Corona-Pandemie: Empfehlungen zum weiteren Vorgehen in Deutschland
Aktuelle Lage
Seit Anfang April ist bundesweit, bei regionalen Unterschieden, ein Rückgang der bestätigten Neuinfektionen festzustellen. Nachdem gleichzeitig in diesem Zeitraum die Testkapazitäten ausgebaut wurden und entsprechend mehr und schneller getestet wird, ist davon auszugehen, dass dieser Rückgang nicht nur statistisch ist, sondern tatsächlich stattfindet. Die positive Nachricht ist daher zunächst, dass wir in Deutschland in der Lage sind, die Ausbreitung des Coronavirus bei weitestgehender Aufrechterhaltung der Produktion unter Kontrolle zu behalten.
Die aus den Meldezahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) ermittelte tägliche Abnahme von 3 bis 4 Prozent ist allerdings so gering, dass eine Entwarnung keinesfalls angebracht ist. Im Gegenteil: Dass trotz der verschiedenen, zum Teil sehr strikten Maßnahmen – in Bayern gilt seit über drei Wochen eine harte Ausgangssperre – die Fallzahlen nur so marginale zurückgehen, ist ziemlich ernüchternd.
Überdies gibt es große regionale und lokale Unterschiede, die eine pauschale Bewertung der Lage unmöglich machen. Während Bayern und das Saarland aktuell im Schnitt noch täglich 6 bis 7 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner melden, liegt dieser Wert in NRW bei etwa 3,5 und in Mecklenburg-Vorpommern bei nur 0,5. Damit ist das Infektionsgeschehen in Bayern und dem Saarland noch immer über zehnmal höher als an der Ostseeküste.
Zu den regionalen Unterschieden zwischen den Bundesländern kommen aber auch noch erhebliche lokale Unterschiede hinzu. So weist das RKI für den hiesigen Kreis Siegen-Wittgenstein aktuell eine 7-Tages-Corona-Aktivität von 12,2 Fällen je 100.000 Einwohner aus, während die 7-Tages-Corona-Aktivität im strukturell völlig vergleichbaren Nachbarkreis Olpe laut RKI aktuell bei 87,6 Fällen je 100.000 Einwohner liegt. Bezogen auf die täglichen Neuinfektionen bedeutet das für den Kreis Olpe rund 18 Fälle je 100.000 Einwohner, was NRW-weit der mit Abstand höchste Wert ist und problemlos mit den Fallzahlen in den stark betroffenen Regionen Süddeutschlands mithalten kann.
Regionalisierung der Schutzmaßnahmen
Neben bundesweiten und flächendeckenden Maßnahmen braucht es künftig deutlich mehr regionalspezifische Ansätze, die an die jeweiligen Rahmenbedingungen und das jeweilige Infektionsgeschehen angepasst sind. Denn während mancherorts die Lockerung der getroffenen Schutzvorkehrungen durchaus angebracht erscheint, könnte selbiges nur wenige Kilometer entfernt zum Brandbeschleuniger in einer laufenden Epidemie werden.
Bundesweite Regelung bedarf es insofern vor allem für das Verbot von Großveranstaltung und die Beschränkung der Reisefreiheit, z.B. das Verbot touristischer Busreisen, die Einschränkung des überregionalen ÖPV oder gegebenenfalls ein Ausreiseverbot aus stark betroffenen Bundesländern in das übrige Bundesgebiet. Auch was das allgemeine Verhalten im öffentlichen Raum anbelangt, machen bundesweite Regelungen Sinn, um Verwirrungen vorzubeugen.
Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit kleinerer Gruppen, der Erlass von Ausgangssperren oder der Umgang mit dem Schul- und KiTa-Betrieb sollten hingegen weitestgehend den Bundesländern oder den kommunalen Gebietskörperschaften überlassen werden, so wie das vom Infektionsschutzgesetz sinnvoller Weise bereits vorgesehen ist. Dasselbe gilt für die Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen Geschäfte geöffnet sein können, auch wenn hier eine Abstimmung zwischen benachbarten Regionen ratsam ist, um ungewollte Effekte beispielsweise an Landesgrenzen oder gegebenenfalls auch an Kreisgrenzen zu vermeiden.
Notwendig für eine solche Regionalisierungsstrategie ist jedoch ein entsprechendes Monitoring durch flächendeckende, engmaschige und zeitnahe Tests. Denn nur wenn es tatsächlich gelingt, Infektionsherde frühzeitig zu identifizieren, kann man die Eindämmungsmaßnahmen zielgerichtet und zeitlich begrenzt in diesen Gebieten durchführen, anstatt pauschal das öffentliche Leben überall und dauerhaft einschränken zu müssen.
Mundschutzpflicht
Zu den bundesweiten Maßnahmen kann eine Mundschutzpflicht im ÖPV (Bus, Zug, Flugzeug), in Geschäften oder sonstigen Innenräumen gehören. Gleichzeitig muss aber energisch dem Spin der Medien oder auch des Leopoldina-Präsidenten Haug widersprochen werden, dass mit einer Mundschutzpflicht eine Rückkehr zur Normalität möglich werden würde. Wenn Haug bereits wieder von vollgepackten U-Bahnen spricht, dann ist das geradezu absurd, denn es muss um das genaue Gegenteil gehen, also U-Bahnen und ähnliches möglichst leer zu halten.
Zwar ist das Tragen eines Mundschutzes sehr zu begrüßen, weil es das Ansteckungsrisiko unter ansonsten gleichbleibenden Bedingungen vermutlich verringert. Aber ob ein Mundschutz, womöglich auch nur ein Schal, in einem vollbesetzten Bus wirklich verhindert, dass sich irgendjemand ansteckt, kann man zumindest anzweifeln. Wenn also gleichzeitig zu der Einführung einer Mundschutzpflicht andere Schutzvorkehrungen reduziert werden, der Einzelne also beispielsweise wieder die U-Bahn nimmt, anstelle des Fahrrads, dann ergibt das in der Summe nicht mehr Ansteckungsschutz, sondern umgekehrt ein deutlich erhöhtes Ansteckungsrisiko. Insofern ist eine Mundschutzpflicht zwar ratsam, sie kann aber nur als Ergänzung zu anderen Maßnahmen und nicht als Ersatz für diese dienen.
Wiederöffnung des Einzelhandels
Nachdem Supermärkte und andere Geschäfte des täglichen Bedarfs während des Shutdowns geöffnet hatten, konnte man hier bereits erste Erfahrungen mit Zugangsbeschränkungen, Plexiglas in Kassenbereichen und Abstandsregeln sammeln. Und nach meinem Kenntnisstand gibt es bislang keine Anzeichen dafür, dass Einkaufsgeschäfte unter solchen Schutzbedingungen zu den wesentlichen Übertragungsorten des Coronavirus gehören. Das sieht bei Bars und Kneipen, in Pflegeheimen und vor allem natürlich innerhalb der Familien ganz anders aus. Insofern spricht aber viel dafür, die Wiederöffnung des Einzelhandels unter denselben Schutzvorkehrungen wie in den bislang schon geöffneten Läden zu ermöglichen.
Die in dieser Woche getroffenen Verabredungen der Bundes- und der Landesregierungen gehen daher in die richtige Richtung. Fraglich ist allerdings, ob die Beschränkung auf kleinere Geschäfte wirklich zielführend ist. Zum einen wird sich dadurch das Einkaufsgeschehen auf weniger Verkaufsfläche abspielen. Zum anderen fehlt es an einem hinreichenden Sachgrund für die willkürliche Grenzziehung. Warum nämlich das Ansteckungsrisiko in riesigen Möbelhäusern höher sein soll wie in einem kleinen Juweliergeschäft, dürfte mit den Mitteln der Logik nur äußerst schwer zu erklären sein.
Besser geeignet als eine feste Höchstgrenze für die Verkaufsflächen wäre deshalb eine Regelung, die auf Kunden je Quadratmeter abstellt. Damit wäre dann vermutlich sowohl dem Gesundheitsschutz wie auch den Einzelhändlern gedient.
Strikte Ausgangssperre vs. lockerere Kontaktbeschränkung
Wenn man sich die Entwicklung der Neuinfektionen in den Bundesländern anschaut, ist zu erkennen, dass die striktere Ausgangssperre in Bayern keinen höheren Effekt hat als die etwas lockereren Kontaktbeschränkungen im Rest der Republik. Das ist auch wenig verwunderlich, da sich die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger schon von sich aus vernünftig verhält und außerdem durch den weitgehenden Shutdown sowieso viele Aktivitäten gar nicht mehr möglich sind. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, welche Ansteckungsgefahren reduziert werden sollen, indem man Menschen verbietet, auf einer Parkbank zu sitzen oder auf einer Wiese zu liegen und ein Buch zu lesen.
Künftig braucht es deshalb eine deutlich stärkere Orientierung am Ziel der Kontaktreduktion. Natürlich kann in besonders stark betroffenen Gebieten eine lokal begrenzte Ausgangssperre zielführend sein, um kurzzeitig wirklich jegliches öffentliches Leben stillzulegen. Im Allgemeinen ist es aber völlig ausreichend, die Ansammlung größerer Menschengruppen zu unterbinden, wie es durch die lockereren Kontaktbeschränkungen geschieht. Als Richtwert für eine bundesweite Regelung erscheint eine Obergrenzen für Gruppen zwischen 4 und 8 Personen sinnvoll. In stärker betroffenen Bundesländern sollte jedoch weiterhin die 2-Personen-Regelung gelten. Die flächendeckende strikte Ausgangssperre in Bayern muss hingegen mangels Wirksamkeit sofort gelockert und in eine mildere Kontaktbeschränkung umgewandelt werden.
Alten-, Behinderten-, Krankenpflege
Noch immer steht Deutschland, genauso wie Europa und die gesamte Welt, vor dem Problem, dass es nur wenige – faktisch oft keine – effektiven Maßnahmen gibt, die vor Ansteckungen im Pflegebereich schützen. Während man auf Kneipenbesuche verzichten und in Supermärkten und anderen Geschäften relativ leicht Abstand halten kann, handelt es sich im Bereich der Pflege um notwendige Kontakte, bei denen die räumliche Nähe meist zwingend ist. Genau jene Regeln, also die Kontaktreduktion und das Abstand halten, die in der restlichen Gesellschaft effektiv und vergleichsweise effizient den Reproduktionsfaktor R auf einen Bruchteil senken, laufen im Pflegebereich komplett ins Leere. Umso wichtiger ist es daher, die übrigen physischen und präventiven Schutzmöglichkeiten in diesem Bereich vollständig auszuschöpfen.
Das heißt, dass bei der stationären Pflege in Richtung Ganzkörperschutzanzüge und Desinfektionsanlagen vor den Einrichtungen gedacht werden muss, damit von Pflegekräften über Reinigungspersonal und sonstige Angestellte bis zu Besucherinnen und Besuchern wirklich jeder nur noch vollständig abgeschirmt und 100% virenfrei in Krankenhäuser, Altenheime oder sonstige Pflegeeinrichtungen gelangt. Auch in der mobilen Alten- und Krankenpflege müssen solche Schutzmaßnahmen entwickelt werden. Daneben müssen Pflegende wie auch Gepflegte zur Prävention regelmäßig auf eine Infektion mit dem Coronavirus getestet werden, um die Ansteckungsgefahren für die Hochrisikogruppe der Gepflegten so gering wie möglich zu halten. Das gilt allerdings nicht nur in der stationären und der mobilen gewerbsmäßigen Pflege, sondern insbesondere auch für die private Pflege innerhalb der Familie.
Bislang ist mein Eindruck aber leider, dass der Pflegebereich kaum Beachtung findet. Anstatt die Mundschutzpflicht im ÖPNV rauf und runter zu diskutieren oder zu überlegen, ob man 18-Jährige Abiturienten für 3 Stunden mit ausreichend Abstand in einen Raum setzen darf, sollte vielmehr der Schutz dieser schwächsten und zugleich gefährdetsten Gruppe unserer Gesellschaft in den Blick genommen werden.
Schulen und Kitas
Während es in Kitas unmöglich sein dürfte, die für einen Ansteckungsschutz notwendigen Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen einzuhalten, sollte dies bei oberen Klassenstufen grundsätzlich funktionieren. Eine einheitliche Regelung von den jüngsten Kita-Kindern bis zu den Abiturientinnen und Abiturienten kann insofern aber nicht zielführend sein.
In Kitas sollte deshalb vorerst weiter auf einen Notbetrieb gesetzt werden, wohingegen an Schulen durchaus wieder einige Aktivitäten durchgeführt werden können. Sinnvoll erscheint hierbei, zunächst mit den Abschlussklassen zu beginnen, während der Unterricht für die restlichen Klassenstufen weiterhin ausgesetzt bleibt. Damit stünden jetzt für die Abschlussklassen genügend Lehrkräfte und Räume zur Verfügung, um den Schulunterricht und die Prüfungsvorbereitungen in kleineren Gruppen mit dem nötigen Abstand fortzusetzen. Gelänge es auf diese Weise, die Abschlussprüfungen zu Ende zu führen, stünden im Anschluss wiederum für die restlichen Klassenstufen mehr Kapazitäten zur Verfügung. Gegebenenfalls könnte dann durch eine Verlängerung des aktuellen Schuljahres, verkürzte Sommerferien und einen späteren Beginn des nächsten Schuljahres ein Teil der verlorenen Lernzeit wieder aufgeholt werden.
Gleichwohl wird man auch bei diesem Vorgehen nicht ohne flankierende Maßnahmen auskommen, sobald die übrigen Klassenstufen wieder zur Schule gehen. Um das Ansteckungsrisiko ab diesem Zeitpunkt auf einem Minimum zu halten, sollte daher zumindest an weiterführenden Schulen ein Teil des Präsenzunterrichts durch E-Learning-Einheiten substituiert werden. Auch Schichtunterricht oder zeitversetzte Pausen können dazu beitragen, die Zahl der Kontakte und damit auch das Infektionsrisiko zu reduzieren.
Zusammenfassung
Nachdem es eine Vielzahl lokaler Infektionsgeschehen gibt, ist eine Regionalisierung der Maßnahmen zwingend erforderlich. Nur so ist es möglich, die verschiedenen flächendeckenden Einschränkungen zurückzunehmen, ohne damit die Gefahr von Infektionen zu erhöhen. Daneben muss das Augenmerk vielmehr auf dem Schutz der Risikogruppen liegen, insbesondere den pflegebedürftigen Personen. Während große Menschenansammlungen bundesweit für längere Zeit nicht möglich sein werden, erscheint eine moderate Lockerung der Kontaktsperre für Kleingruppen zumindest in schwächer betroffenen Regionen vertretbar. Selbiges gilt für die Wiederöffnung des Einzelhandels und die Beschulung der Abschlussklassen. Überdies kann eine Mundschutzpflicht in Innenräumen eine gute Ergänzung zu anderen Schutzmaßnahmen sein.
Text als PDF: Corona-Pandemie: Empfehlungen zum weiteren Vorgehen in Deutschland
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