Eine erste Einschätzung zur bundesweiten Corona-Kontaktsperre

Bereits vor zwei Wochen hatte ich neben Grenzschließungen verschiedene Maßnahmen innerhalb Deutschlands vorgeschlagen, um der Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken. Zusätzlich zur Einstellung weiter Teile des innerdeutschen öffentlichen Personenverkehrs (Züge, Busse, Flüge) hatte ich schon zu diesem Zeitpunkt angeregt, in besonders betroffenen Gebieten alle nicht notwendigen Aktivitäten einzustellen und die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit erheblich einzuschränken.
Insofern halte ich die von den Bund und Ländern inzwischen getroffenen Maßnahmen durchaus für sinnvoll. Und auch die Entscheidung der Politik, darüber hinaus KiTas und Schulen bundesweit zu schließen oder zumindest auf eine Notbetreuung umzustellen, ist sicher ebenfalls gut und richtig.
Das flächendeckende Kontaktverbot hingegen ist aus meiner Sicht problematisch, weil damit pauschal fundamentale Grundrechte auf ganz massive Art und Weise eingeschränkt werden. Natürlich kann eine solche Kontaktbeschränkung in stark betroffenen Regionen ein sinniges Mittel sein. Aber selbst dort lässt sich über die tatsächliche Wirkung streiten, solange es nur völlig unzureichende Schutzvorkehrungen an den wesentlichen Knotenpunkten der Gesellschaft (Supermarkt, Arzt, ÖPNV usw.) gibt. Und klar ist eben auch, dass es der Seuchenbekämpfung im süddeutschen Mitterteich recht wenig hilft, wenn auf Rügen Schulen geschlossen und den Rügenern ein Kontaktverbot oder eine Ausgangssperre auferlegt wird.
Die aktuell seitens der Landes- und Bundespolitik vorgetragene Begründung für diese Maßnahme läuft insofern ins Leere. Nur weil es stark betroffene Gebiete gibt, in denen die Einschränkung der Grundrechte wirklich notwendig ist, muss man deshalb noch lange nicht die Grundrechte in anderen Teilen Deutschlands außer Kraft setzen.
Zu beantworten ist daher vielmehr die Frage, ab wie vielen Infizierten in einer Region solche Maßnahmen sinnvoll und zulässig sind. Eines kann man dabei jedoch ausschließen, nämlich dass in Stadt- und Landkreisen mit einigen wenigen Infizierten, deren Infektionswege sich oftmals noch nachvollziehen lassen, eine so einschneidende Maßnahme wie ein solches Kontaktverbot verhältnismäßig ist. Das gilt insbesondere dann, wenn gleichzeitig in vollen Bussen und Läden, am Arbeitsplatz oder in Behörden ein Vielfaches an Übertragungsrisiken lauert.

Mit Blick auf das bayerische Mitterteich und eine Infektionsquote von 1% sieht das natürlich anders aus. Dort ist ein solches Kontaktverbot mehr als angebracht. Und sinnvoll wäre es vermutlich auch, zusätzlich wirklich alle Geschäfte einschließlich Arztpraxen und Apotheken zu schließen und eine Notversorgung der Bevölkerung in ihren Häusern und Wohnungen durch Bundeswehr, THW, DRK oder auch sonstigen ehrenamtlichen Kräfte zu organisieren. Nachdem von weiteren bislang unerkannten Infizierten in dem Dorf auszugehen ist und auch davon, dass es in häuslicher Quarantäne weitere Ansteckungen gibt, könnte die Zahl der Erkrankten dort sogar trotz solch strikter Maßnahmen schnell auf 5% ansteigen. So etwas hält unser Gesundheitssystem vielleicht noch bei einer kleinen Gemeinde aus, aber nicht flächendeckend.
Insgesamt ist die Situation in vielen Teilen Süd- und Westdeutschlands und – wie zu erwarten – insbesondere auch in den Metropolen äußerst gefährlich. Ob es hier in den letzten Tagen gelungen ist, die Verbreitung signifikant zu verlangsamen, kann man aktuell noch nicht beurteilen. Meine große Befürchtung ist allerdings, dass gerade in Berlin, Hamburg, München oder Köln die verschiedenen Maßnahmen – inklusive der Kontaktsperre – eine vergleichsweise geringe Verlangsamung bewirken könnten, weil dort der ÖPNV-Anteil und auch der Anteil von Berufspendlern sehr hoch ist und es in den Geschäften des täglichen Lebens einfach einen viel höheren Durchlauf an Menschen gibt. Und genau dort liegen die Hauptgefahrenquellen und eben nicht bei vier Leuten, die zusammen im Park sitzen.
Umgekehrt habe ich dafür aber noch immer die Hoffnung, dass mit den jetzt getroffenen Maßnahmen in weiten Teilen Deutschlands, insbesondere in den eher schwächer besiedelten Gebieten mit etwas Abstand zu den Metropolregionen, die Infektionsketten in einigen Fällen auch wieder gestoppt werden können. Bei den aktuell 52 bestätigten Fällen in unserem hiesigen Kreisgebiet ist meines Wissens nach von 50 bekannt, auf welchem Wege diese sich infiziert haben, nämlich allesamt in Italien oder Österreich oder über Rückkehrer von dort. Gelingt es in den nächsten Wochen, auch die Infektionswege weiterer Fälle zu identifizieren und vielleicht sogar einen Zusammenhang zu den beiden bislang unbekannten Übertragungswegen herzustellen, wäre das eine ganz andere Situation, als wenn sich jetzt nach und nach immer mehr Fälle mit ungeklärten Infektionswegen auftun.

Selbstverständlich machen bundesweite Maßnahmen an vielen Stellen Sinn, z.B. der Verzicht auf größere Versammlungen oder auch die Begrenzung von Gruppengrößen in der Öffentlichkeit auf wenige, vielleicht fünf oder sechs Personen. Zielführend wäre außerdem, in ganz Deutschland besondere Gefahrenpunkte, wie Autobahntankstellen oder den ÖPV, in den Blick zu nehmen. Es sollten so viele Busse wie möglich eingesetzt werden, um so wenige Fahrgäste wie möglich je Bus zu haben. Dazu routinemäßige Desinfektionen von Zügen und Bussen nach ein oder zwei Touren und auch regelmäßige Desinfektion von Taxen. Außerdem sollte über eine Mundschutzpflicht für Fahrgäste nachgedacht werden. Daneben sind auch Taxi-Gutscheine oder ein Shuttle-Service z.B. für Klinikpersonal überlegenswert, das sonst auf Bus und Bahn angewiesen wäre. Beim Einkaufen in Supermärkten, Apotheken oder anderen Geschäften bräuchte es deutschlandweit mehr Ansteckungsschutz z.B. durch Trennschreiben aus Plexiglas im Kassenbereichen. Und sinnvoll wären sicher auch viel mehr Möglichkeiten, sich vor Geschäften oder an Bushaltestellen die Hände zu waschen. In Bahnhöfen wäre es sicher kein Problem, in bahnsteignähe mobile Waschbecken aufzustellen, um die Hygiene zu verbessern. All das macht auch in der Fläche Sinn, weil es sich zwar um weiche, aber dennoch seuchenhemmende Maßnahmen handelt.
Ob darüber hinaus eine noch härtere Kontaktsperre oder gar eine Ausgangssperre notwendig ist, sollte allerdings in den jeweiligen Regionen von der Situation abhängig gemacht und nicht zentral von Bundes- oder Landesregierungen festgelegt werden. Denn in dieser Pauschalität wird eine solche Maßnahme sonst weder der Situation noch den Anforderungen des Infektionsschutzgesetzes und des Grundgesetzes gerecht.
Und wenn am Ende in den schwach betroffenen Regionen die Kollateralschäden solcher harten Maßnahmen höher sind, als der beabsichtigte Nutzen, ist niemandem geholfen. Schon jetzt verlassen Pflegekräfte scharenweise das Land was für hunderttausende Ältere und Pflegebedürftige eine nicht minder lebensgefährliche Situation darstellen kann wie die Corona-Epidemie selbst. Und auch für die zig Millionen Menschen, die schon jetzt durch das Raster unseres Staates fallen – Obdachlose, Minirentner, Flaschensammler – beginnt in den nächsten Tagen bei Lieferengpässen, steigenden Preisen und geschlossenen Tafeln ein Lebenskampf – Corona hin, Corona her. All das muss Politik deshalb jetzt im Blick haben, damit es am Ende nicht heißt, in Deutschland starben 20.000 Menschen an Corona und 100.000 Obdachlose, Alte und Hilfsbedürftige an den Corona-Schutzmaßnahmen der Politik.


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