, in dem am Anfang des Monats ein aktiver Virusverbreiter lebt, kann am Ende des Monats noch immer einen aktiven Virusverbreiter unter sich haben, selbst wenn es in dieser Zeit keinerlei Kontakte nach außen gab. Man kann sich damit leicht ausrechnen, wie lange das Coronavirus in einzelnen Einrichtungen, wie in Senioren-, Pflege- oder Kinderheimen, in Bundeswehrkasernen oder Gefängnissen oder auch in Obdachlosenunterkünften zirkulieren kann, bis das Infektionsgeschehen zum erliegen kommt. Außerdem ist gerade in solchen Bereichen bei vielen Kontakten das Abstandhalten unmöglich, insbesondere natürlich bei der Pflege.
Das heißt, in solchen Einrichtungen kann es über mehrere Wochen oder gar Monate ein deutlich erhöhtes Infektionsgeschehen geben. Allerdings reicht ja schon ein R = 1 in mehreren dieser Einrichtungen aus, um selbst bei einem niedrigen Infektionsgeschehen im Rest des Landes die Reproduktionszahl insgesamt oben zu halten. Und Pflegeheime oder Ähnliches sind ja nicht gänzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Das Pflegepersonal oder die Schließer gehen nach der Arbeit weiterhin ganz normal nach Hause zu ihren Familien und die Obdachlosen verbringen üblicherweise ihren Tag irgendwo auf der Straße. Auch aufgrund solcher Sondersituationen ist es aus meiner Sicht aber fraglich, ob mit den jetzigen Werkzeugen und Methoden ein R von 0,5 erreichbar ist.

Fazit

Offenkundig ist es möglich, die Reproduktionszahl unter 1 zu drücken und damit eine großflächige Ausbreitung des Virus zu verhindern. Das konnte man in Deutschland und in vielen anderen Ländern sehen. Daraus folgt aber eben nicht, dass sich die Reproduktionszahl beliebig weit senken lässt. Und wie weit man sie senken kann, hängt von vielen Faktoren ab, wie der absoluten Zahl der täglichen Neuinfizierten, der Dunkelziffer, der Art und Intensität des grenzüberschreitenden Verkehrs oder den vorhanden Instrumenten und Methoden zur Eindämmung des Coronavirus. Eine Reproduktionszahl von 0,8 erscheint für Deutschland eine realistische Größe unter den bisherigen Shutdown-Bedingungen. Und mit noch strikteren Maßnahmen lässt sich vielleicht auch noch ein etwas niedrigerer Wert erreichen. Aber irgendwo ist dann halt einfach eine Grenze, unter die man aus einer gegebenen Situation heraus nicht drunter kommt. In Deutschland muss es daher zunächst darum gehen, die Gegebenheiten so zu verändern – insbesondere im Hinblick auf die Testmöglichkeiten und die Nachverfolgung – dass ein effektives Vorgehen gegen das Coronavirus möglich wird.


Text als PDF: Wieso sich die Reproduktionszahl nicht beliebig weit senken lässt


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