Warum eine hohe Testquote für Containment genauso wichtig ist wie eine niedrige Reproduktionszahl

Die Reproduktionszahl R gibt an, wie viele Personen ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Liegt R unter eins (R < 1), so gehen die Neuinfektionen mit der Zeit zurück. Daher wird diese Zahl aktuell sehr genau beobachtet und ihre Entwicklung bestimmt das Handeln der Politik. Das Problem an der Reproduktionszahl ist jedoch, dass zu ihrer Ermittlung nur diejenigen Infektionen herangezogen werden können, die bekannt sind. Aktuell sind das im Schnitt rund 2.500 Fälle am Tag. Darunter sind Personen, die selbst den Arzt aufgesucht haben, aber auch Befunde aus Reihenuntersuchungen oder präventiven Tests, z.B. beim medizinischen Personal. In all diesen Fällen können dann natürlich Maßnahmen eingeleitet werden, die das Infektionsgeschehen minimieren, z.B. das Aufspüren von Kontaktpersonen, die Anordnung einer Quarantäne oder Reihentestungen in der jeweiligen Umgebung des Infizierten, z.B. am Arbeitsplatz. Rund um die bekannten Infizierten sinkt dadurch die Reproduktionszahl erheblich. Wie sich allerdings das Infektionsgeschehen außerhalb dieses Hellfeldes entwickelt, kann man hieraus nicht ablesen. Vermutlich dürfte gerade im Dunkelbereich, also bei jenen Infizierten, die ohne Symptome bleiben und die auch nicht zufällig gefunden werden, die Ansteckungsrate deutlich höher sein. Das liegt zum einen daran, dass diese Personen keinerlei Verdacht auf ihre Infektion schöpfen, und zum anderen daran, dass insbesondere jüngere Menschen, die viele Kontakte haben, im Berufsleben stehen, studieren, Sport machen, diejenigen sind, die öfters ohne Symptome bleiben, vor allem natürlich Kinder. Und gerade wenn jüngere Menschen dann viele Kontakte mit Personen aus derselben Altersgruppe haben, z.B. zu Schulfreunden, Studien- oder Arbeitskollegen, kann die Reproduktionszahl in diesem Dunkelfeld, sozusagen Rdunkel, schnell und unbemerkt auf ein Vielfaches dessen steigen, was wir bei den bekannten Infektionsketten bzw. bei Rhell oder Rsichtbar beobachten. Im schlimmsten Fall, wenn die Gruppe im Hellfeld sehr groß ist, z.B. weil anfangs gezielt Urlaubsrückkehrer in Quarantäne geschickt wurden, kann es durch diese tatsächlich vorhandene Verzerrung der Reproduktionstätigkeit noch über Wochen eine spürbare Abnahme der Neuinfektionen geben, während sich unbemerkt im Hintergrund eine zweite Infektionswelle aufbaut. Möglicherweise sehen wir einen solchen Effekt momentan in Singapur. Für Deutschland ist das allerdings bisher eher unwahrscheinlich, weil ähnlich wie in der Schweiz reagiert wurde und dort bei einer guten Datenlage bislang keine zweite Infektionswelle erkennbar ist. Vermutlich haben die flächendeckenden Maßnahmen, wie Schul- und Geschäftsschließungen, auch die Kontakte der unbekannten Infizierten soweit eingeschränkt, dass Rdunkel ebenfalls nicht wesentlich über 1 oder vielleicht sogar unter 1 lag. Das wird sich in Deutschland aufgrund der zahlreichen zum Teil sehr weitgehenden Lockerungen so aber sicher nicht fortsetzen.

Kommt es dann allerdings dazu, dass Rdunkel ein gutes Stück über 1 liegt, verliert die Reproduktionszahl an Aussagekraft. Natürlich gilt weiterhin, wenn R insgesamt über 1 steigt, steht Deutschland wieder dort, wo es vor einem Monat schon einmal war, nämlich bei zunehmenden Infektionszahlen. Das möchte zwar niemand, aber bei den Bildern von Schlangen vor Baumärkten, Gedränge in Shoppingcentern und vollen Innenstädten ist das leider kein unwahrscheinliches Szenario.
Aber auch dann, wenn die Reproduktionszahl zunächst noch unter 1 bleibt, verliert die Betrachtung von R an Bedeutung für das Containment, weil der Rückgang der Infektionen im Hellfeld zunehmend durch Infektionseinträge aus dem Dunkelfeld ausgeglichen wird. Gelingt es nicht, die Zahl der unbekannten Infizierten zu verringern, wird die Reproduktionszahl damit automatisch immer wieder Richtung 1 steigen. Mit dem nachfolgendem Beispiel-Szenario wird dieser Effekt dargestellt:

Zu Beginn der Betrachtung gibt es 100 Infizierte im Hellfeld mit einem Rhell von 0,7 und daneben eine Dunkelziffer von 20 Infizierten mit einem Rdunkel von 1,5. In jeder Reproduktionsphase gelangt ein Drittel der Infizierten aus dem Dunkelfeld ins Helle. Somit bleibt die Dunkelziffer konstant bei 20 Infizierten (20 * 1,5 * 2/3) und in jeder Reproduktionsphase findet eine Eintragung von 10 Infizierten (20 * 1,5 * 1/3) aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld statt. Im Hellbereich haben wir dann nach der ersten Reproduktionsphase 70 Fälle (0,7 * 100), die sich aus dem Hellfeld selbst ergeben, plus 10 weitere Infektionen, die aus dem Dunkelfeld hinzukommen, also insgesamt 80 Fälle. Wir messen ein Rsichtbar = 0,8. In der nächsten Phase sind es im Hellfeld dann 56 plus wieder 10 Fälle aus dem Dunkelfeld, insgesamt also 66 Infizierte bzw. ein Rsichtbar = 66/80 = 0,82. Noch eine Phase später haben wir 56,2 Fälle bzw. Rsichtbar = 0,85. Das Ganze geht nun immer so weiter bis sich Rsichtbar an 1 annähert und die Zahl der täglich Neuinfizierten im Hellfeld an 33 Fälle, die sich jede Reproduktionsphase auf 23 reduzieren und durch 10 neue Eintragungen aus dem Dunkelfeld ergänzt werden.

Alleine die Tatsache, dass die Reproduktionszahl insgesamt wie auch Rsichtbar die ganze Zeit unter der magischen 1 lag, anfangs sogar recht deutlich, trägt damit noch lange nicht zu einer Situation bei, die zu einer Beendigung der Epidemie führt. Unerheblich ist dabei auch, ob Rhell im Hellfeld bei 0,7 oder 0,5 liegt oder sogar auf 0,2 gedrückt wird. Über kurz oder lang wird sich Rsichtbar wie auch die Reproduktionszahl insgesamt unweigerlich durch die Eintragungen aus dem Dunkelfeld wieder auf 1 heben und die tägliche Fallzahl wird sich auf die Eintragungen aus dem Dunkelfeld geteilt durch (1 – Rhell) einpendeln, also auf 33 Fälle bei Rhell = 0,7 bzw. 12,5 Fälle bei Rhell = 0,2.

Zur Beantwortung der Frage, ob eine Epidemie eingedämmt werden kann, reicht deshalb die Betrachtung des Hellfeldes und der Reproduktionszahl bzw. Rsichtbar nicht aus. Klar, wenn die Epidemie schon bei den bekannten Fällen außer Kontrolle ist, braucht man sich um die Dunkelziffer keine Sorgen mehr machen. Allerdings ist umgekehrt eben noch lange nicht alles gut, nur weil die sichtbare Reproduktionszahl unter 1 liegt.
Daher braucht es für jedes Containment neben der Reproduktionszahl eine weitere Kennzahl, die eine Aussage zur Entwicklung des Dunkelfeldes zulässt. Eine Möglichkeit hierfür ist die Bestimmung des Anteils der Corona-Infizierten, die positiv auf eine Infektion mit dem Coronavirus getestet wurden. Eine solche Testquote kann entweder durch repräsentative Studien ermittelt oder durch Modellrechnungen abgeschätzt werden.
Im dargestellten Beispiel-Szenario liegt die Testquote Anfangs recht hoch bei 100/120 (83%), während sie sich im Verlauf auf 33/53 also etwa 62,5% einpendelt. Die reine Prozentzahl selbst hat aber nur wenig Aussagekraft, solange die Größe des Reservoirs an Infizierten im Dunkelfeld und Rdunkel unbekannt sind. Dafür kann allerdings aus der Entwicklung der Testquote abgelesen werden, ob es „nur“ gelingt, die Fallzahlen zu senken, oder ob darüber hinaus auch immer weiter in das Duneklfeld vorgedrungen und damit ein Ende der Epidemie ermöglicht wird. Sinkt die Testquote, obwohl genügend Tests verfügbar sind und sich das Testschema nicht verändert hat, dann ist das ein deutliches Anzeichen dafür, dass sich das Infektionsgeschehen auch mit einem aktuell beobachtbaren R von 0,9 nicht auf null senken lässt, sondern sich wegen konstanter Einträge aus dem Dunkelfeld auf irgendeinem Niveau einpendelt, wie bei dem obigen Beispiel-Szenario. Oberflächlich betrachtet ist man zwar lange auf einem guten Weg in Richtung Containment. Man testet viel und findet auch viel und neben Rhell liegt sowohl die sichtbare Reproduktionszahl gut unter 1 wie auch die tatsächliche Reproduktionszahl. Aber allmählich drückt sich die Reproduktionszahl dann doch wieder gegen 1. Und auch wenn man in diesem Fall herginge und mit einem gewissen Aufwand Rhell nochmals auf 0,2 drückt, bekommt man zwar die Neuinfektionen auf 12,5 am Tag gesenkt, aber eben nicht das Problem beseitigt. Denn anstatt tiefer in das Dunkelfeld vorzudringen und das Reservoir der unbekannten Infizierten zu verkleinern, wird auf diese Weise einfach nur die Testquote gesenkt.

Für ein erfolgreiches Containment ist daher neben einer Reproduktionszahl kleiner 1 auch eine konstant hohe oder steigende Testquote unerlässlich – oder eben eine andere Maßzahl, mit der ein Rückgang der Dunkelziffer überwacht werden kann. Denn, solange es keine Herdenimmunität und keinen Impfstoff gibt, müssen auch die letzten aktiven Infizierten im Dunkelfeld gefunden worden sein oder zumindest gefunden werden können, um die Epidemie auf Dauer einzudämmen. Das heißt, es darf durchaus noch unbekannte Infizierte geben, aber es muss klar sein, dass neu auftretende Ausbrüche, egal ob durch eine Infektion aus dem Dunkelfeld oder durch eine Eintragung aus dem Ausland, immer wieder so schnell und umfassend unter Kontrolle gebracht werden können, dass sich daraus nicht wieder eine exponentielle Vermehrung ergibt. Und das gelingt eben nur, wenn ein ausreichend großer Anteil der Infizierten durch Tests gefunden wird. Daneben hat die Testquote aber auch noch aus einem anderem Grund Charme: Während man die Reproduktionszahl nur mit hohem Aufwand und sehr indirekt beeinflussen kann, ist eine Erhöhung der Testquote über die schlichte Ausweitung von Testkapazitäten und die vermehrte Durchführung von Reihentests vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen. Solange also die Reproduktionszahl unter 1 liegt und damit eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert wird, ist die Erhöhung der Testquote ein relativ einfacher und milder Ansatz, um das Infektionsgeschehen nach und nach unter Kontrolle zu bringen.

Disclaimer: Dieser Beitrag stellt ein logisches Grundproblem dar und basiert nicht auf tieferen Kenntnissen der Epidemiologie.


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