Zugunglück von Bad Aibling: Wie viel Schuld trägt das System Bahn?

Nach dem Zugunglück von Bad Aibling gehen die Unfallermittler inzwischen davon aus, dass die Katastrophe durch eine Fehlentscheidung des zuständigen Fahrdienstleiters ausgelöst wurde. Dieser hatte nach den bisherigen Erkenntnissen die einspurige Strecke zeitgleich für zwei Züge freigegeben und ist damit juristisch wohl für das Geschehen verantwortlich zu machen. Dennoch wäre es falsch, das Unglück alleine auf diesen verhängnisvollen Fehler eines Einzelnen zu verkürzen und die Frage, wie viel Schuld das „System Bahn“ trägt, vollständig auszublenden.

So ist zum Beispiel offensichtlich, dass es ohne vorausgegangene Verspätung niemals zu diesem Unglück gekommen wäre. Wie oft kommt es am Tag also vor, dass ein Fahrdienstleister Sicherheitssysteme übergehen muss, um Verspätungen auszubügeln? Am Ende nützt es ja wenig, wenn die Strecken in der Theorie zwar mit Sicherheitstechnik ausgestattet sind, diese dann aber in der Praxis regelmäßig abgeschaltet wird. Eine Frage, die sich deshalb nach dem Unfall in Bad Aibling stellt, ist, ob die Bahn tatsächlich alles unternimmt, um solche Situationen in den Stellwerken gar nicht erst entstehen zu lassen, oder ob so etwas z.B. für einen straffen Fahrplan oder eine hohe Streckenauslastung billigend in Kauf genommen wird.
Ähnlich wie in manchen Krankenhäusern auf Kosten der Patientenversorgung die Personaldecke dünn gehalten und dann bei Fehlern auf die Verantwortung des einzelnen Mitarbeiters verwiesen wird, könnte auch die Bahn als Netzbetreiber geneigt sein, ihre Infrastruktur schleifen zu lassen und die Verantwortung still und leise in die Stellwerke abzuschieben. Kommen also solche Situationen aufgrund von Beeinträchtigungen an den Strecken, z.B. Langsamfahrstellen, häufiger vor, so dass ein folgenschwerer Fehler nur eine Frage der Zeit war?

Möglicherweise stand aber auch der Fahrdienstleister unter Druck, weil sich die morgendliche Verspätung an diesem eingleisigen Abschnitt auf den übrigen Verkehr, z.B. nachfolgende Züge oder andere Strecken, auszuwirken drohte. Ist die Strecke womöglich ein Nadelöhr, das in den Morgenstunden zu stark ausgelastet ist, um im Falle von Verspätungen noch flexibel und sicher reagieren zu können?
Neben der reinen Schieneninfrastruktur sollte nach einem so schweren Unglück allerdings auch die verwendeten Steuerungs- und Sicherungstechnik kritisch hinterfragt werden. Ist sie in Zeiten von GPS und Digitalisierung oder im Hinblick darauf, dass man Züge direkt miteinander kommunizieren lassen könnte, noch aktuell [1]? Bieten die Anzeigen in den Stellenwerken auch in hektischen Situationen ausreichend Überblick und sind die Warnungen und Hinweise im Falle eines nahenden Unglücks tatsächlich ausreichend?

Natürlich wird der Fahrdienstleister, wenn er z.B. fahrlässig gehandelt hat, die Verantwortung für sein Handeln tragen müssen, allerdings kann man es beruhigt der Justiz überlassen, das zu ermitteln und zu beurteilen. Aufgabe von Politik und Medien wäre es hingegen, die zweite Ebene zu beleuchten, also die Frage, ob auch das „System Bahn“ zu dem Unglück beigetragen hat und somit eine gewisse Mitschuld trägt. Denn sofern die verschiedenen Bahnunternehmen die gültigen Vorschriften eingehalten haben, entziehen sich solche Fragen meist gänzlich der juristischen Aufarbeitung.
Aus diesem Grund hätte man auch vom Bundesverkehrsminister erwarten dürfen, zumindest wenn er nicht gerade Alexander Dobrindt hieße und von der CSU wäre, dass er nach dem Unglück genau hier ansetzt und hinterfragt, ob beispielsweise die vom Gesetzgeber gemachten Sicherheitsvorgaben noch zeitgemäß sind oder die Infrastruktur mittlerweile an ihre Grenzen stößt. Allerdings haben sich auch zahlreiche Medien einfach damit begnügt, einen mutmaßlich verantwortlichen Fahrdienstleister zu haben, den sie zum Mittelpunkt der Berichterstattung machen können. Ob so aber das „System Bahn“ nach dem Zugunglück von Bad Aibling ausreichend auf Schwächen hin untersucht wird, ist aus meiner Sicht zumindest fraglich.


Ähnliche Artikel:
Nachgefragt: Fragen an die Bahn AG nach dem Zugunglück von Bad Aibling (www.mister-ede.de – 24.02.2016)


[1] Beitrag des BR vom 23.02.2016 zu alternativen Sicherheitstechniken (Link zum Beitrag auf www.br.de)

Diskussion:

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert *

*

Du kannst folgende HTML-Tags benutzen: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <strike> <strong>