mister-ede.de » Gerichte https://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Urteil im Bremer Fußballstreit um Polizeikosten: Warum das Bundesverfassungsgericht prüfen sollte https://www.mister-ede.de/gesellschaft/bremen-polizeikosten-fussball/8823 https://www.mister-ede.de/gesellschaft/bremen-polizeikosten-fussball/8823#comments Sat, 18 May 2019 12:18:32 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8823 Weiterlesen ]]> Ende März sprach das Bundesverwaltungsgericht im Bremer Fußballstreit ein Grundsatzurteil: Der Staat darf bei sogenannten Hochrisikospielen die Kosten für zusätzliche Polizeikräfte den Fußballvereinen in Rechnung stellen. Doch was im ersten Moment absolut klar und logisch klingt, schafft bei genauerem Hinsehen doch eher Unklarheit und Durcheinander.

Gesetz hat Logik-Schwächen:

Nun muss ein Gesetz nicht logisch sein, um mit unserer Verfassung in Einklang zu stehen. Aber man muss schon einmal klar ziehen, dass hier ein Bundesland, also die Allgemeinheit, für die Polizeikosten bei einem Hochrisikospiel entschädigt werden soll, während die konkret betroffenen Anwohner rund um das Stadion genau solche Unannehmlichkeiten von gesperrten Straßen über laute Fangesänge bis hin zu Randalen ganz selbstverständlich ohne Entschädigung hinnehmen müssen. Im Gegensatz zu Bund, Ländern und Kommunen profitieren diese Anwohner nicht einmal anteilig von den dadurch fließenden Steuereinnahmen.
Und auch ein Blick auf die Kostenentstehung macht deutlich, wie kurios diese Regelung ist. Stellt der Staat eine gute Verkehrsinfrastruktur bereit, z.B. ein Stadion mit direktem Bahn- und Autobahnanschluss, wird dies zu geringeren Kosten für polizeiliche Maßnahmen führen. Wenn hingegen, so wie in Bremen, die Auswärtsfans erst quer durch die Stadt vom Hauptbahnhof bis zum Weserstadion und wieder zurück geleitet werden müssen, ist der Polizeiaufwand natürlich deutlich größer. Insofern stellt sich schon die Frage, wieso nun gerade und ausschließlich die Polizeikosten auf Werder Bremen abgewälzt werden sollen. Dieses Herauspicken eines Einzelpostens führt letztlich zu dem widersinnigen Ergebnis, dass Fußballvereine mehr zahlen müssen, wenn der Staat eine schlechte Infrastruktur bereitstellt.

Der Staat ist für den öffentlichen Raum zuständig:

Eigentlich gilt in Deutschland der Grundsatz, dass der Staat für den öffentlichen Raum zuständig ist. Er ist beispielsweise für Bau und Erhalt von öffentlichen Wegen, Parks und anderer Infrastruktur verantwortlich, muss für Sicherheit und Sauberkeit sorgen oder auch auf die Einhaltung von Umweltgrenzwerten achten. Insofern ist es schon ärgerlich, wenn öffentliche Toiletten gebührenpflichtig sind oder Anwohner in unangemessener Höhe an den Sanierungskosten von Straßen beteiligt werden. Gleichwohl lässt sich dies – zumindest solange es in einem vertretbaren Rahmen bleibt – immerhin noch mit einem ganz konkreten und ausschließlichen Nutzen für einen einzelnen Bürger begründen. Und genauso lassen sich Gebühren natürlich mit einer ganz konkreten und unmittelbaren Verantwortung eines Einzelnen begründen, wie z.B. bei der polizeilichen Begleitung von Schwertransporten. Alleine die Entscheidung des Spediteurs, einen Schwertransport loszuschicken, macht den Einsatz der Polizei erforderlich.
Im Fußball-Fall ist allerdings weder das eine noch das andere gegeben. Die Ordnung im öffentlichen Raum dient nicht alleine dem Fußballverein Werder Bremen, sondern gleichermaßen allen, die den öffentlichen Raum in diesem Moment nutzen. Das gilt für andere Geschäftstreibende genauso wie für die Bürgerinnen und Bürger, egal ob sie nun in einen Park, ein Geschäft, ein Eiscafé oder eben auch ins Stadion gehen.
Und genauso wenig kann man die Verantwortung alleine bei den Fußballvereinen abladen. Was für ein Menschenbild ist das überhaupt? Ist wirklich Werder Bremen dafür verantwortlich, dass Zuschauer ins Stadion gehen, oder ist das nicht vielmehr die freie und eigenverantwortliche Entscheidung von 40.000 Menschen? Auf jeden Fall kann man das Verhalten der Zuschauer auf dem Weg zum Stadion, von Heim- wie von Gästefans, nicht einfach dem Fußballverein Werder Bremen zurechnen. Insofern ist der Unterschied zur Toiletten-Nutzung und zum Schwertransport, dass der Polizeieinsatz im öffentlich Raum eben kein ausschließlicher Nutzen für und keine unmittelbare Verantwortung von Werder Bremen ist.

Grenzziehung unmöglich:

Fängt man mit einer willkürlichen Grenzziehung an, wie viel öffentliche Daseinsvorsorge im „Grundtarif“ enthalten ist und welche öffentlichen Leistungen nur „Premium-Kunden“ gegen gesonderte Bezahlung erhalten, öffnet man die Büchse der Pandora. Warum soll künftig nicht auch die Verkehrslenkung bei großen Handelsmessen, Formel-1-Rennen oder Rock-Festivals – alles kommerziell – eine Premium-Leistung sein, für die die Veranstalter extra zahlen müssen? Oder wieso sind 250 Beamte für ein kommerzielles sportliches Großereignis, z.B. ein ganz normales Bundesligaspiel von Werder Bremen, noch völlig in Ordnung, 750 Beamte bei einem Derby hingegen nicht mehr? Und weshalb ist eigentlich nur die Polizei gesondert zu entlohnen und nicht auch die notwendige Straßenreinigung?
Mit gutem Grund hat der Staat deshalb bislang die Finger von solchen Gebührenerhebungen gelassen. Die Club-Besitzer auf St. Pauli oder die Wirte auf dem Oktoberfest müssen also nicht gesondert dafür zahlen, dass ihre angetrunkenen Partygäste ständig mit der Polizei in Konflikt geraten. Gleichwohl zahlen Club-Besitzer, Festwirte und Werder Bremen natürlich schon etwas, nämlich ihre Steuern, und zwar entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit für Umsatz und Gewinn. Und das ist ja fair und zielführend. Denn was wäre unsere Gesellschaft, wenn der öffentliche Raum nur noch jenen vorbehalten bliebe, die ihn sich leisten könnten? Gerade mit Blick auf den Fußball drängt sich diese Frage auf. Regionalligavereine wie Rot-Weiss Essen, Waldhof Mannheim, Kickers Offenbach oder Chemnitzer FC könnten sich niemals hunderttausende Euro für ein „Risikospiel“ leisten. Sollen solche Spiele künftig dann ohne Zuschauer stattfinden? Und auch in der Zweiten Liga ist nicht jeder Verein finanziell auf Rosen gebettet. 2017 musste beispielsweise der Zweitligist TSV 1860 München Insolvenz anmelden. Sollen Derbys und attraktive Fußballspiele also bald nur noch kapitalstarken Vereinen bzw. Investoren wie Red Bull oder VW vorbehalten bleiben? Das kann niemand wollen. Der öffentliche Raum sollte deshalb weiterhin als Teil der Daseinsvorsorge jedem, reich wie arm, gleichermaßen zur Verfügung stehen.

Öffentliches Leben braucht öffentlichen Raum:

Als Gesellschaft sollten wir doch froh darüber sein, dass wir so ein buntes öffentliches Leben mit vielen Veranstaltungen haben, die unzählige Menschen anziehen, und eben auch Fußballvereine, die tausende Zuschauer im Stadion begeistern. Letztlich ist ein angesagtes Bundesligaspiel nichts weiter als ein x-beliebiges anderes Ereignis, das eine große Masse an Menschen anzieht, wie der Berlin-Marathon oder die Frankfurter Buchmesse.
Und logischerweise kann ein solches öffentliches Leben gerade nicht ausschließlich im privaten Kämmerlein stattfinden. Es braucht dafür immer auch irgendwo den öffentlichen Raum, in dem sich die Bürgerinnen und Bürger frei und sicher aufhalten und bewegen können, mindestens für An- und Abreise. Insofern müssen wir als Gesellschaft schon damit leben, dass bei Ereignissen und Veranstaltungen, die eine größere Menschenmenge anziehen, auch selbstverständlich etwas mehr Polizei notwendig ist, um genau diese Ordnung zu gewährleisten.

Vor das Verfassungsgericht?

Sollte das Gesetz in ähnlicher Form auch in anderen Bundesländern eingeführt werden, kann es für DFB, DFL und die Vereine schnell um eine mittleren bis hohen zweistelligen Millionenbetrag gehen. Es wäre daher nicht allzu verwunderlich, wenn nach dem Urteil nun das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe angerufen würde. Nachdem die Frage, wofür der Staat in Bezug auf den öffentlichen Raum originär zuständig ist, ganz zentral mit Hinblick auf unser Gemeinwesen und Zusammenleben ist, wäre es aber auch grundsätzlich wünschenswert, wenn dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichts noch einmal von Karlsruhe geprüft würde.


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Ist der Beschluss des EU-Parlaments zum Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn rechtens? https://www.mister-ede.de/politik/artikel-7-verfahren-ungarn/8727 https://www.mister-ede.de/politik/artikel-7-verfahren-ungarn/8727#comments Thu, 13 Sep 2018 10:35:58 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8727 Weiterlesen ]]> Gestern stimmte das Europaparlament über die Einleitung eines Artikel-7-Verfahrens gegen Ungarn ab. 448 Parlamentarier waren dafür, 197 dagegen und 48 enthielten sich. Um 13:10 Uhr war es dann soweit und Parlamentspräsident Antonio Tajani sprach das magische Wort: „Angenommen“. Doch Zweifel sind angebracht, ob das tatsächlich stimmt. Aber der Reihe nach.

Verletzt ein EU-Land die grundlegenden Werte der EU, die in Artikel 2 des EU-Vertrags (EUV) festgehalten sind, kann die EU ein Verfahren gegen das betreffende EU-Land einleiten. Die maßgeblichen Vorschriften hierzu sind in Art. 7 EUV festgehalten, woraus sich auch der Name für das Artikel-7-Verfahren ableitet. In Gang gesetzt werden kann das Verfahren vom Rat, von der EU-Kommission oder wie in diesem Fall vom Europäischen Parlament. Allerdings gelten für die Einleitung des Verfahrens strenge Vorschriften, die in Art. 354 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) zu finden sind [1]. Dort heißt es: „Für die Zwecke des Artikels 7 des Vertrags über die Europäische Union beschließt das Europäische Parlament mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen“. Soweit so einfach, doch nun wird es kompliziert.

Im Normalfall werden im Europaparlament als abgegebene Stimmen nur Ja- oder Nein-Stimmen gewertet. Das sieht die Geschäftsordnung des Europaparlaments in Artikel 178 Absatz 3 so vor („Für die Annahme oder Ablehnung eines Textes werden nur die abgegebenen Ja- und Nein‑Stimmen bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses berücksichtigt“) [2]. Wendet man diese Regel an, dann haben 448 von 645 (448 + 197) Abgeordneten für den Antrag gestimmt, also 69,46% und damit mehr als Zweidrittel.
Allerdings geht der Satz in Artikel 178 Absatz 3 noch weiter und zwar wie folgt: „ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist.“ Wenn es also in den Verträgen, z.B. im EUV oder auch im AEUV, eine konkrete Vorgabe gibt, dann soll das vorher gesagte gerade nicht mehr gelten – es sollen offenkundig also nicht nur die Ja- und Nein-Stimmen bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses berücksichtigt werden. Eine andere Auslegung dieser Vorschrift macht keinen Sinn, denn sonst wäre der Satz schlicht überflüssig.

Wie oben bereits erwähnt, ist nun aber in Art. 354 AEUV für alle Abstimmungen im Europaparlament rund um das Artikel-7-Verfahren eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen vorgesehen. Das ist eine genau spezifizierte Mehrheit, weshalb es aus meiner Sicht folgerichtig wäre, entsprechend der vorgenannten Regelung in der Geschäftsordnung mindestens die Enthaltungen und vielleicht sogar ungültige Stimmen bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses zu berücksichtigen. Ungültige Stimmen gab es keine, dafür aber 48 Enthaltungen. Und berechnet man jetzt das Ergebnis, so haben 448 von 693 (448 + 197 + 48) Abgeordneten für die Einleitung des Verfahrens gestimmt, was nur 64,65% entspricht. Die notwendige Zweidrittelmehrheit wäre bei dieser Auslegung nicht mehr erreicht.

Je nach Auslegung der entsprechenden rechtlichen Vorschriften, hat das EU-Parlament also knapp für bzw. knapp gegen die Einleitung eines Artikel-7-Verfahrens gestimmt. Es wäre daher nicht verwunderlich, wenn Ungarn, wie gestern bereits angedeutet, vor den EuGH zieht, um die Rechtmäßigkeit des Parlamentsbeschlusses überprüfen zu lassen. Die Frage, die die Richter in Luxemburg in diesem Fall zu klären hätten, dürfte sich dann letztlich darum drehen, was genau mit „abgegebenen Stimmen“ in Art. 354 AEUV gemeint ist. Schon innerhalb Deutschlands ist das nicht ganz einheitlich geregelt und EU-weit ist das sicher ähnlich. Die Erfolgsaussichten einer solchen Klage schätze ich daher als durchaus gegeben ein, denn sowohl für die eine wie auch die andere Rechtsauffassung gibt es gute Argumente.


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Polen, quo vadis? (www.mister-ede.de – 31.01.2016)


[1] Artikel 354 AEUV (Link zum Gesetzestext auf dejure.org)

[2] Artikel 178 Geschäftsordnung des EP (Link zum entsprechenden Artikel auf www.europarl.europa.eu)

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Bundestagswahlrecht: Vom Verfassungsgericht bis zum Riesen-Parlament https://www.mister-ede.de/politik/bundestagswahlrecht-bverfg/8714 https://www.mister-ede.de/politik/bundestagswahlrecht-bverfg/8714#comments Fri, 10 Aug 2018 19:48:23 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8714 Weiterlesen ]]> Es ist schon eine peinliche Situation: Alle Parteien wissen, dass die Wahlrechtsreform von 2013, durch die es zu einer massiven Aufblähung des Bundestages kommen kann, ein echter Griff ins Klo war. Und trotzdem ist eine Lösung des Problems bis heute nicht in Sicht. Aber dafür gibt es Gründe:

Noch immer beharren viele Parlamentarier auf einer zum Teil mutwilligen Fehlinterpretation des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte am 25.7.2012 zwar geurteilt, dass das bis dahin geltende Bundestagswahlrecht verfassungswidrig sei [1]. Doch liest man sich das Urteil des Zweiten Senats durch, wird einem schnell klar, dass den Verfassungsrichtern die vorhandenen Zielkonflikte (Wahlrechts-Trilemma) sehr bewusst waren. Sie sehen und benennen diese und lassen dem Gesetzgeber deshalb auch einen angemessenen Spielraum, um bei der Gestaltung des Wahlrechts zwischen den verschiedenen Zielen abwägen zu können.
Die Richter geben den Klägern zwar insoweit Recht, als die Gleichheit der Wahl ein hohes Gut ist und deshalb eine korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses notwendig sei. Allerdings schränken sie diesen Grundsatz mit Hinblick auf die Zielkonflikte auch ein: Zum einen darf es, wenn es sich nicht vermeiden lässt, bis zu einem gewissen Maße Abweichungen von der korrekten Abbildung des Zweitstimmenergebnisses geben. Wenn damit andere wichtige Ziele verfolgt werden und die Maßnahmen wirksam sind, können solche Einschränkungen also zulässig sein. Zum anderen muss das Wahlgesetz die Einhaltung dieses Grundsatzes auch nur für solche Wahlergebnisse sicherstellen, die objektiv auch eine gewisse Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Wenn es also bei einem Ausnahme-Wahlergebnis zu einer nicht ganz korrekten Abbildung des Zweitstimmenergebnisses käme, kann das durchaus vertretbar sein.

Damit haben die Verfassungsrichter ein sehr bedachtes Urteil gefällt. Und letztlich wäre es auch verwunderlich gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite eine 5%-Hürde tolerieren würde, durch die 2013 deutlich über 10% der Zweitstimmen gar keinen Einfluss auf die Sitzverteilung im Bundestag hatten, aber dann auf der anderen Seite für die restlichen 90% eine haargenaue Abbildung des Zweitstimmenergebnisses ohne irgendwelche Ausnahmen einfordern würde.
Gleichwohl, auf politischer Ebene hat sich bei zahlreichen Parlamentariern eine andere Lesart des Urteils etabliert. Die korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses hat für diese Abgeordneten nun höchste Priorität und folgerichtig sind andere Bestandteile des Wahlrechts, z.B. die garantierten Sitze für die Direktkandidaten, oder eben auch das Ziel einer Größenbeschränkung des Bundestages nachrangig. Und tatsächlich hat sich diese Haltung bei der Neugestaltung des Wahlrechts am Ende auch durchgesetzt. Das kurz vor der Bundestagswahl 2013 verabschiedete Wahlgesetz ist jetzt so gestaltet, dass das Zweitstimmenergebnis stets korrekt abgebildet wird, allerdings zum Preis, dass aktuell eben 709 statt 598 Abgeordnete im Parlament sitzen – und bei kommenden Wahlen könnten es auch noch deutlich mehr werden.

Entsprechend gibt es seit der Bundestagswahl 2013 Bestrebungen, das Wahlgesetz einer neuerlichen Reform zu unterziehen. So forderte beispielsweise der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert die Fraktionen bereits in der ersten Sitzung des letzten Bundestages auf, eine Lösung zu erarbeiten [2]. Doch seitdem ist es trotz zahlreicher Anläufe noch immer nicht gelungen, die Parlamentarier zu einem vernünftigen Kompromiss zu bringen. Und daran wird sich vermutlich auch nichts ändern, solange größere Teile des Parlaments weiter auf ihrer Fehlinterpretation des Verfassungsgerichtsurteils beharren und die korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses unter keinen Umständen aufgeben wollen. Es bleibt daher abzuwarten, ob der erneute Versuch, dieses Mal von Wolfgang Schäuble initiiert [3], endlich zu einem brauchbaren Ergebnis führt.


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[1] Urteil des Zweiten Senats des BVerfG zum Bundestagswahlrecht vom 25.7.2012 (Link zum Urteil auf www.bundesverfassungsgericht.de)

[2] Bericht des Bundestages zur konstituierenden Sitzung 2013 (Link zum Bericht auf www.bundestag.de)

[3] Artikel des Tagesspiegel vom 25.07.2018 zur geforderten Wahlrechtsreform (Link zum Artikel auf www.tagesspiegel.de)

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Das EuGH-Urteil zur Flüchtlingsverteilung – eine Einordnung https://www.mister-ede.de/politik/eugh-fluechtlingsverteilung/8498 https://www.mister-ede.de/politik/eugh-fluechtlingsverteilung/8498#comments Wed, 13 Sep 2017 19:47:57 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8498 Weiterlesen ]]> Vergangene Woche entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass sich Ungarn und die Slowakei an der Umverteilung von Flüchtlingen aus Griechenland und Italien beteiligen müssen. Ausnahmen gibt es damit weiterhin nur für Dänemark und Großbritannien, die sich im EU-Vertrag garantieren haben lassen, nicht an der EU-Flüchtlingspolitik teilnehmen zu müssen.

Das Urteil [1] einfach erklärt:

Am 14. September 2015 beschloss der Rat der EU auf Basis von Art. 78 III AEUV (Vertrag über die Arbeitsweisen der EU) mit qualifizierter Mehrheit eine Umverteilung von 120.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien in andere Teile der EU [2]. Gegen diesen Beschluss klagten die beiden EU-Länder Slowakei und Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Vergangene Woche urteilte nun der EuGH, dass der damalige Beschluss inhaltlich und formal korrekt war.
Im September 2015 bestand tatsächlich eine Notlage in Griechenland und Italien und deshalb durfte der Rat der EU nach Art. 78 III AEUV Maßnahmen zur Abhilfe beschließen. Diese Maßnahmen waren aus Sicht des EuGH nicht erkennbar ungeeignet, um Griechenland und Italien zu helfen, und verletzten auch kein sonstiges EU-Recht. Außerdem stellte der EuGH klar, dass für diesen Beschluss keine Einstimmigkeit der EU-Länder erforderlich war, sondern lediglich eine qualifizierte Mehrheit (siehe Art. 16 III und IV EU-Vertrag). Aus diesen Gründen war der Beschluss des Rates der EU rechtmäßig und der EuGH hat die entsprechenden Klagen der Slowakei und Ungarns zurückgewiesen.

Was das Urteil bedeutet:

Das Urteil des EuGH bedeutet zunächst, dass der Rat der EU in einer Notlage eine Umverteilung von Flüchtlingen beschließen darf und sich dann alle EU-Länder daran beteiligen müssen. Ungarn und die Slowakei müssen also ihren Teil der Flüchtlinge aus Italien und Griechenland übernehmen. Aber auch für Deutschland bedeutet das Urteil, dass sich die Bundesregierung rechtswidrig verhalten würde, wenn sie den Beschluss des Rates der EU nicht wie gefordert umsetzt. Bislang hat Deutschland allerdings erst 7.852 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufgenommen, obwohl es bis Herbst 2017 rund 30.000 Flüchtlinge übernehmen sollte [3]. Nachdem es aber auch Probleme in Italien und Griechenland gibt, geeignete Personen für eine solche Umverteilung zu identifizieren, dürfte das Urteil vorerst keine direkten Auswirkungen auf die Geschwindigkeit der Umverteilung haben.

Was das Urteil nicht bedeutet:

Das Urteil des EuGH bedeutet nicht, dass die EU künftig auch gegen den Willen eines EU-Landes eine dauerhafte Umverteilung von Flüchtlingen beschließen darf. Nur bei Notlagen kann auf die Einstimmigkeit verzichtet werden. Um für die Zukunft daran etwas zu ändern, müssten die EU-Verträge geändert werden, was jedoch ebenfalls zwingend jene Einstimmigkeit aller EU-Länder voraussetzt, die es zurzeit nicht gibt. Aber auch in einer Notlage getroffene Umverteilungs-Beschlüsse dürften wieder vor dem EuGH landen. Denn ob tatsächlich eine Notlage vorliegt, kann immer nur im konkreten Einzelfall geprüft werden.
Das Urteil bedeutet daher nicht, dass sich an der bisherigen EU-Flüchtlingspolitik etwas ändert oder gar dass diese solidarischer oder humaner wird.

Bewertungen des Urteils:

Wenn von einer Niederlage Ungarns und der Slowakei in Bezug auf die EU-Flüchtlingspolitik gesprochen wird, so ist das de facto falsch. Zwar haben Ungarn und die Slowakei den Rechtsstreit bezüglich dieses einen Beschlusses verloren, allerdings haben sie längst für eine Änderung der EU-Flüchtlingspolitik in ihrem Sinne gesorgt. Die EU schottet sich massiv ab und Ungarn und die Slowakei oder auch Polen müssen nur wenige Flüchtlinge aufnehmen. Überdies haben die beiden EU-Länder mit Hilfe der Klage klären können, dass der Rat der EU nicht einfach gegen ihren Willen eine dauerhafte Umverteilung beschließen und schon gar nicht die Aufnahme von Flüchtlingen aus Drittstaaten erzwingen kann. Insofern muss man konstatieren, dass sich die ungarische, die slowakische und die polnische Regierung mit ihrer Haltung zur Flüchtlingspolitik weitestgehend durchgesetzt haben.
Nachdem sich aber an der Blockade-Haltung der Visegrád-Staaten in nächster Zeit nichts ändern wird, bleibt für die Entwicklung hin zu einer echten gemeinsamen Asylpolitik in der EU nur der Weg über eine verstärkte Zusammenarbeit einiger EU-Länder.


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[1] Urteil des EuGH vom 06.09.2017 (Link zum Urteil auf curia.europa.eu)

[2] Beschluss des Rates der EU vom 22.09.2015 (Link zum Beschluss auf eur-lex.europa.eu)

[3] Mitteilung der EU-Kommission zum aktuellen Stand (06.09.2017) der Umverteilung abgerufen am 13.09.2017 (PDF mit aktualen Zahlen auf ec.europa.eu)

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Zugunglück von Bad Aibling: Wie viel Schuld trägt das System Bahn? https://www.mister-ede.de/politik/bad-aibling-das-system-bahn/4808 https://www.mister-ede.de/politik/bad-aibling-das-system-bahn/4808#comments Wed, 24 Feb 2016 13:49:26 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4808 Weiterlesen ]]> Nach dem Zugunglück von Bad Aibling gehen die Unfallermittler inzwischen davon aus, dass die Katastrophe durch eine Fehlentscheidung des zuständigen Fahrdienstleiters ausgelöst wurde. Dieser hatte nach den bisherigen Erkenntnissen die einspurige Strecke zeitgleich für zwei Züge freigegeben und ist damit juristisch wohl für das Geschehen verantwortlich zu machen. Dennoch wäre es falsch, das Unglück alleine auf diesen verhängnisvollen Fehler eines Einzelnen zu verkürzen und die Frage, wie viel Schuld das „System Bahn“ trägt, vollständig auszublenden.

So ist zum Beispiel offensichtlich, dass es ohne vorausgegangene Verspätung niemals zu diesem Unglück gekommen wäre. Wie oft kommt es am Tag also vor, dass ein Fahrdienstleister Sicherheitssysteme übergehen muss, um Verspätungen auszubügeln? Am Ende nützt es ja wenig, wenn die Strecken in der Theorie zwar mit Sicherheitstechnik ausgestattet sind, diese dann aber in der Praxis regelmäßig abgeschaltet wird. Eine Frage, die sich deshalb nach dem Unfall in Bad Aibling stellt, ist, ob die Bahn tatsächlich alles unternimmt, um solche Situationen in den Stellwerken gar nicht erst entstehen zu lassen, oder ob so etwas z.B. für einen straffen Fahrplan oder eine hohe Streckenauslastung billigend in Kauf genommen wird.
Ähnlich wie in manchen Krankenhäusern auf Kosten der Patientenversorgung die Personaldecke dünn gehalten und dann bei Fehlern auf die Verantwortung des einzelnen Mitarbeiters verwiesen wird, könnte auch die Bahn als Netzbetreiber geneigt sein, ihre Infrastruktur schleifen zu lassen und die Verantwortung still und leise in die Stellwerke abzuschieben. Kommen also solche Situationen aufgrund von Beeinträchtigungen an den Strecken, z.B. Langsamfahrstellen, häufiger vor, so dass ein folgenschwerer Fehler nur eine Frage der Zeit war?

Möglicherweise stand aber auch der Fahrdienstleister unter Druck, weil sich die morgendliche Verspätung an diesem eingleisigen Abschnitt auf den übrigen Verkehr, z.B. nachfolgende Züge oder andere Strecken, auszuwirken drohte. Ist die Strecke womöglich ein Nadelöhr, das in den Morgenstunden zu stark ausgelastet ist, um im Falle von Verspätungen noch flexibel und sicher reagieren zu können?
Neben der reinen Schieneninfrastruktur sollte nach einem so schweren Unglück allerdings auch die verwendeten Steuerungs- und Sicherungstechnik kritisch hinterfragt werden. Ist sie in Zeiten von GPS und Digitalisierung oder im Hinblick darauf, dass man Züge direkt miteinander kommunizieren lassen könnte, noch aktuell [1]? Bieten die Anzeigen in den Stellenwerken auch in hektischen Situationen ausreichend Überblick und sind die Warnungen und Hinweise im Falle eines nahenden Unglücks tatsächlich ausreichend?

Natürlich wird der Fahrdienstleister, wenn er z.B. fahrlässig gehandelt hat, die Verantwortung für sein Handeln tragen müssen, allerdings kann man es beruhigt der Justiz überlassen, das zu ermitteln und zu beurteilen. Aufgabe von Politik und Medien wäre es hingegen, die zweite Ebene zu beleuchten, also die Frage, ob auch das „System Bahn“ zu dem Unglück beigetragen hat und somit eine gewisse Mitschuld trägt. Denn sofern die verschiedenen Bahnunternehmen die gültigen Vorschriften eingehalten haben, entziehen sich solche Fragen meist gänzlich der juristischen Aufarbeitung.
Aus diesem Grund hätte man auch vom Bundesverkehrsminister erwarten dürfen, zumindest wenn er nicht gerade Alexander Dobrindt hieße und von der CSU wäre, dass er nach dem Unglück genau hier ansetzt und hinterfragt, ob beispielsweise die vom Gesetzgeber gemachten Sicherheitsvorgaben noch zeitgemäß sind oder die Infrastruktur mittlerweile an ihre Grenzen stößt. Allerdings haben sich auch zahlreiche Medien einfach damit begnügt, einen mutmaßlich verantwortlichen Fahrdienstleister zu haben, den sie zum Mittelpunkt der Berichterstattung machen können. Ob so aber das „System Bahn“ nach dem Zugunglück von Bad Aibling ausreichend auf Schwächen hin untersucht wird, ist aus meiner Sicht zumindest fraglich.


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Nachgefragt: Fragen an die Bahn AG nach dem Zugunglück von Bad Aibling (www.mister-ede.de – 24.02.2016)


[1] Beitrag des BR vom 23.02.2016 zu alternativen Sicherheitstechniken (Link zum Beitrag auf www.br.de)

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Datenschutz-PR: Was für ein Apfeltheater https://www.mister-ede.de/medien/datenschutz-apfeltheater/4794 https://www.mister-ede.de/medien/datenschutz-apfeltheater/4794#comments Sun, 21 Feb 2016 10:42:07 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4794 Weiterlesen ]]> Wenn es den angebissenen Äpfeln darum geht, die eigenen Dienste und Produkte zu vermarkten, kann keine Bühne groß genug und keine Show zu teuer sein. Entsprechend kostet auch Apples neuester Werbegag nichts weniger als die Rechtsstaatlichkeit und möglicherweise gar Menschenleben. So weigerte sich der US-amerikanische Konzern bislang, staatlichen Stellen den Zugriff zu den verschlüsselten Handydaten eines Terroristen zu verschaffen.

Dabei darf allerdings der Hinweis des Unternehmens, man wolle auf diese Weise eine Debatte ermöglichen, lediglich als Coup der PR-Abteilung betrachtet werden. Denn, wohl kein vernünftiger Mensch käme je auf die Idee, irgendeine privatwirtschaftliche Absprache höher zu gewichten als die Gesetze eines Rechtsstaats. Gleichzeitig wäre es auch absurd, wenn mit einem richterlichen Beschluss zwar die Wohnräume einer Person durchsucht werden dürften, nicht jedoch die online gespeicherten Inhalte. Falls also nicht gerade eine Gesetzeslücke besteht, muss ein Dienstanbieter natürlich staatlichen Stellen in einer solchen besonderen Situation Zugang zu jenen Daten verschaffen, die für diesen Dienstanbieter erreichbar sind.
Zwar kann es dann im Rahmen der Gesetze noch weitere Einschränkung geben, z.B. um sensible Daten von Ärzten zu schützen, allerdings lässt sich auch daraus nicht ableiten, dass Dienstanbieter grundsätzlich nicht zur Zusammenarbeit verpflichtet seien.

Nun könnte man festhalten, dass Apple mit dieser Debatte lediglich heiße Luft produziert hat, was bei Werbung oder PR nicht gerade eine Seltenheit ist – man denke an all die CSR-Kampagnen von VW. Allerdings wirft der US-Konzern mit seiner PR ungewollt dann doch eine Frage auf, die im Rahmen der Safe-Harbor-Diskussion in der EU durchaus Brisanz hat. Denn was macht Apple eigentlich mit seinen an US-Recht gebundenen Rechenzentren, wenn die Vereinigten Staaten in datenschutzrechtlicher Hinsicht künftig nicht mehr als sicherer Hafen eingestuft werden können? Auch für Apple droht damit das US-Recht zumindest in Bezug auf den europäischen Markt zu einem erheblichen Standortnachteil zu werden und so muss sich das Unternehmen fragen lassen, ob es abseits schöner Werbekampagnen auf eine solche Entwicklung tatsächlich vorbereitet ist.


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Polen, quo vadis? https://www.mister-ede.de/politik/polen-quo-vadis/4741 https://www.mister-ede.de/politik/polen-quo-vadis/4741#comments Sun, 31 Jan 2016 20:46:42 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4741 Weiterlesen ]]> Vor einem Vierteljahr hat sich die Bevölkerung Polens bei den Parlamentswahlen mehrheitlich für eine streng nationalkonservative Partei, die PiS um Jaroslaw Kaczyński, entschieden. Nachdem bereits im Frühjahr 2015 der Nationalkonservative Andrzey Duda zum polnischen Präsidenten gewählt wurde, ist damit nun auch die Regierung Polens fest in der Hand der PiS, die überdies auch in der zweiten Kammer des Landes, dem Senat, die Mehrheit stellt.
Welche Folgen diese politische Veränderung für Polen hat, konnte man dann auch schon kurz nach der Regierungsübernahme sehen, als neue Mediengesetze erlassen wurden und der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Sinne der Nationalisten ausgemistet und mit dem Rauswurf kritischer Journalisten auf Parteilinie gebracht wurde. Seitdem jagt eine bedenkliche Entscheidung die nächste, zuletzt beispielsweise die Entmachtung der unabhängigen Generalstaatsanwaltschaft und die Übertragung ihrer Aufgaben an den von der PiS gestellten Justizminister [1]. Nun könnte man einwenden, dass solche Gesetze in einem Rechtsstaat vom Verfassungsgericht überprüft werden können, doch auch hier wurde die PiS bereits aktiv und hat das Gericht zum einen umbesetzt und zum anderen bis zur Arbeitsunfähigkeit reformiert [2].

Nach Ungarn ist damit ein zweites Land auf einem Kurs, der sich nur schwer mit den freiheitlich-demokratischen Vorstellungen der EU vereinbaren lässt. Zwar vermag ich nicht abzuschätzen, welche der beiden Regierungen dabei weiter über die Grenzen des Vertretbaren hinausgeht oder künftig noch hinausgehen will, allerdings ist in Bezug auf Polen besonders die Geschwindigkeit besorgniserregend, mit der das Land den Boden europäischer Werte verlässt. Die EU, aber auch die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, müssen daher im Interesse dieser europäischen Werte dringend dafür sorgen, dass Polen künftig genau zwei Optionen hat: Sich entweder an geltendes europäisches Recht zu halten oder von der EU suspendiert zu werden.
Nur wenn das absolut klar ist und auch konsequent umgesetzt wird, dürfte es eine Chance geben, dass sich die Nationalkonservativen in Polen zusammenreißen. Denn ob die Mehrheit der Polen noch immer so begeistert vom Kurs ihrer Regierung wäre, wenn als Konsequenz Milliarden an EU-Fördergeldern wegfallen und der Ausschluss aus der EU droht, halte ich für fraglich.
Sollte sich die EU jedoch als Papiertiger entpuppen, werden nicht nur die Nationalisten in Polen diese Schwäche zu nutzen wissen und das Wertefundament der EU untergraben. Auch deshalb dürfen Einschränkungen der Grundrechte, der unabhängigen Justiz oder der Medien- und Pressefreiheit in Polen keinesfalls toleriert werden.

Zwar bliebe auch bei einem solch konsequenten Vorgehen der EU abzuwarten, ob die polnische Regierung dann auf einen Kurs entlang der Grenze des Zulässigen einschwenkt oder weiter mit klaren Rechtsbrüchen die offene Konfrontation sucht, aber zumindest wäre deutlich, dass die EU ihre Werte und Grundsätze verteidigt. Regierung und Bevölkerung Polens müssten sich entsprechend darauf einstellen, dass das Land bei weiteren Verstößen gegen europäische Normen eben auf eine Mitgliedschaft in der EU verzichten muss.


[1] Tagesschau Artikel vom 29.01.2016 zur Justizreform in Polen (Link zum Artikel auf www.tagesschau.de)

[2] Artikel auf Spiegel-Online vom 23.12.2015 zu den Reformen des Verfassungsgerichts (Link zum Artikel auf www.spiegel.de)

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Glossar: Gewaltenteilung https://www.mister-ede.de/politik/gewaltenteilung/4078 https://www.mister-ede.de/politik/gewaltenteilung/4078#comments Sat, 01 Aug 2015 08:00:24 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4078 Weiterlesen ]]> Die Gewaltenteilung ist ein Konzept der Staatsgestaltung, nach welchem die Staatsgewalt auf unterschiedliche Staatsorgane verteilt wird, um einen Machtmissbrauch zu verhindern. Durch die Aufteilung wird einer Machtkonzentration bei einzelnen Personen oder Gremien vorgebeugt und ein System gegenseitiger Kontrolle ermöglicht. Die heute übliche Aufteilung der Staatsgewalt in Exekutive (ausführende Gewalt / Regierung), Legislative (gesetzgebende Gewalt / Parlament) und Judikative (Recht sprechende Gewalt / Gerichte) geht dabei auf Werke von Locke und Montesquieu im 17. und 18. Jahrhundert zurück.

Die Ausgestaltung der Gewaltenteilung in den demokratischen Staaten ist allerdings höchst unterschiedlich. So können Richter von der Bevölkerung gewählt oder von Regierungen ernannt sein, die Regierungen selbst können direkt oder indirekt gewählt werden und Staatsoberhäupter können Königinnen und Könige oder gewählte Repräsentanten sein.
Dazu kommen auch noch unterschiedliche Varianten der Machtteilung innerhalb der einzelnen Gewalten, z.B. durch eine Aufteilung der Staatsgewalt in Bund und Bundesländer mit jeweils eigenen Zuständigkeiten.


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Glossar: Judikative (Recht sprechende Gewalt / Gerichte) https://www.mister-ede.de/politik/judikative/4085 https://www.mister-ede.de/politik/judikative/4085#comments Sat, 01 Aug 2015 08:00:16 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4085 Weiterlesen ]]> Die Judikative ist die Recht sprechende Gewalt eines Staates. Die Staatsorgane, welche in einem Rechtsstaat für diese Gewalt zuständig sind, werden als Gerichte bezeichnet.

Im Rahmen des Konzepts der Gewaltenteilung wird die Judikative getrennt von der gesetzgebenden Gewalt (Legislative) und der ausführenden Gewalt (Exekutive) wahrgenommen. Sie ist für die Rechtsprechung im Namen des Staates (Volkes) und die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns zuständig.
Organisatorisch kann die Judikative hierzu zwar in unterschiedliche Ebenen unterteilt werden, aufgrund des Gleichheitssatzes innerhalb eines Rechtsstaates muss jedoch immer gelten, dass das höherrangige Recht das niedere Recht bricht bzw. Urteile der unteren Ebene durch eine höhere Ebene aufgehoben werden können. Wäre dem nicht so und würde z.B. in Deutschland das Landesrecht das Bundesrecht brechen bzw. wären die Landesverfassungen dem Grundgesetz der BRD übergeordnet, dann wäre Deutschland kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund. Das heißt allerdings nicht, dass in jedem Bundesland alle Regelungen gleich sein müssen, es heißt nur, dass sich alle Regelungen am GG und damit dem Verfassungsrecht des Bundes messen lassen müssen.

Für die Ausgestaltung der Judikative gibt es auch in Rechtsstaaten zahlreiche Möglichkeiten, jedoch muss stets eine weitestgehende Unabhängigkeit von den anderen staatlichen Gewalten gewährleistet sein. Neben dem Wahl- und Ernennungsverfahren können sich die Zusammensetzung der Gerichte, die Beteiligung von Bürgern, z.B. als Schöffen oder in den USA als Jury, oder Verfahrensformen unterscheiden.

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Recht irrsinnig: Musterentscheid zu HRE-Schadensersatz https://www.mister-ede.de/wirtschaft/musterentscheid-zur-hre/3272 https://www.mister-ede.de/wirtschaft/musterentscheid-zur-hre/3272#comments Wed, 17 Dec 2014 17:55:01 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=3272 Weiterlesen ]]> In seinem Musterentscheid hat das OLG München am Montag festgestellt, dass die HRE ehemaligen Aktionären Schadensersatz wegen falscher Informationen zur Situation der Bank im Zeitraum vor ihrem Zusammenbruch zahlen muss [1]. Ein solcher Richterspruch zeigt einmal mehr, wie irrsinnig Recht doch sein kann, denn so muss am Ende der Retter der Bank selber doppelt bluten. Nicht nur, dass der Staat auf den Milliardenkosten der damaligen HRE-Rettung sitzen bleibt, wird der Steuerzahler am Ende auch noch jenen Eigentümern der HRE, die zuvor für diesen Milliardenschaden mitverantwortlich waren, eine Entschädigung zahlen müssen.

Zwar gilt diese Entscheidung nur für jene, die HRE-Aktien zwischen dem Zeitpunkt der Falschinformation Mitte 2007 und der Richtigstellung Anfang 2008 erworben haben, aber hier stellt sich schon die Frage, ob der Verkäufer der Aktien in diesen Fällen die HRE war oder schlicht ein anderer Eigentümer. Hat Onkel Alfred seine HRE-Anteile im Jahr 2006 gekauft und gehalten, ist er nach dem Musterentscheid nicht schadensersatzberechtigt. Hat er die Anteile hingegen 2007 an Tante Berta verkauft, kann diese dann ihren Schaden geltend machen. Allerdings soll dann nicht Alfred, der als Miteigentümer zum Zeitpunkt des Verkaufs für die falsche Information mitverantwortlich ist und auch von ihr profitierte, den Schaden von Berta begleichen, sondern die HRE, die an diesem Verkauf gar nicht beteiligt war, bzw. der Steuerzahler als ihr jetziger Eigentümer. Ähnlich wäre es, eine Schrottimmobilie, die man zu einem zu hohen Preis gekauft hat, günstiger zu verkaufen und sich den Schaden, bzw. die Preisdifferenz, von diesem Käufer dann ersetzen zu lassen.

Daneben stellt sich die Frage, ob die Verstaatlichung nicht auch eine Insolvenz darstellt, bei der die Ansprüche der Eigentümer als letztes zu bedienen sind. Nachdem der Schaden der Aktionäre durch die Fehlinformationen bis 2008 entstand, und damit die Schadensersatzansprüche auf einen Zeitpunkt vor der Verstaatlichung fallen, müssten diese Ansprüche aus dem Aktienbesitz entsprechend der üblichen Haftungsreihenfolge eigentlich nachgeordnet werden. Erst wenn alle Forderungen der Fremdkapitalgeber erfüllt sind und der Staat seine Hilfsgelder vollständig zurückerhalten hat, kann das restliche Vermögen unter den Eigenkapitalgebern verteilt werden, sofern dann noch etwas vorhanden ist.

Außerdem hat ja auch nicht die Rettung des Bundes den Schaden bei den Aktionären versursacht, sondern umgekehrt hat der von der HRE verschwiegene Milliardenschaden, der durch Fehlspekulation entstand, die Hilfsmaßnahmen des Bundes erst notwendig gemacht. Durch einen Schadensersatz würden somit die Aktionäre jener Bank, die den Staat zur Abwehr von Schäden für die Fremdkapitalgeber zum Eingreifen zwang, noch zusätzlich für den Schaden bei sich als Eigenkapitalgeber entschädigt werden. Statt einer Eigentümerhaftung steht damit am Ende dieser irrsinnigen Rechtslage die Eigentümerentschädigung.

Die HRE wird nun vor dem BGH gegen diesen Musterentscheid vorgehen, aber sofern der Tatbestand der Fehlinformation bestätigt wird, dürften die HRE und damit der Steuerzahler als aktueller Eigentümer nicht um die Schadensersatzleistung herumkommen. Zu hoffen bleibt allerdings, dass die Höhe des Schadensersatzes auf den Teil des Schadens beschränkt bleibt, der nachweislich auf die Falschinformation zurückzuführen ist. Sowohl überhöhte Kaufpreise sind dem Käufer anzulasten, als auch Kursverluste die auf anderen Ursachen beruhen. Kauft jemand ungeschickterweise eine Aktie zu ihrem Höchststand, entsteht der Verlust ja nicht durch eine Fehlinformation, sondern durch den falschen Zeitpunkt des Erwerbs.

Des Weiteren sollte diese Musterentscheid aber auch zeigen, wie notwendig bei der aktuellen Rechtslage die Einführung einer Finanztransaktionssteuer ist, damit jene, die vom Finanzmarkt oder von der auf das Eigenkapital begrenzten Haftung profitieren, zumindest auch an den gesellschaftlichen Folgekosten beteiligt werden, die solche Gestaltungsformen mit sich bringen.


Weiterführende Links zum HRE-Verfahren auf dejure.org


[1] Kurzmeldung bei C.H.Beck vom 15.12.2014 (Link zur Meldung bei beck-aktuell.beck.de)

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