mister-ede.de » Politik https://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Kompromissvorschlag für verträgliche Strompreise in Deutschland https://www.mister-ede.de/politik/kompromiss-strompreise/9320 https://www.mister-ede.de/politik/kompromiss-strompreise/9320#comments Wed, 25 Oct 2023 00:51:55 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9320 Weiterlesen ]]> Die Diskussion zur Entlastung der Unternehmen und Endverbraucher von den hohen Strompreisen in Deutschland hat bislang zu keinem konsensfähigen Ergebnis geführt. Es ist jedoch offenkundig, dass der hohe Strompreis zahlreichen Unternehmen, von kleinen Betrieben bis zu großen Konzernen, genauso wie auch vielen Bürgerinnen und Bürgern zu schaffen macht. Es muss also etwas geschehen, wenn die Wirtschaftskraft in Deutschland erhalten und ein Wohlstandsverlust für die Menschen im Land abgewendet werden soll. 

Klar ist aber auch, dass der von Wirtschaftsminister Robert Habeck bislang angedachte Industriestrompreis aufgrund seiner Funktionsweise – egal in welcher konkreten Ausgestaltung – übermäßig missbrauchsanfällig ist und zu erheblichen Fehlallokationen führen würde. Das ist bei Produktionssubventionen, also wenn der Staat aktiv Geld zur Produktion oder dem Wareneinkauf dazugibt, fast zwangsläufig der Fall. Bestes Beispiel sind hier die Maskendeals während Corona. Und durch die bereits existierende Strompreisbremse kann man leider mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass Unternehmen eine solche Industriestromsubvention ebenfalls schamlos bis auf den letzten Cent ausschlachten würden. Hinzu kommt, dass Habeck mit dem Industriestrompreis nur ein paar wenige große Unternehmen entlasten würde, während sich die Situation für über 99 % der konkurrierenden Betriebe, die z.B. als kleine Bäckerei nicht in den Genuss des Industriestrompreises kommen, noch weiter verschärft. Und das Ganze bezahlen müssten am Ende die Verbraucher und Steuerzahler, beim Brötchenkauf, über den höheren eigenen Strompreis und natürlich über die ganzen Steuermilliarden, die dann als Strompreissubvention an Großkonzerne fließen.

Genauso klar ist aber, dass der Strompreis in Deutschland auf lange Zeit nicht mehr auf jenes Niveau zurückgehen wird, das mit billigem Gas aus Russland, abgeschriebenen Atomkraftwerken, und günstigen CO2-Zertifikaten für Kohlekraftwerke vor Kurzem noch erreicht wurde. Zwar mag sich das Preisniveau vielleicht wieder ändern, wenn die Energiewende irgendwann mal vollendet ist, also nicht nur immer mehr Windräder und Solarpanelen installiert wurden, sondern auch Netzinfrastruktur und Speicherkapazitäten in der Lage sind, diesen grünen Strom bedarfsgerecht an Unternehmen und Verbraucher abzugeben. Aber davon sind wir zurzeit noch Lichtjahre entfernt, sodass wir momentan zum einen bei viel Sonne oder viel Wind für erneuerbaren Strom zahlen, der nicht produziert bzw. eingespeist oder gespeichert werden kann, und zum anderen dafür bezahlen, dass für dunkle und windstille Tage weiterhin fossile Kraftwerke am Laufen bzw. in der Reserve gehalten werden. Diese Doppelstruktur ist natürlich von vorneherein schon extrem kostspielig und zu diesen sehr hohen Betriebskosten unseres Stromsystems kommt natürlich noch hinzu, dass der Netzausbau in den nächsten Jahren massiv vorangetrieben und somit ebenfalls finanziert werden muss.

Wenn aber auf der einen Seite klar ist, dass wir mehr finanzielle Ressourcen für die Energiewende und insbesondere einen zügigen Netzausbau brauchen, und auf der anderen Seite aber auch klar ist, dass Unternehmen und Privatkunden nicht von den hohen Strompreisen überfordert werden dürfen, wird man nicht umhinkommen, zusätzliches Steuergeld in das System zu bringen. „Ins System bringen“ bedeutet allerdings etwas ganz anderes, als Habecks Industriestrompreis, der lediglich ein Scheck für ausgewählte Großkonzerne ist. Kein einziger Cent der von Robert Habeck angedachten 30 Mrd. (wenn das überhaupt reicht) würde in das Stromsystem gehen. Das muss sich jeder bewusstmachen! Das Geld würde einfach auf die Konten einiger weniger Unternehmen fließen. Es würde sich damit nichts an den strukturellen Problemen am Strommarkt ändern und es bliebe weiterhin beim zögerlichen Netzausbau. Statt das Loch im Eimer zu stopfen, will Habeck einfach auf Steuerkosten ständig Wasser nachfüllen, damit der Eimer nicht leer wird. Das wäre aber keine Lösung, sondern ein reines Verschleppen der Probleme.

Daher setzt der nachfolgende Kompromissvorschlag genau an dieser Stelle an, um tatsächlich etwas zur Lösung der Strompreisproblematik beizutragen. Lasst uns dafür gerne Steuergeld in die Hand nehmen, aber eben nicht, um damit Symptome zu übertünchen, sondern um mit diesem Geld ganz gezielt den Netzumbau zu beschleunigen. Bislang ist es nämlich so, dass der Netzausbau weitestgehend über die Netzentgelte finanziert wird, was den Strompreis zusätzlich verteuert und vor allem zu Ungerechtigkeiten führt und erhebliche Widerstände vor Ort hervorruft. Denn gerade jene Regionen, die besonders viel Wind- oder Solarenergie installieren, müssen durch die bisherige Regelung dann zusätzlich noch besonders hohe Entgelte für den Anschluss dieser Anlagen und den Netzumbau zahlen. Würden die Anschlusskosten für neue Anlagen und die notwendige Netzmodernisierung hingegen direkt vom Bund finanziert, würde das die Akzeptanz in den verschiedenen Regionen erhöhen und durch weniger Widerstände vor Ort und die langfristig gesicherte Finanzierung würde sich der Netzausbau auch beschleunigen lassen. Gleichzeitig blieben dabei aber Unternehmen und Privatkunden durch die Bundesfinanzierung von jenem Teil der Netzentgelte verschont, der zur Finanzierung eben dieses beschleunigten Netzumbaus erhoben werden müsste. Kurzfristig hätte man damit einen weiteren Anstieg der Netzentgelte (und damit der Strompreise) verhindert und mit der Zeit würden Netz und Speicherkapazitäten so fit, dass man nicht mehr massig erneuerbaren Strom verliert und endlich die teuren Doppelstrukturen abschaffen kann. So hätte man dann wenigsten in ein paar Jahren wieder die Rahmenbedingungen für niedrigere Strompreise geschaffen. Und das ist es ja, worauf es bei Investitionsentscheidungen von Unternehmen ankommt, die langfristige Perspektive.

Gleichwohl muss natürlich jedem klar sein, dass dieser Netzumbau auch bei bestem Willen und umfänglichster Bundesfinanzierung noch Jahre dauern wird. In diesem Zeitraum sollte man zwar keinen Industriestrompreis einführen, die Gründe hatte ich benannt, aber natürlich sollte der Staat dafür wenigstens andere Belastungen des Strompreises, also Abgaben und Steuern, so niedrige wie möglich halten. Der bisherige Spitzenausgleich für energieintensive Unternehmen könnte hierfür in reformierter Form eine Grundlage sein, um eine breitflächige Entlastung der Wirtschaft zu erreichen. So könnten auf die ersten 10.000 kWh Jahresverbrauch alle Steuern und Abgaben erhoben werden, auf die nächsten 90.000 kWh nur noch 75% der Steuern und Abgaben, auf die nächsten 900.000 kWh nur noch 50%, auf die nächsten 9 Mio. kWh noch 25% und der Stromverbrauch über 10 Mio. kWh, also die 10.000.001. kWh, würde dann mit dem minimalsten Steuersatz versteuert, den das EU-Recht zulässt. Dies schiene mir der einfachste, unbürokratischste und am wenigsten missbrauchsanfällige Ansatz, um die Wirtschaft insgesamt zu entlasten und durch die Staffelung in besonderem Maße den energieintensiven Unternehmen in Deutschland zu helfen.

Bei den privaten Endverbrauchern sollte eine Entlastung hingegen pauschal stattfinden, z.B. durch ein Klimageld. Denn anders als bei Unternehmen, bei denen wir ja gerade nicht wollen, dass sie durch Verlagerung der Produktion ins Ausland Strom einsparen, soll der Sparanreiz bei Privathaushalten natürlich unbedingt erhalten bleiben. Außerdem scheint im Hinblick auf Aspekte der sozialen Gerechtigkeit die Auszahlung eines einheitlichen Klimageldes, z.B. in Höhe von 100 Euro im Jahr, an jede Bürgerin und jeden Bürger zielführender als eine pauschale Reduktion der Stromsteuern. Der individuelle Sparanreiz bliebe auf diese Weise nämlich vollumfänglich erhalten, ohne dabei Haushalte mit geringen Einkommen durch die gestiegenen Strompreise zu überfordern. Solange man über das Klimageld die Belastungen für die ärmeren Teile der Bevölkerung abfedert, könnte man theoretisch sogar die Stromsteuern für Privatverbraucher auch wieder erhöhen. Aus kommunikativen Gründen sollte man diese Möglichkeit allerdings vorerst nicht nutzen, sondern erst dann, wenn der Netzausbau soweit vorangeschritten ist, dass die Strompreise in Deutschland wieder zurückgehen.

Fazit:

Um die Strompreise in Deutschland zu reduzieren, braucht es vor allem einen beschleunigten Netzausbau, finanziert direkt vom Bund. Gleichzeitig sollte für eine breite Entlastung der Wirtschaft der Spitzenausgleich reformiert werden, so dass der Staat die Unternehmen in Zeiten hoher Strompreise nicht noch mit zusätzlichen Steuern und Abgaben belastet. Eine Entlastung der Verbraucher sollte hingegen über das Klimageld stattfinden, sowohl um Sparanreize zu erhalten als auch um den sozialen Ausgleich zu befördern.
Der Kompromissvorschlag ermöglicht damit die Einführung des grünen Klimageldes, trägt der Forderung von FDP und Olaf Scholz nach einer Transformation hin zu strukturell niedrigen Strompreisen Rechnung und berücksichtigt den Wunsch von SPD-Fraktion und Robert Habeck nach schneller Entlastung für energieintensive Industrien. Die Kosten dieses Paketes schätze ich ganz grob auf 20 Milliarden Euro jährlich. Ein Großteil dieses Geldes würde aber über ein erhöhtes Wirtschaftswachstum sofort wieder zurückfließen, vermutlich sogar schon ab 2024, weil sich die Aussichten der Wirtschaft mit diesem Paket schlagartig verbessern würden und der Standort Deutschland auch auf mittlere und längere Sicht für Unternehmen wieder attraktiv würde.


Text als PDF: Kompromissvorschlag für verträgliche Strompreise in Deutschland


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Vertrag zur friedlichen Koexistenz zwischen der Allianz und der Russischen Föderation und zur Beilegung des Grenzstreits in der Ukraine https://www.mister-ede.de/politik/vertrag-friedliche-koexistenz/9253 https://www.mister-ede.de/politik/vertrag-friedliche-koexistenz/9253#comments Tue, 17 May 2022 19:59:55 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9253 Weiterlesen ]]> In Anerkennung des jahrelangen Leidens der Menschen in der Ostukraine, den Grausamkeiten der letzten Monate und der inzwischen größten humanitären Katastrophe im Europa des 21. Jahrhunderts verpflichten sich alle Beteiligten zum Ende sämtlicher Feindseligkeiten.
In Anerkennung der unüberbrückbaren Differenzen zwischen der Allianz und der Russischen Föderation verpflichten sich alle Beteiligten, eine Ordnung der friedlichen Koexistenz zu etablieren und damit ein, trotz dieser Differenzen, funktionierendes und angstfreies Zusammenleben in Europa und der Welt zu ermöglichen.

1) Die Allianz verpflichtet sich, die Integrität und völkerrechtliche Souveränität der Russischen Föderation zu achten und das Selbstbestimmungs- und Selbstorganisationsrecht der Russischen Föderation in keiner Weise zu berühren oder zu unterlaufen.

2) Die Allianz verspflichtet sich, allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die über den Vertrag zur kollektiven Sicherheit mit der Russischen Föderation verbunden sind, z.B. Belarus oder Kasachstan, dieselben unter Punkt 1 genannten Garantien zu gewähren.

3) Die Russische Föderation verpflichtet sich, die Integrität und völkerrechtliche Souveränität aller Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die nicht über den Vertrag zur kollektiven Sicherheit mit der Russischen Föderation verbunden sind, z.B. Aserbaidschan oder Georgien, zu achten und deren Selbstbestimmungs- und Selbstorganisationsrecht in keiner Weise zu berühren oder zu unterlaufen. Im Gegenzug verpflichten sich diese Länder, auf die offizielle Mitgliedschaft in anderen Militärbündnissen sowie die Beschaffung und den Besitz von ABC-Waffen oder anderen künftigen Waffensystemen zur Massenvernichtung zu verzichten. Die bestehenden NATO-Mitgliedschaften von Estland, Lettland und Litauen bleiben hiervon unberührt.

4) Die Allianz beendet sämtliche Sanktionen bezüglich Luft- und Raumfahrt und des internationalen Finanzwesens und gibt eingefrorene russische Vermögenswerte wieder frei. Sämtliche Sanktionen gegen Einzelpersonen, die im Zusammenhang mit dem heutigen oder den vergangenen Konflikten in der Ukraine verhängt wurden, werden aufgehoben. Die Russische Föderation verpflichtet sich zu selbigem gegenüber der Allianz.

5) Die Russische Föderation erkennt die völkerrechtliche Souveränität der Ukraine in ihren neuen, unter Punkt 6 beschriebenen Grenzen an. Die Russische Föderation erkennt explizit die Zugehörigkeit der Ukraine zur Allianz sowie eine potentielle, künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der EU vollumfänglich an. Die Ukraine verpflichtet sich im Gegenzug, auf eine Mitgliedschaft in der NATO oder in anderen Militärbündnissen sowie auf die Beschaffung und den Besitz von ABC-Waffen oder anderen künftigen Waffensystemen zur Massenvernichtung zu verzichten.

6) Die Ukraine stimmt im Einklang mit dem Völkerrecht der Übertragung der Krim an Russland zu. Ferner erkennt die Ukraine die völkerrechtliche Souveränität der von den Separatisten vor dem 22.2.2022 kontrollierten Gebiete in den bisherigen Oblasten Donezk und Luhansk an. Es bleibt den neuen Volksrepubliken freigestellt, sich im Anschluss per Referendum der Russischen Föderation anzuschließen. Alle weiteren bisherigen ukrainischen Staatsgebiete bilden das neue, völkerrechtlich anerkannte ukrainische Staatsgebiet.

7) Die Russische Föderation und die Allianz vereinbaren außerdem eine friedliche Koexistenz. Es besteht beidseitig kein Anspruch auf den freien Verkehr von Personen und Gütern oder auf einen sonstigen Austausch zwischen der Allianz und der Russischen Föderation. Im gegenseitigen Einvernehmen kann von dieser friedlichen Koexistenz jederzeit zugunsten von Handel, Wissenschaft, Kultur und der Völkerverständigung abgewichen werden.

8) Die Russische Föderation wird wieder vollständiges Mitglied im Europarat. Sie verpflichtet sich, mit Ernsthaftigkeit die Regeln der Europäischen Menschenrechtskonvention zu befolgen sowie Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen.

9) Für den Fall eines Angriffs von außen auf die Territorien oder sonstigen Einrichtungen der Allianz oder der Russischen Föderation verpflichten sich beide Seiten zum gegenseitigen Beistand.

10) Als Entschädigung und zur Beseitigung der materiellen Kriegsschäden erhält die Ukraine eine Reparationszahlung in Höhe von 500 Mrd. Euro. Geleistet wird diese Zahlung zu 35% von der Russischen Föderation, zu 35% von der EU, zu 20% von den USA, zu 5% von Großbritannien, zu 2% von der Schweiz und jeweils zu 1% von Norwegen, Kanada und der Türkei.


Text als PDF: Vertrag zur friedlichen Koexistenz zwischen der Allianz und der Russischen Föderation und zur Beilegung des Grenzstreits in der Ukraine


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Putins Krieg in der Ukraine und wie es dazu kam https://www.mister-ede.de/politik/putins-krieg-in-der-ukraine/9234 https://www.mister-ede.de/politik/putins-krieg-in-der-ukraine/9234#comments Thu, 31 Mar 2022 21:53:36 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9234 Weiterlesen ]]> Text als PDF: Putins Krieg in der Ukraine und wie es dazu kam

Es sind schwere Tage und Wochen, sicher für viele von uns – und doch sind wir damit in Deutschland noch sehr gut bedient, im Gegensatz zu all den Menschen, die in der Ukraine Tod, Not und Leid erfahren und um ihre Familien, ihr Leben, ihre gesamte Existenz bangen müssen.
Der von Wladimir Putin befohlene Überfall auf die souveräne, freiheitlich-demokratische Ukraine führt zu menschlichen Tragödien, natürlich zuvörderst in der Ukraine selbst, aber auch durch zu erwartende Versorgungsengpässe weit darüber hinaus, insbesondere in den ärmsten Regionen der Welt. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg durch Russland wirft überdies die gesamte Sicherheitsordnung in Europa und weltweit durcheinander. Die Vereinten Nationen wurden schwer geschädigt, Jahrzehnte des Dialogs mit Russland sind auf einen Schlag Makulatur und gerade in Europa müssen wir uns fragen, ob wir an manchen Abzweigungen in der Vergangenheit einen anderen Weg hätten einschlagen sollen oder gar müssen. Wie konnte es nur so weit kommen, dass dieser seit mindestens 20 Jahren schwelende Konflikt über einen eigenständigen Weg der freien Ukraine nun in diesem grauenhaften Krieg mündete?

Übersicht:

Die Vorgeschichte

Die Sowjetunion (UdSSR – Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken)

Der Zusammenbruch

Die Ukraine

Das Völkerrecht

Die Geopolitik

Vom Maidan bis Minsk II

Die Entwicklung ab 2015

Der Territorialkonflikt

Die Entwicklung seit 2020

Die Monate vor dem Krieg

Meine Fehleinschätzung

Putins Fehleinschätzung

Die Reaktionen auf Putins Angriff

Wie geht es weiter?

Die Vorgeschichte

Was vor 1945 geschah, liegt so lange zurück, dass es heutzutage höchstens noch als Narrativ dient, real also nichts mit der heutigen Situation zu tun hat, außer vielleicht, dass Vladimir Putin (englische Schreibweise) hieraus gerne Ausreden für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine bastelt. Genauso gut könnte man aus den von Putin selbst dargelegten historischen Abrissen schlussfolgern, dass Russland eigentlich nur ein Ableger der Ukraine sei, also gar keine Eigenständigkeit verdiene und Kiew nun über Moskau herrschen solle. Es ist insofern völlig müßig, sich näher mit diesen Einlassungen Putins zu beschäftigen.
Nicht ganz so einfach darf man es sich aber mit jener Zeit machen, die von den aktiven Entscheidungsträgern – je nach Alter mal mehr, mal weniger lange zurückreichend – bewusst erlebt wurde und diese geprägt hat. Wer im Kalten Krieg aufgewachsen ist, schaut tendenziell anders auf die Welt, auf die USA, auf Russland oder China als eine Person, die 1990 geboren wurde. Und ein Vladimir Putin, der in der Sowjetzeit ja nicht irgendwo, sondern im KGB sozialisiert wurde, also im sowjetischen Geheimdienst, dem Herzstück der damaligen kommunistischen Diktatur, wird seinen ganz eigenen Blick auf die Geschichte haben. Die nachfolgende Analyse setzt daher bereits in der Sowjetunion ein und versucht, aus geopolitischer Perspektive die Entwicklung Russlands und der Ukraine nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Sowjetimperiums bis hin zum jetzigen Krieg zu beschreiben.

Die Sowjetunion (UdSSR – Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken)

Bis 1991 existierte die 1922 gegründete Sowjetunion (ca. 290 Mio. Einwohner im Jahr 1990), die sich aus verschiedenen Teilrepubliken zusammensetzte. Die wichtigste Teilrepublik war dabei die Russische SFSR (Sozialistische Föderative Sowjetrepublik), die sowohl flächenmäßig (ca. 75% des sowjetischen Territoriums) als auch vom Bevölkerungsanteil (51%) mit Abstand größte Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion. Weitere Teilrepubliken innerhalb der UdSSR waren nach Bevölkerungsanteil: Die Ukraine (18%), Usbekistan (7%), Kasachstan (6%), Belarus (3,6%), Aserbaidschan (2,5%), Georgien (1,9%), Tadschikistan (1,8%), Kirgisien, Moldawien, Litauen, Turkmenistan, Armenien, Lettland und die kleinste Teilrepublik Estland (0,5%) [1]. All diese heutzutage souveränen Länder waren vor 1991 Teil der UdSSR und ihrerseits selbstverständlich ebenfalls als SSR, also „Sozialistische Sowjetrepublik“, organisiert. Formal waren Russland, die Ukraine und die anderen SSR also keine Staaten, sondern Bundesländer innerhalb des gemeinsamen Staates „UdSSR“ mit seiner Hauptstadt Moskau.
Der Einfluss Moskaus reichte im Kalten Krieg aber weit über die Grenzen der UdSSR hinaus. So waren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch die ganzen Warschauer-Pakt-Staaten, also Polen (37 Mio.), Rumänien (22 Mio.), die DDR (17 Mio.), die Tschechoslowakei (16 Mio.), Ungarn (11 Mio.) und Bulgarien (9 Mio.), Teil der sozialistischen bzw. kommunistischen Welt. Zwar blieben diese Länder formal, also völkerrechtlich, stets souverän, gleichwohl standen sie allesamt über die jeweils vor Ort herrschenden kommunistischen Staatsparteien unter der direkten Kontrolle Moskaus.
Lose verbunden mit der UdSSR waren außerdem in Europa das ebenfalls kommunistische Jugoslawien (24 Mio. Einwohner) sowie weltweit eine Vielzahl „Sozialistischer Bruderstaaten“ wie z.B. Kuba oder Mosambik.

Der Zusammenbruch

All dies zerbrach infolge des Kollaps der Sowjetunion – Putins Trauma und auch objektiv kein ausnahmslos positives Ereignis. Wäre die UdSSR zwischen 1989 und 1991 einfach nur demokratisch geworden, wäre das für die Welt vermutlich tausendmal besser gewesen.
So aber stolperten all die verbündeten sozialistischen Länder samt ihren Machthabern weltweit in einen Zustand der Schutzlosigkeit und eigener Instabilität. In manchen sozialistischen Diktaturen gelang es den Herrschenden an der Macht zu bleiben und Scheindemokratien zu etablieren. Andere Länder versanken in Bürgerkrieg und wieder andere wurden durch das Fehlen einer Schutzmacht zum Angriffsziel für die Nachbarstaaten. Insgesamt waren die 90er-Jahre unter anderem mit dem zweiten Golfkrieg, den Jugoslawien-Kriegen oder auch dem Völkermord in Ruanda, der fast so viele Opfer forderte wie der komplette Vietnamkrieg, wohl das kriegerischsten Jahrzehnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für viele Menschen bedeutete das Ende der sozialistischen Diktatur daher gar nicht Freiheit, sondern oftmals nur Krieg oder das Weiterleben unter irgendwelchen kapitalistischen Diktatoren.

Deutlich besser lief es hingegen für die Warschauer-Pakt-Staaten, deren Bevölkerungen sich zwar weitestgehend mit dem Kommunismus abfanden, aber nie damit glücklich wurden. Diese Länder rissen sich natürlich sofort nach dem Zusammenbruch der UdSSR aus jenen Fängen Moskaus los, die zuvor auch dank der Protestbewegung in diesen Staaten gesprengt wurden. Beim folgenden Demokratisierungsprozess wurden die ehemaligen Warschauer-Pakt-Länder dann auch massiv von den westlichen Demokratien unterstützt, z.B. im Rahmen der langjährigen Aufnahmeprozesse in die EU. Es ist übrigens genau der Grund, warum in diesen EU-Ländern heute ein Gefühl vorhanden ist, von Brüssel bevormundet zu werden. Es ist der EU nicht vorzuwerfen, aber freilich ist es schon so, dass Polen und andere Länder in den letzten 20, 30 Jahren sehr, sehr weite Wege gehen mussten, um fit für den Beitritt zur EU zu werden, alle Vorgaben aus Brüssel zu erfüllen und die nationalen Regelwerke und Verfahren mit dem EU-Recht zu harmonisieren. Natürlich war dies alles notwendig, aber daran sieht man gut, wie das, was man in Deutschland oder Frankreich als Hilfe für diese Länder empfindet, in Polen oder der Slowakei als Bevormundung wahrgenommen werden kann. Und ja, so sehr mich selbst der Verlauf der Geschichte freut, für einen KGB-Mann im Kreml muss das alles so wirken, als ob ein „Bruder“(Volk) nach dem nächsten von der schönen Europa verführt und dann von Uncle Sam in die NATO verschleppt wurde. Was Putin offenbar nicht sehen kann oder will, ist, dass es sich dabei stets um wahre Liebe handelte, die Liebe der Menschen zur Demokratie und zur Freiheit (und sicher auch zum Wohlstand).

Es waren Anfang der 90er-Jahre aber nicht nur die Verbündeten der UdSSR, die sich von Moskau lossagten, sondern die UdSSR löste sich 1991 auch selbst auf. Die Rechtsnachfolge ging dabei auf die Russische SFSR über, die sich im Anschluss in die Russische Föderation umformte, während die restlichen Sowjetrepubliken, von der Ukraine bis Estland, nach Jahrzehnten die Eigenstaatlichkeit zurückerlangten und unabhängig wurden. Viele dieser SSR blieben in der Folge aber trotzdem in enger Verbindung zu Russland, wurden z.B. Teil der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten – was ein interessanter Name für eine Gemeinschaft aus weitestgehend von Russland abhängiger Staaten ist) und schlossen sich militärisch über den Vertrag über kollektive Sicherheit zusammen. Einen anderen Weg schlugen allerdings die drei kleinen baltischen Länder ein, Estland, Lettland und Litauen. Diese schafften, ähnlich wie die Warschauer-Pakt-Staaten, in den 90er-Jahren den demokratischen Übergang und wurden ein gutes Jahrzehnt später, im Jahr 2004, Teil der EU und der NATO. Und mich freut das natürlich wieder riesig, weil dort gut 6 Mio. Menschen inzwischen in Demokratie, Freiheit und wachsendem Wohlstand leben können. Vladimir Putin dürfte das hingegen heute wohl ganz und gar nicht mehr freuen. Unklar ist jedoch, ob Putin zum damaligen Zeitpunkt des Beitritts noch anders dachte und mit Russland tatsächlich auch noch selbst in die NATO wollte. So ganz fern liegt der Gedanke ja nicht, immerhin handelt es sich bei der NATO um ein Militärbündnis, dessen wichtigstes Mitglied, die USA, es gewohnt ist, das Völkerrecht bei Bedarf ungestraft zu brechen, z.B. 2003 mit einer Lüge über Massenvernichtungswaffen im Irak.
Entweder hat Putin damals also wirklich nicht geahnt, dass sein Weg und der Weg Russlands einmal in die Fundamental-Opposition zur NATO und zur EU führen. Oder Putin hat zu diesem Zeitpunkt schlicht noch nicht die politische Macht oder militärische Kraft gehabt, um diese Osterweiterung von EU und NATO zu verhindern. Dass ein Teil der früheren UdSSR heute zu einem rivalisierenden Machtblock gehört, dem freien Westen, dürfte Putin mittlerweile aber durchaus als Schmach empfinden, für die er nun keine ukrainische Wiederholung braucht.

Der Zerfall der kommunistischen Welt war in den 1990ern jedoch nicht auf die UdSSR und ihre Verbündeten beschränkt, sondern auch innerhalb der Russischen SFSR bzw. der nachfolgenden Russischen Föderation gab es Sezessionsbestrebungen einzelner „Provinzen“. Zur Vorstellung daher mal ein Vergleich: Wenn sich als erstes die EU-Verbündeten verabschieden, z.B. Kanada und Japan, dann Norwegen als EWR-Staat (Europäischer Wirtschaftsraum) die Segel streicht, bevor sich die EU gänzlich auflöst und sich anschließend auch noch Bayern von Deutschland lossagen will, dann wäre die Bundesrepublik Deutschland in etwa in der Situation, in der sich die Russische Föderation Ende der 90er-Jahre politisch befand. Selbst russische Provinzen wie Dagestan und Tschetschenien strebten damals nach der Unabhängigkeit von Moskau, obwohl sie völkerrechtlich eigentlich fester Bestandteil der Russischen Föderation waren und gar kein Recht zur Sezession hatten.
Dass allerdings auch Völkerrechtssubjekte von der Realität zerlegt werden können, hatten die Jugoslawien-Kriege der 90er-Jahre Putin aber eindrücklich vor Augen geführt. Und so wurde bereits Mitte der 90er unter Putins Vorgänger im Präsidentenamt, Boris Jelzin, im ersten Tschetschenien-Krieg heftig gekämpft, um wenigstens die Integrität Russlands zu erhalten und zu verhindern, dass das Land zu einem großen Jugoslawien wird und ebenfalls komplett auseinanderbricht. Die Situation in Tschetschenien befriedete sich allerdings kaum und so startete Putin im Jahr 1999 schon kurz nach seinem Amtsantritt als Ministerpräsident, damals noch unter Präsident Jelzin, einen jahrelang andauernden zweiten Tschetschenienkrieg, um die Kontrolle Moskaus über die abtrünnige Kaukasus-Provinz zurückzuerlangen.

Mit seiner Übernahme des Präsidentenamtes im Jahr 2000 erbte Putin insofern ein politisch zerfallendes Russland, das sich überdies wirtschaftlich in der Hand von Oligarchen befand. Ich hätte dieses Land definitiv nicht von innen heraus retten können – schon alleine, weil ich Skrupel gehabt hätte, einfach mal so ein paar Oligarchen liquidieren zu lassen, aber auch, weil ich keine loyalen Vertrauten in den russischen Geheimdiensten gehabt hätte. Bei Putin hingegen war es genau umgekehrt, gute Verbindungen zu den Geheimdiensten hatte er zahlreiche, Skrupel dafür umso weniger. Und so ist es ihm mit einer eisernen (und blutigen) Hand tatsächlich gelungen, das Land zu stabilisieren und zumindest wieder ein „staatliches“ Gewaltmonopol in Russland herzustellen – territorial und ökonomisch. Das heißt natürlich nicht, dass Putin die Oligarchie beseitigt hat – im Gegenteil, viele in seinem Umfeld sind sehr reich geworden – aber die Oligarchen hören jetzt wieder auf jemanden und bekämpfen sich zumindest nicht mehr gegenseitig mit ihren „Privat-Armeen“. Putin hat es also mit Brutalität geschafft, dass die meisten Oligarchen inzwischen lieber mit ihm leben, als bei Brot und Wasser in einem Straflager zu sterben – Ausnahmen wie Nawalny bestätigen die Regel. Und dasselbe gilt für die lokalen und regionalen politischen Machthaber, die ja auch wirklich gut mit ihrem Putin leben, solange sie nicht aufmüpfig werden. Auf diese Weise – und selbstverständlich durch die Unterdrückung der Presse, die Kontrolle der Justiz und viele weitere Repressalien – hat Putin seit etwa 10 bis 15 Jahren eine im gesamten Territorium der Russischen Föderation gesicherte Herrschaft mit stabiler Verwaltung und durchkontrollierter Öffentlichkeit geschaffen (bei der es unterm Deckel aber weiterhin ganz schön brodelt).

Die Ukraine

Innerhalb der Sowjetunion war die Ukraine mit ihren gut 50 Mio. Einwohnern nach der Russischen SFSR die mit Abstand wichtigste Sowjetrepublik. Mit riesigen landwirtschaftlichen Flächen und großer Stahlindustrie war sie ein zentraler Baustein der Sowjetwirtschaft und dazu mit ihren großen Schwarzmeerhäfen auch von strategischer Bedeutung.
Nach dem Zerfall der UdSSR haben sich dann in der Ukraine – wie in Russland – viele der einstigen kommunistischen Funktionäre einen Stück Staatsbesitz unter den Nagel gerissen und fortan als Oligarchen Karriere gemacht. In den 90er-Jahren näherte sich die Ukraine außerdem dem Westen etwas an und die Machthaber in Kiew versuchten eine freundschaftliche Distanz zu Moskau zu halten. Das änderte sich auch nicht, als im Jahr 2000 Putin in Russland das Ruder übernahm.

Schon seit Beginn seiner Präsidentschaft ist Putin, der es als Aufgabe sieht, „seine Sowjetunion“ zu erhalten, daher mit der Situation konfrontiert, verhindern zu müssen, dass die Ukraine den gleichen Weg geht wie die baltischen Staaten und damit ein aus seiner Sicht integraler Bestandteil der ehemaligen UdSSR für immer an den (freiheitlich-demokratischen, respektive US-amerikanischen) Systemrivalen verloren geht. Mit Wahlfälschungen sollte daher 2005 der Moskau-treue Wiktor Janukowytsch zum Präsidenten gemacht werden, was jedoch an Protesten der Bevölkerung und einem nicht-linientreuen Gerichtshof in der Ukraine scheiterte, so dass bereits von 2005 bis 2010 mit Wiktor Juschtschenko ein Präsident in der Ukraine an der Macht war, der ganz klar eine NATO-Mitgliedschaft für sein Land anstrebte. Durch das Zudrehen des Gashahns und unverhohlene Drohungen gegen die Ukraine ist es Putin damals allerdings gelungen, die europäischen NATO-Mitglieder davon zu überzeugen, dass eine Aufnahme der Ukraine in das westliche Bündnis mehr Nachteile als Vorteile für Europa (und die Ukraine) mit sich bringen könnte. Deutschland war daher eine treibende Kraft gegen die damalige Aufnahme, zumal auch in der Ukraine selbst die Stimmung noch eine ganz andere, deutlich russlandverbundenere war.
2010 gelang es dem aus dem Donbas stammenden Janukowytsch dann im zweiten Anlauf mit einer massiven Wahlkampagne, finanziert sicherlich auch aus Russland, Juschtschenko im Präsidentenamt nachzufolgen. Damit steckte Janukowytsch aber seit seinem Amtsantritt in der Zwickmühle, auf der einen Seite die Ukraine stärker an den Westen anbinden zu müssen, wie es das Volk mehrheitlich von ihm verlangte, und gleichzeitig Putins Wünschen folgend genau diese Westbindung zu verhindern. Als Janukowytsch daraufhin im Jahr 2013 das bereits ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU stoppte, nahmen die Proteste im Land, die Maidan-Bewegung in Kiew und der Umsturz ihren Lauf. Dass dieser Umsturz vom Westen zusätzlich befördert wurde, sei es durch staatliche Akteure, politische Stiftungen, gemeinnützige Vereine oder Privatleute, ist dabei unzweifelhaft – und für uns als überzeugte Demokratinnen und Demokraten auch keineswegs unredlich. Putin oder auch die chinesische, iranische oder nordkoreanische Führung dürften das naturgemäß jedoch anders sehen.

Das Völkerrecht

Einen Punkt hat Putin dennoch. Keinen letztlich validen, aber einen, der für jene erkennbar ist, die in Gesetzen das „Willkürliche“ sehen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, z.B. die Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr. Warum beträgt diese innerorts genau 50 km/h, warum nicht 40 km/h? Natürlich muss sich eine Gesellschaft auf eine Regelung einigen, es ist aber völlig willkürlich, also nicht rational begründbar, warum man sich letztlich genau auf diese eine bestimmte Höchstgeschwindigkeit einigt.
Und genauso ist die völkerrechtliche Einteilung, welche Gebiete man als Völkerrechtssubjekte behandelt, also als eigenständige, souveräne Staaten, in einem gewissen Maße willkürlich. So ist beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland ein einziges Völkerrechtssubjekt und wenn Markus Söder morgen die Unabhängigkeit von Bayern erklärt, dürfte Berlin im selben Moment die Bundespolizei schicken und ihn verhaften lassen. Vom Völkerrecht her wäre es sogar erlaubt, in einem solchen Fall die Bundeswehr mit Soldaten, Panzern und Düsenjets nach Bayern zu schicken, um eine Sezessionsbestrebung gewaltsam niederschlagen zu lassen – ein solcher Militäreinsatz im Inneren ist nur in Deutschland aufgrund der speziellen deutschen Historie vom Grundgesetz verboten.
Würde sich die BRD jedoch morgen auflösen und alle 16 Bundesländer erhielten die Unabhängigkeit und wären fortan eigenständige Völkerrechtssubjekte – so wie es damals mit den einzelnen Teilrepubliken der UdSSR geschah – dann wäre ein solcher Militäreinsatz nicht mehr zulässig. Würde es einem modernen Bismarck in der Folge gelingen, 15 der 16 Bundesländer wieder zu vereinigen, hätte er also trotzdem kein Recht mehr, das 16. Bundesland gewaltsam wieder in das neugeschaffene Deutschland zu integrieren. Derselbe Bundeswehr-Einsatz, der heute noch gegen ein separatistisches Bundesland vom Völkerrecht her erlaubt ist, wäre dann ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat. In den meisten Fällen versuchen Staaten daher, unter allen Umständen eine Loslösung von einzelnen Landesteilen zu verhindern, damit es nicht zu so einem unumkehrbaren Kontrollverlust kommt – China entlässt Taiwan nicht in die Unabhängigkeit, Spanien nicht Katalonien und Italien nicht Südtirol.
Insofern muss für Putin aber die damalige Aufspaltung der UdSSR wie eine vom Westen, genauer den USA, über die „Marionette Gorbatschow“ initiierte Selbstzerstörung der Sowjetunion wirken. Es dürfte auch einer der maßgeblichen Gründe sein, warum Putin den damaligen Zerfallsprozess der UdSSR als Katastrophe empfindet. „Sein“ russisches Volk, das in der Sowjetunion in einem einzigen gemeinsamen Völkerrechtssubjekt versammelt war, wurde durch fremde Mächte auf ein Dutzend souveräner Völkerrechtssubjekte zerstreut und damit erheblich geschwächt. Natürlich ist das eine extreme Verzerrung der Wahrheit, denn letztlich war alles Geschehen in der UdSSR der Kontrolle Moskaus unterworfen und insofern war der innerstaatliche Frieden bis 1991 kein freiwilliger, sondern ein von Moskau mit Gewalt erzwungener Frieden zwischen den einzelnen Landesteilen. Gleichwohl stimmt aber auch, dass der heutige völkerrechtswidrige Angriffskrieg von Putin gegen die souveräne Ukraine vor 31 Jahren noch ein völlig legaler militärischer Durchgriff der russischen Staatsmacht gegen ihre abtrünnige „Provinz“ Ukraine gewesen wäre.

Die Geopolitik

Nachdem die sowjetischen Teilrepubliken in die Unabhängigkeit entlassen wurden, sind die Beziehungen von Russland zu diesen Ländern heute nicht mehr Teil der Innenpolitik, sondern Teil der Geopolitik. Das ist ein fundamentales Problem für Putin, auch wenn sich in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion autoritäre Regime entwickelt haben, deren innen- und außenpolitisches Überleben sowieso vom guten Willen Putins abhängen.
Dort wo es aber nicht ganz so läuft, wie Putin das möchte, und wo die UdSSR die Aufstände einst einfach hat niederschlagen können, berufen sich heutzutage nun „halbseidene Staatsführer“ auf die UN und das Völkerrecht und bandeln auch gerne mal mit anderen Weltmächten an, z.B. mit China oder den USA. Man stelle sich nur vor, das „16. Bundesland“ aus dem Beispiel oben wollte nicht nur nicht mehr zu den anderen 15 zurück, sondern würde seine neugewonnene völkerrechtliche Souveränität für ein Verteidigungsbündnis mit Nordkorea nutzen – natürlich wären wir schockiert! Insofern dürfte für Putin das Ziel sein, einige der ehemaligen Sowjetrepubliken wieder so weit unter seine (russische) Kontrolle zu bringen, dass sie nur noch auf dem Papier Völkerrechtssubjekte darstellen, de facto aber wieder zur innenpolitischen Angelegenheit Moskaus werden. Dies ist auch deshalb für Putin von Bedeutung, um sich im Konfliktfall zu 100% auf die Loyalität dieser Länder verlassen zu können und diese nicht plötzlich an der Seite einer fremden Macht agieren oder gar kämpfen zu sehen.

War die Rote Armee in der UdSSR einst die hochgerüstete Armee eines 300 Mio. Einwohner Staates mit vielen Verbündeten, waren die russischen Streitkräfte der 90er-Jahre nur noch die schwächelnde Armee eines 150 Mio. Einwohner Staates und im Konfliktfall war auch keine nennenswerte Unterstützung durch die GUS-Partner bzw. über den Vertrag über kollektive Sicherheit zu erwarten. Entsprechend wenig Hilfe konnte Putin anfänglich auch seinen weltweiten Partnern, oftmals korrupte Diktatoren, im Krisenfall bereitstellen und so schwand der russische Einfluss in der Welt massiv – eine Lücke, in die ab den 2000ern oftmals China stieß.
Bis dahin aber war es vor allem der Siegeszug der Demokratie, der z.B. alle ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in EU und NATO brachte oder zu einem Zerfall Jugoslawiens in einzelne Republiken führte. Auch weltweit stürzten in den 90er-Jahren einige ehemalige sowjettreue Verbündete ab, z.B. Daniel Ortega, der seit einer linken Revolution Ende der 70er-Jahre (gegen einen US-treuen Diktator) in Nicaragua herrschte und 1990 in demokratischen Wahlen wieder von US-freundlicheren Kräften abgelöst wurde.
Als Putin im Jahr 2000 an die Macht kam, musste er dann zuerst erleben, wie in Folge des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der USA gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein die Ordnung im Nahen Osten militärisch verschoben wurde. Kurze Zeit später gab es die westlichen Demokratisierungsbestrebungen in Afghanistan und 2003 fand dann mit der Rosenrevolution ein Umsturz in Georgien statt, gegen den Putin nichts unternehmen konnte. Nach der Orangenen Revolution 2004 in der Ukraine konnte er 2005 ebenfalls nicht verhindern, dass dort ein dem Westen zugewandter Präsident Juschtschenko an die Macht kommt. 2008, Putin hatte Russland inzwischen stabilisiert, die Armee gestärkt und den Krieg in Tschetschenien zu seinen Gunsten entschieden, kam es dann zum Kaukasuskrieg gegen Georgien, den Putin mit deutlichem Einflussgewinn in der Region beendete. Und kurze Zeit später, im Jahr 2010, gelang mit russischer Hilfe außerdem, den Putin-freundlichen Janukowytsch ins ukrainische Präsidentenamt zu bringen. Allerdings konnte weder der Krieg gegen Georgien noch der neue Präsident in der Ukraine etwas daran ändern, dass sich die Menschen in diesen Ländern immer weiter Richtung Westen entwickelten.

Mit dem arabischen Frühling 2011 und der Demokratiebewegung in Nordafrika und dem Nahen Osten drohte kurze Zeit später dann außerdem an anderer Stelle Ungemach für Russlands Einfluss in der Welt. So stürzte im Frühjahr 2011 zunächst der ägyptische Diktator Hosni Mubarak, im Sommer verlor Putin – nach völkerrechtlich mindestens fragwürdigen Luftschlägen von NATO-Mitgliedern – mit dem libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi einen weiteren langjährigen Verbündeten Russlands. Und kurz darauf drohte dann auch noch dem syrischen Regime, das ebenfalls eng verbunden mit Russland ist, dasselbe Schicksal. Diesmal konnte Putin allerdings den „Regime-Change“ verhindern, indem er den dortigen Machthaber Baschar al-Assad militärisch massiv unterstützte und gleichzeitig im UN-Sicherheitsrat deckte, als dieser die Aufstände gewaltsam niederschlagen ließ. In einem bis heute andauernden Bürgerkrieg, in dessen Verlauf auch die Terrororganisation IS (Islamischer Staat) große Territorien im Nahen Osten einnehmen konnte, eroberte sich das Assad-Regime dann mit Hilfe Russlands weite Teile des Landes zurück und ist nun wieder weitestgehend stabil im Amt, wenn auch in einem heute deutlich geschwächten Syrien.
Und ein ähnliches Vorgehen, also das blutige Niederschlagen eines Volksaufstandes, hätte Putin dann wohl auch gerne 2013 in der Ukraine von Janukowytsch und seinem Apparat gesehen. Dort allerdings lief es anders.

Vom Maidan bis Minsk II

Als Ende 2013 die Menschen in der Ukraine auf die Straße gingen, weil Janukowytsch die Annäherung an die EU auf Druck des Kremls stoppte, reagierte der „gewählte“ ukrainische Präsident zunächst mit Repressionen. Diese konnten die Proteste jedoch nicht stoppen und Anfang 2014 hatten sie ein solches Level erreicht, dass nur noch ein brachiales Vorgehen das politische Überleben des Regimes hätte sichern können. Hierfür standen, außer ein paar Spezialkräften, allerdings weder Militär- noch Polizeiapparat zur Verfügung und auch die Oligarchen, die die ukrainische Wirtschaft kontrollierten und um gute Geschäfte im Westen fürchteten, gingen auf Abstand zum gewählten Präsidenten. Unter diesem Eindruck gelang es dann der Opposition, einen Teil der bisherigen Unterstützer Janukowytschs von der Ernennung eines Übergangspräsidenten zu überzeugen. Noch vor seiner offiziellen Absetzung floh Janukowytsch nach Russland, ein Übergangs-Nachfolger wurde vom Parlament gewählt und die Geschichte nahm ihren bekannten Lauf. Noch am selben Tag gingen nun dort, wo Janukowytsch viele Anhänger hatte, die Menschen gegen seine Absetzung auf die Straße und die lokalen und regionalen Machthaber verweigerten Kiew die Gefolgschaft. Kurz darauf folgten „grüne Männchen“, also irreguläre russische Truppen, die die örtlichen Separatisten (man könnte sie auch als „Konterrevolutionäre“ bezeichnen) unterstützten und keinen Monat später erfolgte auf der Krim ein Referendum, durch das die Halbinsel seither de facto Teil der Russischen Föderation und damit für die ukrainische Armee unangreifbar geworden ist. In der restlichen Ostukraine setzten sich die Kämpfe zwischen dem ukrainischen Militär und den Separatisten, die sich zum Teil ja auch aus ehemals ukrainischem Militär rekrutierten, jedoch unvermindert fort und insbesondere in den Gebieten um Donezk und Luhansk, die sich zu unabhängigen Volksrepubliken erklärten, hatte die Kiewer Zentralregierung nun keinen Durchgriff mehr. Erst mit zunehmender Stabilisierung der neuen Macht- und Verwaltungsstrukturen im Kiewer Staatsapparat, insbesondere nach der Wahl von Poroschenko im Sommer 2014 zum Ukrainischen Präsidenten, gelang es der Armee allmählich, die von Russland inoffiziell unterstützten Separatisten in die Enge zu treiben, bis sich beide Seiten 2015 auf einen Waffenstillstand und den Minsk-Prozess verständigten.

Hätte sich Poroschenko damals nicht darauf eingelassen und versucht, die Separatisten zu besiegen, wäre Russland vermutlich schon 2015 offiziell in die Ukraine einmarschiert, um einen solchen „Genozid“ (das wäre wohl auch damals schon der Vorwand gewesen) zu verhindern. Poroschenko hat deshalb die Bedingungen akzeptiert, wohlwissend, dass mit diesem schwelenden Konflikt für die Ukraine die Mitgliedschaften in der EU und der NATO verbaut sein würden.
Putin wiederum konnte damit vorerst seine größte Sorge beseitigen, dass mit der Ukraine die nächste und so bedeutende ehemalige Sowjetrepublik endgültig an die westlichen Systemrivalen verloren geht. Außerdem verschaffte er sich auf diese Weise Zeit, um zum einen die eigenen Streitkräfte zu stärken – kurz zuvor sprach Obama von der „Regionalmacht Russland“ – und um zum anderen sein Hauptproblem bei Kriegen zu lösen, nämlich die Proteste und Widerstände im eigenen Land. Heute nun sind ihm die Oligarchen und sein „Inner circle“ dank Zuckerbrot und Peitsche höriger denn je zuvor. Und durch Einschränkung der Pressefreiheit, Dezimierung der Opposition und mit einem brutalen Polizeiapparat ist für Putin auch die Gefahr eines Volksaufstandes wegen des Krieges heute deutlich geringer als 2015 – wenn auch immer noch nicht null, wir sehen ja die Proteste.

Die Entwicklung ab 2015

Es war sicher nicht Putins Wunschergebnis, welches er 2015 mit dem Waffenstillstand und dem Minsker-Prozess in der Ukraine erzielte. Aber in der damaligen Situation hatte er vermutlich geringe militärische Spielräume, war seine Armee zu diesem Zeitpunkt doch stark im Syrien-Krieg engagiert und mit der Bombardierung der dortigen Bevölkerung beschäftigt. Einen zweiten kriegerischen Großkonflikt wollte Putin daher zunächst vermeiden, zumal er sich damals auf dem Höhepunkt seines weltweiten Ansehens befand. Mit dem Platzen der Immobilienblase 2007, der anschließenden Subprime-Krise und dem Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008 schlitterten die USA in eine massive Wirtschaftskrise und im Anschluss seit 2010 viele EU-Länder in eine lang anhaltende Eurokrise. Zeitgleich wurden von Wikileaks immer mehr US-amerikanische Kriegsverbrechen aufgedeckt und spätestens seit dem NSA-Skandal und der spektakulären Flucht von Edward Snowden im Jahr 2013 nach Russland war das globale Sympathiekonto von Putin prall gefüllt, während die USA ökonomisch wie moralisch entblößt dastanden und der Westen in sich völlig zerrissen war.
Statt auf ein militärisches Vorgehen in der Ukraine, setzte Putin daher auf eine andere Karte, seine ebenfalls zunehmenden Erfolge auf der hybriden Ebene der Auseinandersetzung zwischen seiner Autokratie und dem freiheitlich-demokratischen, rechtstaatlichen Gesellschaftsmodell, sei es in anglo-amerikanischer, europäischer oder ostasiatischer Prägung. So beförderte Putin bereits seit Jahren die un- und antidemokratischen Kräfte in den verschiedenen Ländern dieser Bündnisse und mit Russia Today und anderen von Moskau abhängigen Medien nahm Putin Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung. Daneben wurden rechte und staatszersetzende Publikationen oder auch Kampagnen wie die „Leave Campaign“ der Brexiteers direkt oder indirekt aus Russland unterstützt – gut möglich, dass ohne diesen Support aus Moskau das Vereinigte Königreich heute noch Teil der EU wäre!
Dazu pflegten Putin, sein Umfeld und sein Apparat seit Jahren enge Beziehungen zu Parteien, wie der FPÖ oder der AfD, und zu Politikern und Politikerinnen, wie Marine Le Pen in Frankreich oder Viktor Orbán in Ungarn. Und auch wenn die Situation in der Ukraine für Putin nicht ideal war und es in Syrien nur schleppend vorranging, sah die Welt für ihn schon wieder deutlich besser aus, als die EU ab 2016 mit den Brexit-Folgen kämpfte und in den USA 2017 Donald Trump sein Amt als US-Präsident antrat.

Während Putin aber in den letzten vier, fünf Jahren die Situation in Syrien allmählich zu seinen Gunsten drehen konnte – Assad sitzt heute wieder fest im Sattel – hat sich die Situation in der Ukraine auch unter den geopolitisch günstigen Umständen mit einem selbstbeschäftigten Europa und nicht minder selbstbeschäftigten USA nicht im Sinne Putins entwickelt. 2018 trat die Ukraine aus der GUS aus und ist damit nach Estland, Lettland, Litauen und Georgien nun die 5. Ehemalige Teilrepublik der UdSSR, die nicht mehr Teil des sowjetischen Nachfolgebündnisses ist. Auch kulturell hat sich mit der Etablierung von Russland unabhängiger Medien in der Ukraine viel getan und überdies ist mit der Entstehung einer eigenständigen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche und damit der Abspaltung von der Russisch-Orthodoxen Kirche auch der religiöse Einfluss Moskaus in der Ukraine geschwunden.
Gleichwohl war Petro Poroschenko immer so schlau, die Volksrepubliken im Donbas weitestgehend in Ruhe zu lassen, obwohl es stets Provokationen und Zusammenstöße, auch Verletzte und Tote gab. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 schaffte es Poroschenko mit dieser Politik dann aber auch nur haarscharf in die Stichwahl, bei der er letztlich dem Komiker und Schauspieler Wolodymyr Selenskyj, der im Wahlkampf mit vollmundigen Versprechen auftrumpfte, haushoch unterlag.

Im Amt angekommen bekräftigte Selenskyj dann zunächst sein zentrales Wahlversprechen, die Ukraine von den alten Eliten zu befreien und in die EU und die NATO zu führen. Aber auch er stand nun wieder vor dem (einst von Diplomaten bewusst geschaffenen) Hindernis, dass eine solche Mitgliedschaft ausgeschlossen ist, bis die Situation in der Ostukraine abschließend in einen stabilen und friedlichen Zustand überführt ist – so wie das früher mal bei BRD und DDR der Fall war oder wie man das heute für Zypern und Nordzypern sagen kann. Zwar hatte Selenskyj hierzu im Wahlkampf angekündigt, mit Putin zu sprechen und diese Probleme im Dialog mit Russland auszuräumen. Jedem halbwegs politischen Menschen war aber klar, dass das nicht gelingen kann. Da Putin unter allen Umständen eine Westbindung der Ukraine verhindern wollte und will, hatte und hat er seinerseits natürlich niemals ein Interesse an einer solchen Streitbeilegung – zumindest nicht zu realistischen Konditionen. Selbst wenn Selenskyj angeboten hätte, die Krim abzutreten und die Volksrepubliken in die Eigenständigkeit zu entlassen, wäre das für Putin ja nicht hinnehmbar gewesen, weil er damit den Weg für die restlichen 95% der Ukraine in EU und NATO freigemacht hätte und dadurch zementiert wäre, was er ja eigentlich zu revidieren versucht.

Doch anstatt in dieser Situation einzulenken und dem ukrainischen Volk endlich mal reinen Wein einzuschenken, dass eben auch der gewählte Präsident einer souveränen Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, sein Land nicht gegen den Willen eines Moskauer Despoten in EU und NATO führen können wird, versuchte er genau das: Die Armee wurde gestärkt, bekam Kampfdrohnen, und auch verbal bereitete Selenskyj sein Land darauf vor, über kurz oder lang die Kontrolle über die Separatistengebiete militärisch zurückzuerlangen. Allerdings blieb ihm auch kaum eine andere Chance, denn einem Verzicht auf sein zentrales Wahlkampfversprechen der Westbindung, für welches ihn viele Menschen in der Ukraine gewählt hatten, wäre wohl sein baldiges politisches Ende gefolgt. Letztlich – und das ist ja gerade der Unterschied zu Putins Autokratie – hängt die Politik in der demokratischen Ukraine eben nicht in erster Linie von den verqueren Wünschen eines durchgeknallten Präsidenten ab, sondern vor allem vom Willen des ukrainischen Volkes. Und spätestens bei der nächsten Präsidentschaftswahl hätte sich dieser Volkswille vermutlich wieder durchgesetzt und Selenskyj wäre es ähnlich ergangen wie zuvor Poroschenko.
Insofern stellte sich „dem geneigten Beobachter“ schon im Jahr 2020 die Frage, ob eine militärische Eskalation in diesem Territorialkonflikt überhaupt noch zu verhindern ist.

Der Territorialkonflikt

Viele Konflikte kann man dadurch lösen, dass man von außen für die Konfliktlösung bezahlt. Wenn sich zwei Länder über Schürf- oder Fischereirechte streiten, kann ein unbeteiligtes Land oder die Weltgemeinschaft den Streit lösen, indem man jene Streitpartei, die auf ihre Rechte verzichtet, kräftig entschädigt. Es reicht bei solchen Konflikten also schon aus, eine der beiden Seiten von einem anderen Weg und einem Nachgeben zu überzeugen.
Bei Territorialkonflikten, also der Frage, wem ein spezielles Stück Land gehört, wer dort die Kontrolle und die Gestaltungshoheit hat, ist das hingegen oft anders, weil es jeden Flecken der Erde halt nur einmal gibt und finanzielle Entschädigungen in diesen Fällen meist für keine der Streitparteien eine akzeptable Alternative sind. Insofern kann eine Lösung bei Territorialkonflikten aber nur von den Beteiligten selbst unter gegenseitigem Verzicht und nicht von außen herbeigeführt werden. Aus diesem Grund beschäftige ich mich auch selten mit dem Gaza-Konflikt. Nicht, weil mir das Leid der Israelis egal wäre, die von der Hamas mit Raketen beschossen werden. Nicht, weil mir das Leid der Palästinenser egal wäre, wenn die israelische Armee Gaza-Stadt bombardiert. Sondern weil ich weiß, dass Außenstehende zwar Hilfe anbieten können, eine (dauerhafte) Befriedung aber alleine vom Einigungswillen der Akteure vor Ort und auf beiden Seiten gleichermaßen abhängig ist.

Und das gilt ähnlich in der Ukraine. Auf der einen Seite steht das ukrainische Volk, das eine starke, eigenständige, faktisch und völkerrechtlich souveräne Nation ist (mit allen Rechten und Pflichten) und als Staat eine Westbindung anstrebt und Teil der EU sein möchte. Und auf der anderen Seite steht Putin – freilich nicht mit dem Recht im Rücken, dafür aber mit einer umso stärkeren russischen Armee – der all das verhindern will und am liebsten mindestens zurück in den Zustand vor 2014 möchte mit einem Moskau-treuen Präsidenten in Kiew.
Um einen friedlichen Weg einzuschlagen, hätte man also spätestens 2020 handeln müssen und versuchen, zwischen dem ukrainischen Volk und Putin zu vermitteln – genau das wäre der Job von Selenskyj gewesen, aber auch allen Verantwortlichen in EU und NATO. Stattdessen hat westliche Politik aber lieber damit kokettiert, wie interessant man doch für die Ukraine sei und hat Selenskyj auf seinem Weg zur Westbindung eher bestärkt als gebremst. Und nun weiß man zwar nicht, wie weit die Forderungen von Putin letztlich reichen. Wenn er mehr will als den Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft, z.B. eine völlige Demilitarisierung, oder bei den Gebietsforderungen über Krim und die von den Separatisten bislang kontrollierten Gebiete hinausgeht, dann ist das einfach für die Ukraine nicht erfüllbar. Gleichwohl wäre es dennoch sinnvoll gewesen, zumindest zu versuchen, der Entwicklung der Ukraine im Dialog mit Putin einen Rahmen zu geben, z.B. mit einem vertraglich zugesicherten Verzicht auf eine offizielle NATO-Mitgliedschaft oder auch durch Rüstungsbeschränkungen für die ukrainische Armee.
Anstatt Selenskyj zu vermitteln, man begrüße seine Schritte zur Westbindung, hätte man für Zurückhaltung werben und Selenskyj helfen müssen, von seinem hohen Wahlversprechens-Ross herabzusteigen und beim ukrainischen Volk Verständnis für die komplizierte außenpolitische Lage zu schaffen. Mit Blick auf die weitreichenden geostrategischen Forderungen von Putin – man lese, was er zu Georgien denkt, man schaue, was er in Transnistrien macht, und man höre, wie er über das Baltikum spricht – ist allerdings fraglich, ob eine solche „Appeasement-Politik“ wirklich eine dauerhafte Stabilität zur Folge gehabt hätte. Gut möglich, dass eine für Putin zufriedenstellende Lösung in dem einen territorialen Konflikt, nur zur Verschärfung anderer territorialer Konflikte geführt hätte – etwas, was uns jedoch nach einem für Putin zufriedenstellenden militärischen Ergebnis in der Ukraine genauso passieren kann.

Die Entwicklung seit 2020

Die regelmäßigen Menschenrechtsverstöße, das Bomben in Syrien, der Tiergartenmord 2019, der Umgang mit Journalisten – die Sympathien, die Putin während und nach dem NSA-Skandal und Snowdens Flucht aus den USA einige Jahre lang genoss, hatte er bis 2020 wieder vollständig verspielt. Und seitdem hat sich das Blatt für Putin auch in anderer Hinsicht weiter verschlechtert. So drohte ab Sommer 2020, dass sich in Minsk das 2014er Schauspiel von Kiew wiederholt. Nach einer unfairen und gefälschten Wahl waren es diesmal die Belarussen, die gegen ihren „demokratisch gewählten“ Präsidenten Lukaschenko auf die Straße gingen, um nach ukrainischem Vorbild einen Umsturz und einen demokratischen Neuanfang im Land herbeizuführen. Anders aber als in der Ukraine, war der Staatsapparat in Weißrussland jedoch bereit, den Befehlen der Führung zu folgen und auf die eigene Bevölkerung zu schießen.
Im Ergebnis dürfte sich Putin zwar gefreut haben, konnte er doch in dieser Zeit Lukaschenko mit Rat und Tat zur Seite stehen, z.B. wenn es um das Abfedern von Sanktionen ging, und damit die Zügel bei seinem belarussischen Vasallen wieder so richtig fest anziehen – Minsk ist nun abhängiger von Moskau denn jemals zuvor seit der Eigenständigkeit im Jahr 1991. Gleichwohl wurde Putin damit aber ein weiteres Mal vor Augen geführt, wie fragil seine eigene Autokratie und sein eurasischer Autokraten-Verbund in Wahrheit sind. Denn nicht nur in Belarus, sondern auch dem fast zeitgleich stattfindenden Konflikt um Bergkarabach zeigte sich diese Brüchigkeit. Dort kämpften mit Armenien und Aserbaidschan sogar zwei Nachfolgestaaten der UdSSR bzw. zwei GUS-Mitglieder gegeneinander. Daran sieht man auch, wie wertlos dieser Zusammenschluss inzwischen ist. Und im wichtigeren, engeren Verteidigungsbündnis mit Russland, also dem Vertrag über kollektive Sicherheit, stehen von den ehemaligen Sowjetrepubliken heute sowieso nur noch Belarus, Kasachstan, Armenien, Kirgisistan und Tadschikistan an der Seite von Putin.

Hinzu kam dann der neue Präsident in Kiew, der sich ob der ukrainischen Anliegen und Forderungen wenig verhandlungsbereit zeigte. Und während überdies durch Europa und Russland die große Corona-Winterwelle zog, zog mit Joe Biden im Januar 2021 dann auch noch im Weißen Haus ein anderer Schlag von Präsident und US-amerikanischer Außenpolitik ein. Und auch wenn wir in Deutschland in dieser Zeit dem wachsenden Druck nach Waffenlieferungen in die Ukraine stets standgehalten haben, waren natürlich die USA und andere NATO-Mitglieder schon längst dabei, die ukrainische Wehrfähigkeit zu erhöhen – die Türkei lieferte Drohnen, aus den USA kamen Panzerabwehrraketen und bei der Aus- und Fortbildung der Streitkräfte war „der Westen“ der Ukraine auch gerne behilflich. Für Putin lief die Zeit für eine militärische Lösung in diesem Konflikt damit eindeutig gegen ihn, denn mit jedem Monat wurde die Ukraine nun stärker.
Von seinem persönlichen Alter mal ganz zu schweigen, läuft die Zeit aber auch auf wirtschaftlicher Ebene rasend schnell gegen Putin und Russland, denn mit der Reduktion der CO2-Emissionen wird auch die Nachfrage nach den russischen Hauptexportgütern Öl und Gas in den nächsten 20 Jahren nicht mehr groß steigen, also kein reales Wachstum mehr erzeugen, und irgendwann dann sinken, also Einnahmeausfälle und wachsende Arbeitslosigkeit hervorrufen. Und als wäre das nicht genug, haben über die letzten Jahre niedrige Rohstoffpreise sowie Sanktionen wegen diverser russischer Vergehen sowie russische Gegensanktionen die dortige Volkswirtschaft gebremst. Gleichzeitig – das muss man sehen – hat der erschwerte Handel mit Europa und den USA die russische Wirtschaft aber auch ein Stück weit autarker gemacht bzw. zu einer Verlagerung des Außenhandels hin zu strategischen Partnern geführt. Gingen 2013 noch 25% der russischen Exporte nach Deutschland, Italien und in die Niederlande, sank dieser Anteil bis 2019 auf 19%. Und umgekehrt stieg der Anteil der Exporte nach China, Indien, Belarus und in die Türkei im selben Zeitraum von 15,5% auf 25% an. Auch Brasilien und Ägypten waren mit einem Anteil von 2% im Jahr 2019 doppelt so wichtige Abnehmer wie noch 2013. Und beim Import gibt es ähnliche Verschiebung. Hier nahm der Anteil der Importe aus China, Indien, Belarus und der Türkei von 22,7% im Jahr 2013 auf 28,5% im Jahr 2019 zu [2]. Es ist anzunehmen, dass sich diese Entwicklung in den letzten Jahren fortgesetzt hat, auch wenn Europa weiterhin der zentrale Markt sowohl für den Absatz von Rohstoffen als auch den Einkauf z.B. von Maschinen und Spezialgeräten geblieben sein dürfte. Dass die Öl- und Gaspreise 2021 wieder deutlich gestiegen sind, hat die wirtschaftliche Lage für Putin nun zwar kurzfristig wieder deutlich verbessert, langfristig bleibt für Russland die Problematik der grünen Energiewende aber bestehen und setzt Putin damit auch ökonomisch unter Handlungsdruck.

Die Monate vor dem Krieg

Auch wenn es für die russische Volkswirtschaft in den letzten Jahren weniger vorwärts, sondern eher in eine zunehmende Abhängigkeit von China ging, konnte Russland mit der Zeit große Geldreserven aufbauen und die steigenden Rohstoffpreise der letzten Monate haben Putins ökonomischen Handlungsspielraum noch einmal zusätzlich erweitert. Umgekehrt hat Putin (mit kräftiger Hilfe europäischer und vorneweg deutscher Politikerinnen und Politiker) in der Vergangenheit vieles dafür getan, um insbesondere bei der Gasversorgung den Handlungsspielraum Europas zu verringern, z.B. durch die Entwicklung neuer Pipeline-Routen (beileibe nicht nur Nordstream I und II), durch den Erwerb strategischer Infrastruktur (z.B. Gasspeicher) oder durch die Verhinderung einer europäischen Diversifizierung im Energiebereich mittels politische Einflussnahme (prominentester Fall, aber nicht der einzige: Gerdgas-Schröder). Ökonomisch war Russland damit schon 2021 für einen Feldzug gut gewappnet und das Anziehen der globalen Wirtschaft nach den tiefen Dellen der Corona-Pandemie würde unter normalen Umständen auch für die nächsten Jahre eine deutlich positive Entwicklung für Russland erwarten lassen.

Politisch brodelt es da hingegen schon mehr in Putins Welt. Nawalny sitzt zwar seit seiner Rückkehr nach Russland Anfang 2021 im Gefängnis, innenpolitisch allerdings Putin dennoch weiterhin im Nacken – vielleicht auch symbolisch, weil Putin zunehmend Angst haben muss, mal selbst dort zu landen, wo sich Nawalny gerade befindet. Daneben bekommt Putin das Nachbarland Belarus nur über die massive Gewalt von Lukaschenkos Staatsapparat kontrolliert und im Kaukasus hält er auch nur mit Müh und Not den Deckel auf den Konflikten. Gleichwohl hat er in all diesen Fällen noch die Kontrolle und droht diese bislang auch noch nicht zu verlieren.
Was die Ukraine anbelangt, sah das jedoch anders aus. Auf dem Verhandlungswege war für Putin gegen Selenskyj kein Blumentopf zu gewinnen und mit jeder westlichen Rüstungshilfe verschlechterte sich die militärische Position Putins. Er hat zwar noch bei weitem die absolute Oberhand, kann die Ukraine also problemlos in Schutt und Asche legen (ob er damit seine politischen Ziele erreicht, steht auf einem anderen Blatt), aber auf Dauer wäre diese militärische Drohung gegenüber der Ukraine immer schwächer geworden.
Das Afghanistan-Debakel der NATO hat dann womöglich Putins Hoffnung zusätzlich genährt, dass eine militärische Lösung in der Ukraine zurzeit noch mit recht geringem Aufwand möglich sei – wenn schon die Taliban „Sleepy Joe“ mit drei Raketenwerfen und ein paar Maschinengewehren vertreiben können und so in Kabul die Macht übernehmen, dann sollten die russischen Streitkräfte das doch allemal schaffen, wenigstens in der Ostukraine, vielleicht auch in Kiew. Und was die NATO anbelangt, hat Putin ja letztlich auch Recht behalten: Die NATO-Länder kämpfen ja gerade nicht in der Ukraine, sondern haben ihr Personal schleunigst abgezogen – mit der Erfahrung aus Afghanistan hat es diesmal bei der Evakuierung dann ja auch ganz gut geklappt. Womit Putin, ich und so ziemlich alle anderen Beobachter aber nicht gerechnet haben, waren der riesige Widerstandswille und die unglaubliche Kampfleistung der Ukrainerinnen und Ukrainer. Vielleicht hat Putin in dem Punkt auch mehr Recht, als ihm lieb sein kann, dass nämlich die Ukrainer sehr viel Ähnlichkeit mit den Russen haben – ein gutes Stück irre und mit Todesmut und Kampfgeist, wenn es um die Verteidigung ihre Heimat geht. Nur mal zum Vergleich: In Afghanistan sind bewaffnete „Berufssoldaten“ vor den Taliban weggerannt, in der Ukraine haben sich unbewaffnete Zivilisten vor russische Panzer gestellt.

Insofern könnte es im Herbst 2021 für Putin aber tatsächlich noch so ausgesehen haben, als wäre es für ihn möglich, mit einer kurzen und begrenzten „Militäroperation“ in der Ukraine all jene Ziele zu erreichen, die er auf diplomatischem Wege sonst niemals gegen Selenskyj durchbekommen würde. Wenn die NATO kuscht wie in Afghanistan, werden die „vaterlandslosen Marionetten“ der Kiewer Regierung möglichst schnell das Weite suchen und dann wird die breite Masse der Bevölkerung den Machtwechsel eingeschüchtert von russischen Panzern und beschwichtigt von russischer Propaganda schon über sich ergehen lassen – so oder so ähnlich könnte Putins Plan ausgesehen haben.
Und als hätte es noch eines finalen Beleges bedurft, dass schon ein paar Spezialkräften ausreichen können, um ein ganzes Volk zum Stillhalten zu bringen, gelang es Putin im Januar 2022 binnen weniger Tage die aufflammenden Proteste gegen die Regierung im verbündeten Kasachstan, ein Land mit immerhin knapp 20 Mio. Einwohnern, bereits im Keim zu ersticken. Der Preis für die dortige Bevölkerung waren nach offiziellen Angaben über 200 tote, über 4.000 verletzte und über 7.000 verhaftete Protestierende [3].
Möglicherweise hat dieser Einsatz in Kasachstan aber auch Putins Zeitplan nochmal durcheinandergeworfen. Zumindest hinsichtlich der Gasversorgung Europas wäre Putins Erpressungspotential bei einem Einmarsch zum Jahresbeginn nochmal deutlich größer gewesen und der Ukraine hätten – möglicherweise entscheidende – Wochen und vielleicht auch manch eine Waffenlieferung für die Vorbereitungen zur Verteidigung gefehlt.

Meine Fehleinschätzung

Nachdem an den Händen von Putin bereits das Blut von Tschetschenen und Georgiern, von zehntausenden Syrerinnen und Syrern, zuletzt hunderten Kasachen und über Jahre hinweg von unzähliger Journalisten und Oppositionellen hängt, habe ich mir spätestens seit den Fassbomben auf Aleppo keinerlei Illusionen mehr gemacht: Für Putin ist das Töten von Zivilisten offenkundig ein Mittel zur Zielerreichung und zwar noch nicht mal das letzte Mittel, sondern einfach nur eines von vielen. Insofern habe ich die Drohung eines Einmarsches von Anfang an ernst genommen und war überzeugt, dass er zu einem Krieg gegen die Ukraine grundsätzlich bereit ist.
Genauso wenig mache ich mir Illusionen, dass es Putin auf Dauer nur um die Ukraine oder die NATO-Mitgliedschaft einzelner Länder geht. Sein strategisches Fernziel ist mindestens die Sicherung des Moskauer Einflusses in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, z.B. im Kaukasus oder in Moldawien, das sich seit 2010 kontinuierlich und zuletzt in immer größeren Schritten von Moskau entfernte. Mit seiner Unterstützung unter anderem von Transnistrien, Südossetien, Abchasien oder Arzach macht Putin ja bereits seit langem unmissverständlich klar, dass er auch dort die völkerrechtliche Situation nicht anerkennt und jene Länder, zu denen diese Gebiete offiziell gehören, als dauerhaftes russisches Einflussgebiet ansieht. Das heißt zwar nicht, dass er demnächst auch in Georgien, Moldawien oder gar dem Baltikum einmarschieren wird. Aber er wird militärisch auf jeden Fall alle (konventionellen) Mittel einsetzen, um einen weiteren Einflussverlust in diesen Ländern zu verhindern – und anders als 2000 oder 2010 sind die russischen Streitkräfte heute dazu auch in der Lage, vielleicht abgesehen vom NATO-geschützten Baltikum.
Allerdings halte ich Putin auch für äußerst rational, extrem auf die Sicherung seiner eigenen Position in Russland bedacht und auch sehr eitel und damit – anders als beispielsweise Xi Jinping – auch an einem hohen persönlichen Ansehen außerhalb Russlands interessiert. Insofern gehe ich bis heute davon aus, dass Putin bei seinen politischen Entscheidungen stets abwägt zwischen den strategischen Zielen und den Vor- und Nachteilen für seine innen- sowie außenpolitischen Positionen (Letzteres ist in vielen Fällen gleichzusetzen mit dem außenpolitischen Gewicht Russlands). Rückschläge bei seinen strategischen Zielen sind für ihn inakzeptabel, aber vom Status quo ausgehend überlegt er, wie er innen, außen und strategisch die größtmöglichen Gesamtfortschritte erzielt.

Was sein großes Fernziel anbelangt, musste Putin sich tatsächlich in der Ukraine sorgen machen. Die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk haben im aktuellen, irregulären Zustand wenig Chancen auf wirtschaftliche Prosperität und eine solide Zukunft. Und mit dem neue Präsident Selenskyj und der Militärhilfe der NATO war im „Gesamtkomplex Ukraine“ für Putin ohne Intervention auch keine positive Entwicklung zu erwarten. Zudem musste der Alleinherrscher Putin befürchten, dass ein Verzicht auf Gegenmaßnahmen, innenpolitisch sowie von all den Moskau-treuen Vasallen in fremden Hauptstädten als Schwäche interpretiert werden könnte. Es war daher anzunehmen, dass Putin nicht einfach zusehen und abwarten würde.
Gleichzeitig konnte und kann ich mir bis heute nicht vorstellen, dass man mit 200.000 Mann die Ukraine einnehmen und stabil kontrollieren kann – wäre im Vorfeld von 600.000 Soldaten die Sprache gewesen, wäre ich vielleicht zu einer anderen Einschätzung gekommen. So aber kommt gerademal ein Soldat auf drei Quadratkilometer Fläche bzw. auf 200 Ukrainerinnen und Ukrainer und das auch nur dann, wenn kein einziger Soldat im Kampf fällt und niemand mit Organisation, Transport oder Versorgung betraut ist – und Essen und Schlafen müssen die russischen Soldaten zwischendurch ja auch mal.
Hochgerechnet entspricht diese Personalstärke gerademal der Polizeidichte in Deutschland – und da wird mir jeder zustimmen, dass das einfach zu wenig Personal ist, um damit einen ordentlichen Polizeistaat aufzuziehen. Und das dürfte umso mehr bei einem ukrainischen Volk gelten, das in den letzten 20 Jahren zweimal den Russland-treuen Janukowytsch verhindert bzw. vertrieben hat, und einen ukrainischen Staatsapparat, der mit Rückgrat an der Seite dieses Volkes steht. Selbst wenn Selenskyj eine bedingungslose Kapitulation unterschreiben würde, fällt die Ukraine nicht einfach an Putin, weil die Menschen das dort einfach so nicht mitmachen würden. Das Land käme wohl von einem Generalstreik in den nächsten Generalstreik und vermutlich gäbe es auch eine Untergrundbewegung und immer wieder Anschläge auf die russischen Besatzer – ein Tschetschenien (1,2 Mio. Einwohner) in riesig.

Insofern erschien mir der Gedanke, dass Putin auch nur im Entferntesten einen Angriff auf die Gesamtukraine und eine anschließende Übernahme plant, als völlig absurd. Gut vorstellen konnte ich mir hingegen, dass Putin nach der „militärischen Unterstützung der Volksrepubliken“ einen Krieg in der Ostukraine provoziert, um dann mit zehntausenden Soldaten in einer gezielten Aktion zunächst Geländegewinne zu erreichen, z.B. den Landzugang zur Krim oder in den ländlichen Regionen der Nordostukraine, und diese dann in einem aufgezwungenen Friedensvertrag gegenüber einer neutralen, NATO-freien Restukraine abzusichern. Das hätte nach meiner Analyse die aus Sicht Putins rationale Entscheidung sein müssen. Er konnte seine (faktisch und völkerrechtlich unberechtigten) Forderungen gegenüber der Ukraine nur militärisch durchsetzen und mit einem solchen Angriff hätte er auch aller Welt (und seinen eigenen Leuten) zeigen können, dass er in der Lage ist, selbst ein 40 Mio. Einwohner Land problemlos militärisch in die Knie zu zwingen und seine Interessen brachial durchzusetzen.
Die Restukraine, aber auch NATO und EU hätten erst einmal einen schweren Schlag zu verdauen gehabt – das Leid, die Vertreibung und Migrationsbewegung aus der Ostukraine, die ökonomischen Folgen, die Niederlage. Gleichzeitig hätte Putin nach einem „begrenzten Militäreinsatz“ noch einigermaßen leicht behaupten können, es sei nur um die Verhinderung von Russophobie, den Schutz russischsprachiger Minderheiten und zentrale Sicherheitsinteressen gegangen – (Schein)Argumente, die nach dem jetzigen „full scale“ Angriff auf die Gesamtukraine, im Norden auf Kiew oder im Südwesten auf Odessa, den letzten Rest an Substanz verloren haben. Und nun mag man in Europa fragen, ob das überhaupt eine Rolle spielt, aber in einer Welt, in der Putin nicht nur von China und glasklaren Autokraten unterstützt wird, sondern eben auch gute Beziehungen zu Indien, in den Nahen Osten, zu jemandem wie Erdogan (da ist die NATO-Mitgliedschaft interessanterweise nachrangig) oder zu semi-demokratischen Ländern in Afrika, Süd- oder Mittelamerika hat, macht das schon einen Unterschied, ob Russland unter Vorwänden eine 2-wöchige „militärische Intervention“ durchführt oder einen offenkundigen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land startet, dessen Bevölkerung sich im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen und Füßen gegen diese Invasion stemmt.

Am Abend des 23. Februar 2022 hatte Putin daher noch eine bombastische Verhandlungssituation („wenn Waffenlieferungen nicht gestoppt werden, greife ich an“; „wenn NATO-Mitgliedschaft nicht ausgeschlossen wird, greife ich an“) und in den nächsten Wochen hätte er den Konflikt mit vielen Nadelstichen weiter eskalieren können und mit seinen Spielchen am Rande des Erlaubten und über diesen Rand hinaus in der EU und in der NATO sowohl Diskussionen als auch Risse heraufbeschwören.
Die Option zur militärischen Durchsetzung der Territorialforderungen hätte er zwar trotzdem noch ziehen müssen, weil die ukrainische Seite ja niemals im vorauseilenden Gehorsam Gebiete an Russland abgetreten hätte. Aber eingepackt in eine kurze Militäraktion innerhalb eines längeren Konfliktes, hätte er sich vermutlich einiges an außenpolitischem (und ökonomischem) Ärger erspart – nicht bei der EU oder der NATO, aber vielleicht bei der Schweiz oder auch der Türkei.
Der breitflächige Angriff auf die Ukraine, insbesondere von Belarus aus Richtung Kiew, hätte nach meiner Einschätzung also nie stattfinden dürfen, weil es eine irrationale Entscheidung war – der Angriff hat jedoch stattgefunden! Entweder habe ich mich in Putin getäuscht und er ist gar nicht rational, wogegen zwar Vieles aus der Vergangenheit spricht, was ja aber nicht zwangsläufig auch in der Gegenwart noch gelten muss – Nero soll am Ende Rom angezündet und anschließend Harfe gespielt haben, vielleicht tanzt bald auch Putin mit der Balalaika durch den Kreml. Oder Putin ist schlicht und ergreifend von falschen Tatsachen ausgegangen, beispielsweise, weil ihm geschönte Berichte über die Stimmung in der Ukraine vorgelegt wurden oder man im Kreml die nicht sonderlich hohen Zustimmungswerte für Selenskyj als schwelenden Wunsch der ukrainischen Bevölkerung nach einer Rückkehr in die Zeit vor 2014 fehlinterpretiert hat. Meiner Fehleinschätzung bezüglich des breitflächigen Angriffs auf die Ukraine könnten daher auch einfach falsche Annahmen auf Seiten der russischen Geheimdienste zugrunde liegen.

Meine viel größere Fehleinschätzung war deshalb, dass ich nach dem Komplettangriff auf die Ukraine keinen Pfifferling darauf gewettet hätte, dass die Ukraine nach einem Monat noch als eigenständiges Land existiert. Vielleicht hätte es noch in Kiew und in ein paar Städten im Westen militärischen Widerstand gegeben, aber von den meisten Rathäusern hatte ich schon russische Flaggen wehen sehen. Und das tut mir unendlich leid, weil ich dem ukrainischen Volk meine eigene Verweichlichung unterstellt und damit viel Unrecht getan habe. Ich kann hier nur um Verzeihung bitten!

Putins Fehleinschätzung

Eine ähnliche Fehleinschätzung bezüglich der militärischen Stärke könnte aber auch im Kreml vorgelegen haben, sodass sich Putin durchaus erhofft haben könnte, mit Hilfe seiner Streitkräfte zwar nicht die gesamte Ukraine, aber doch wenigstens weite Gebiete rechts des Dnepr, vielleicht die Hauptstadt Kiew und dazu noch einen Korridor nach Moldawien bzw. Transnistrien relativ zügig erobern zu können. Zusammen mit der Fehlannahme, dass er in manchen Landesteilen noch einige Anhänger habe und vielen Menschen auch gleichgültig sei, ob nun ein Putin im fernen Moskau oder ein Selenskyj im fernen Kiew regiert, könnte es auf Putin in diesem Moment tatsächlich rational gewirkt haben, einen Feldzug in dieser Form zu starten, um damit seine territorialen Forderungen durchzusetzen. Und vielleicht wäre sein Plan dann auch aufgegangen, denn die ersten fünf Kriegswochen hat er innenpolitisch ja nun tatsächlich gut überstanden und außenpolitisch hat sich trotz des breitflächigen Angriffs leider gezeigt, dass Israel noch immer keine Waffen an die Ukraine liefert, Indien sich über Discount-Öl aus Moskau freut – das Öl ist sozusagen subventioniert, zum Teil bezahlt mit dem Blut der Ukrainerinnen und Ukrainer – und China sowieso weiterhin fest zu Putin steht. Eine solche „kurze Militäroperation“, wie es die russische Propaganda der Welt anfangs verkaufen wollte, hätte zwar NATO und EU erzürnt, Putin de facto aber wohl wenig auf dem internationalen Parkett geschadet und ihn bei seinen strategischen Zielen dafür sehr weit vorangebracht.

Doch es kam, wie es kommen musste, nämlich ganz anders. Seit Kriegsbeginn vor fünf Wochen haben die russischen Streitkräfte nicht annährend die territorialen Gewinne erzielen können, die Militärexperten im Vorfeld des Krieges erwartet hatten, und vermutlich schon gar nicht das, was russische Geheimdienste und Armeeführung ihrem Chef in Moskau versprochen haben.
Offenkundig wurde die Ukraine sowohl im militärischen Bereich als auch hinsichtlich der Zivilbevölkerung maßlos unterschätzt und die russischen Fähigkeiten gründlich überschätzt. Putin kann zwar die Städte einnehmen, aber nur nach schweren Bombardements und unter heftigen Verlusten im Häuserkampf – ein absolutes Fiasko, angesichts der Tatsache, dass er diese Landesteile ja eigentlich samt Bevölkerung in sein Reich eingliedern wollte. Stattdessen schließen sich die Menschen dort nun der ukrainischen Armee an, werden im Kampf oder durch Putins Bomben verletzt oder getötet oder packen das Nötigste und verlassen die Region, zumindest die, die noch können. Zurück bleiben komplett zerstörte Städte und eine gnadenlos ausgedünnte Bevölkerung.
Und dadurch, dass Russland an vielen Fronten gleichzeitig auf solchen erbitterten Widerstand stößt, sowohl in den Städten, in Mykolajiw im Süden, in Mariupol im Südosten, im Nordosten bei Charkiw (englisch Kharkiv) und Sumy, als auch im ländlichen Raum, z.B. auf dem Weg nach Kiew, droht inzwischen sogar ein völliges Scheitern des russischen Feldzugs in der Ukraine. Um seine Ziele militärisch noch halbwegs durchzusetzen, müsste Putin entweder noch gewaltsamer vorgehen oder noch höhere Verluste in den eigenen Reihen in Kauf nehmen. Letzteres könnte aber innenpolitisch schwierig werden, zumal auch russische Offiziere und Generäle Kinder und Enkel haben, die dann in diesem (idiotischen) Krieg verheizt werden. Und Ersteres, also ein noch gewaltsameres Vorgehen, würde die internationalen Partner der Ukraine noch einmal stärker zusammenrücken lassen und könnte überdies dann tatsächlich dazu führen, dass auch in Indien, Israel und vielleicht noch manch einem weiteren Land umgedacht wird. Natürlich würde das Putin auch nicht direkt stoppen, aber es wäre schon eine Demütigung für ihn, wenn der im Jahr 2000 einst demokratisch frei gewählte Präsident eines unabhängigen Russlands, Vladimir Putin, als brüllender sibirischer Tiger gestartet, nun im Jahr 2022 nichts mehr weiter darstellen würde als Chinas Schoßhündchen – ein kleiner kläffender Köter, an der kurzen Leine von Xi Jinping. Und abgesehen davon, wäre eine so weitgehende Isolation für die russische Volkswirtschaft mittel- und langfristig natürlich schon ein ernsthaftes Problem.

Mit dem breitflächigen Angriff auf die Ukraine am Morgen des 24. Februars hat Putin somit seine bombastische Verhandlungsposition vom Abend des 23. Februars auf einen Schlag zerstört und gegen Proteste im Inland, Belastungen der internationalen Beziehungen und möglicherweise ein militärisches Debakel in der Ukraine eingetauscht. Welche Risiken er dabei bewusst in Kauf genommen hat und auf welche er sich möglicherweise wegen Fehlannahmen eingelassen hat, lässt sich derzeit nicht klären. Weiterhin gehe ich allerdings davon aus, dass Putin auch bei Kenntnis des Kriegsverlaufs der letzten Wochen nicht auf einen Angriff auf die Ukraine verzichtet hätte – er wäre vermutlich nur anders vorgegangen.

Die Reaktionen auf Putins Angriff

Die wichtigste Reaktion auf die russische Aggression ist mit Abstand das grandiose Aufbäumen der Ukrainerinnen und Ukrainer, mit dem vielleicht nicht mal Selenskyj oder das ukrainische Volk selbst in diesem Maße gerechnet haben. Falls Putins Erzählung doch stimmen sollte, dass die Ukraine nur eine Erfindung von Lenin war, dann ist Putin mit seinem Angriff nun auf jeden Fall zum Vollender dieser Nation geworden. Und dank der Aufopferungsbereitschaft der Bevölkerung und dem Kampfeswillen der Soldatinnen und Soldaten hat die Ukraine auch nach fünf Wochen verheerender Luftschläge und blutiger Kämpfe noch immer kaum Boden verloren.

Im Vergleich zu dieser Antwort des ukrainischen Volkes sind alle anderen Reaktionen auf den russischen Überfall nahezu bedeutungslos. Und dennoch waren auch die übrigen getroffenen Maßnahmen gegen Putins Krieg in ihrer Originalität, Intensität, und Massivität für Beobachter überraschend, vielleicht auch für den ein oder anderen Beteiligten und vor allem wohl auch für den Kreml und Putin.
So gelang es Europa und Amerika, in nur wenigen Stunden die informationellen Massenvernichtungswaffen des Kremls, „Sputnik News“ und „Russia Today“, auszuschalten sowie einen erheblichen Teil der professionellen Desinformationsnetzwerke, z.B. auf Social-Media-Plattformen oder bei YouTube, lahmzulegen. Zwar ist zu erwarten, dass sich Putins Propagandisten zügig reorganisieren werden, zunächst wurde ihre Schlagkraft damit aber deutlich eingedämmt.
In umgekehrter Richtung wurden dafür alle erdenklichen Kanäle genutzt, um die russische Bevölkerung wachzurütteln, denn klar ist, wenn morgen alle 140 Mio. Russen auf die Straße gehen, wird es in russischen Gefängniszellen zwar recht eng, aber um Putin auch ziemlich leer. Anders als 2014/2015, sind meine Hoffnungen heute jedoch gering, dass aus Russland selbst ausreichend politischer Druck auf Putin erzeugt wird, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden. Zwar bleibt die russische Öffentlichkeit das größte Risiko für Putin und der Widerstand dürfte mit zunehmender Kriegsdauer auch wachsen, allerding eine echte Gegenöffentlichkeit zu den russischen Staatsmedien gibt es heute so nicht mehr und auch die früher wenigstens noch leise wahrnehmbare russische Opposition dringt mittlerweile nur noch selten zu den Menschen durch.
Umso wichtiger ist daher vielleicht, dass mit der globalen Hackergruppe „Anonymous“ eine weitere Kraft das Regime in Moskau ins Visier genommen hat. Sollte es dem weltweiten Hackerkollektiv beispielsweise gelingen, auf russischen Regierungswebseiten Informationen über Putins Krieg in der Ukraine und zu den willkürlichen Verhaftungen in Moskau zu verbreiten oder gar russische Staatsmedien zu kapern und dort z.B. die Selenskyj-Ansprachen zu übertragen, könnte das durchaus Teile der russischen Bevölkerung zum Umdenken bringen. Schon jetzt ist ein gewisser Exodus an hochqualifizierten Personen zu beobachten und gerade jene, die im Ausland ein schönes Leben führen könnten, werden sich zunehmend Gedanken machen, ob sie wirklich mit ihren Familien in einem isolierten Überwachungs-Russland versauern wollen.

Neben den Reaktionen seitens der EU, den USA und anderer Staaten auf der Informations-Ebene und im Cyberspace sind aber auch die wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen und Sanktionen erstaunlich zielsicher und beeinträchtigen die russische Volkswirtschaft und das Leben in Russland durchaus erheblich. So wurden beispielsweise nicht nur die Lufträume über Europa und Nordamerika für russische Flugzeuge gesperrt, sondern wurden auch Leasingflugzeuge aus Russland zurückbeordert und für den Betrieb notwendige Wartungen und Ersatzteile verweigert, um die russische Luftfahrt auch im Inland hart zu treffen. In einem Land, das mehrere Zeitzonen umfasst und dessen Wirtschaft und Bevölkerung auf den Flugverkehr zwischen den Städten und ins Ausland angewiesen sind, bedeutet das mittelfristig auf jeden Fall herbe Einschnitte.
Hinzu kommen das Einfrieren der Nationalbankgelder, der teilweise SWIFT-Ausschluss und zumindest seitens der USA das vollständige Energieembargo. Auch viele Unternehmen ziehen an dieser Stelle mit und haben ihren Geschäftsbetrieb in und Handelsbeziehungen zu Russland auf eigenes Betreiben hin eingeschränkt, unterbrochen oder beendet.
Um die Oligarchen zu treffen, wurden außerdem erstmals in großem Stil Vermögenswerte eingefroren und Sanktionen verhängt, die das Leben für die ökonomischen Stützpfeiler des Putin-Regimes künftig deutlich unbequemer machen werden. Dass sich diesen Maßnahmen auch Länder wie die Schweiz und Singapur angeschlossen haben, wirkt dabei zwar wie eine Randnotiz, ist tatsächlich aber fast schon historisch – natürlich noch immer kein Vergleich zum historischen Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer um ihr Land.

Daneben haben Kulturschaffende und internationale Sportverbände reagiert und so wurde Russland beispielsweise vom IOC, von der UEFA und der Fifa ausgeschlossen. Und mal ganz ernsthaft, wenn Du sogar von der Fifa gemieden wirst, dann musst Du wirklich schon extrem böse sein – üblicherweise lässt sich die Fifa von Krieg und Menschenrechtsverletzungen nämlich nicht das Geschäft verderben. Insofern ist das vielleicht sogar ein stärkeres Signal als all die Friedensaufrufe vom Papst oder anderen Vertretern der großen Religions- und Glaubensgemeinschaften, auch wenn das natürlich ebenfalls alles gut, richtig und zu begrüßen ist.
Auch die „diplomatische“ Reaktion auf der Ebene der Vereinten Nationen ließ nicht lange auf sich warten. Letztlich ist Putins völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine auch ein Krieg gegen eben diese UN-Weltordnung freier und souveräner Staaten. Und dass Putin den Einmarsch in die Ukraine zeitgleich zur Tagung des UN-Sicherheitsrates startete, macht ja nur noch einmal mehr deutlich, welchen Stellenwert Putin der UN und ihren Gremien beimisst.
Entsprechend hat aber eine große Mehrheit der UN-Länder – von den Bevölkerungen her die halbe Menschheit – Russlands Krieg gegen die Ukraine bei der UN-Vollversammlung verurteilt und einer entsprechenden Resolution zugestimmt. Auch Brasilien oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die eigentlich ganz gute Beziehungen zu Russland haben, schlossen sich dem an und selbst die Taliban, die ja nun wirklich keine Freunde der US-Regierung oder der NATO sind, haben der Vorlage bei den Vereinten Nationen zugestimmt und damit das Verhalten Russlands aktiv verurteilt.
Enttäuschend ist jedoch das bis heute zögerliche Verhalten Israels und auch die Zurückhaltung Mexikos. In beiden Ländern hätte man sich mit einer klaren Verurteilung von Putins Krieg echt keinen Zacken aus der Krone gebrochen. Einfach nur peinlich ist bislang hingegen das Verhalten von Indien, das zu Kriegsbeginn erst alle einspannte, um indische Studierende aus den von Russland umzingelten Städten rauszuholen, und danach dann die russischen Bomben auf Zivilisten mit einem Schulterzucken hinnahm und jetzt auch noch jenes Öl aus Russland zu Billigpreisen importieren will, das andere Länder mühsam zu boykottieren versuchen.

Wie geht es weiter?

Nachdem ich mich so grundlegend getäuscht habe, was den flächendeckenden Angriff auf die Ukraine anbelangt, will ich mich mit Prognosen über den weiteren Verlauf zurückhalten. Natürlich sollten wir alle die Daumen drücken, dass der ukrainische Widerstand und die internationalen Sanktionen wirken und Putin schnellstmöglich ein Einsehen hat und seine Truppen aus der Ukraine abzieht. Vorbereiten müssen wir uns aber auf einen langen und erbitterten Stellungskrieg.
Militärisch sieht es zum jetzigen Zeitpunkt nicht so aus, als würde eine der Seiten zügig ihre Ziele erreichen und auch eine Verhandlungslösung scheint momentan von beiden Seiten aus betrachtet noch in weiter Ferne. Selenskyj kann und will die weitreichenden territorialen Forderungen von Putin keinesfalls erfüllen und Putin wiederum hat keinerlei Interesse, bei den bislang unstrukturierten Geländegewinnen stehen zu bleiben oder diese gar wieder herzugeben. Insofern ist leider zu befürchten, dass die Kämpfe in der Ukraine vorerst unvermindert weitergehen (hoffentlich täusche ich mich auch diesmal).
Da Selenskyj für seine aktuelle Politik breiten Rückhalt genießt, ist außerdem nicht zu erwarten, dass sich an der ukrainischen Position in nächster Zeit viel verändert. Umgekehrt ist aber auch ein Umsturz in Moskau – es wäre vermutlich die beste Lösung für alle, außer natürlich für Putin – relativ unwahrscheinlich. Theoretisch möglich, vielleicht sogar etwas wahrscheinlicher, ist ein Umsturz in einem von Putins Vasallenstaaten. Was würde denn passieren, wenn die zweite Staatsebene in Minsk oder das belarussische Volk die Gunst der Stunde nutzt? Viele Reaktionsmöglichkeiten hätte Putin aktuell auf jeden Fall nicht.

All diese Gedankenspiele setzen aber stets voraus, dass die Ukraine im Kampf gegen die russischen Streitkräfte weiter durchhält. Zu befürchten ist hier zwar, dass Russland in den nächsten Wochen weitere Geländegewinne macht, vielleicht auch Mariupol oder Charkiw einnimmt und danach einen Großangriff auf Kiew startet. Genauso gut lässt sich nach den Meldungen der letzten Tage aber auch hoffen, dass sich das Blatt auf dem Schlachtfeld durch Versorgungsprobleme bei russischen Truppen, die Waffenhilfe für die ukrainische Armee und die seit Wochen laufende Rekrutierung ukrainischer Soldaten allmählich doch wendet. Gelingt es der ukrainischen Armee tatsächlich, die russischen Truppen zurückzuschlagen, wird es für Putin zunehmend eng. Zwar hat er noch einige weitere Optionen, jede aber ihrerseits mit neuen, unberechenbaren Risiken für ihn und seine Herrschaft behaftet. So könnte er zu nochmals brutaleren Methoden greifen, womit er aber eventuell bei seinen bisherigen Partnern in Fernost den Geduldsfaden überstrapaziert. Putin könnte auch weitere russische Truppen in die Ukraine entsenden, was aber womöglich die Stabilität in anderen Landesteilen oder auch in den von Moskau abhängigen Ländern negativ beeinflusst und dort zum Widerstand animieren könnte. Überdies könnte Putin auch seine Marionette Lukaschenko auffordern, in den Krieg einzutreten, jedoch auch hier mit der Gefahr, damit in Belarus ganz neue Dynamiken auszulösen. Aber auch die für uns beste Lösung, Putin hat ein Einsehen und beendet den Krieg, wäre für seine Herrschaft in Moskau mit erheblichen Gefahren verbunden. Vorstellbar ist daher, dass Putin nach dem gescheiterten „Blitzkrieg“ nun zunächst versucht, sich mit den vorhandenen Mitteln auf die leichter erreichbaren Kriegsziele zu fokussieren, um am Ende trotz des militärischen Debakels noch einige Erfolge für sich aus diesem Krieg herausziehen zu können. Auf diplomatischer Ebene könnte das zunächst ein Verzicht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft sein, anstatt gleich die „vollständige Demilitarisierung“ zu verlangen. Und militärisch könnte Putin vorerst auf einen Angriff auf Odessa oder Kiew verzichten und seine Streitkräfte östlich des Dnepr konzentrieren, um dort den Druck z.B. auf Charkiw und Mariupol zu erhöhen. Gelingt es Putin, diese Städte einzunehmen und damit ein „konsolidiertes“ von Russland besetztes Gebiet in der Ostukraine zu schaffen, werden die ukrainischen Streitkräfte an diesem Zustand so schnell vermutlich nichts mehr ändern können. Das wäre dann wohl auch der Zeitpunkt, an dem Putin bereit ist, unter Bedingungen den Konflikt vorerst einzufrieren – um seine strategischen Fernziele zu einem für ihn günstigeren Zeitpunkt weiterzuverfolgen.

Auf internationaler Ebene stellt sich hingegen die Frage, ob es den USA, der EU, Japan und anderen Verbündeten mit zunehmender Kriegsdauer und Brutalität vielleicht doch noch gelingt, weitere UN-Mitgliedsstaaten von einem strikteren Kurs gegenüber Putins Russland zu überzeugen. Möglicherweise hätte die EU als direkt betroffene Region einen besseren Zugang zur mexikanischen Regierung als die in Mexiko nicht sonderlich beliebten USA. Eventuell könnten dafür die USA als enger Partner von Israel oder Pakistan nochmal mit diesen Ländern sprechen. Und wenn es Japan oder Australien gelingen würde, Indien davon zu überzeugen, im Vergleich zu den Vorjahren wenigstens kein zusätzliches Öl oder andere Rohstoffe aus Russland zu importieren, würde das die Handlungsspielräume Putins ebenfalls nachhaltig reduzieren.
Gleichzeitig ist die Verlagerung von Handelsströmen auch eine Chance und kann als Verhandlungsmasse seitens Europas und Nordamerikas genutzt werden. Wenn die USA und Venezuela tatsächlich wieder miteinander reden und einen besseren Umgang finden, kann daraus für Millionen Menschen in Südamerika eine neue Perspektive erwachsen. Und wenn die EU mit Ländern des Nahen Ostens redet, kann dabei auch über die Zeit fossiler Energieträger hinausgedacht werden, z.B. mit Blick auf Sonnenenergie und die Herstellung von Wasserstoff. Europa müsste aus meiner Sicht auch gar nicht so arg weit in die Ferne schauen. Tunesien ist ein Land, das in den letzten Jahren sehr viel geleistet hat, z.B. hinsichtlich der eigenen Transformation oder auch bei der Bewältigung von Flüchtlingsströmen, und längst mehr Unterstützung aus Europa verdient hätte. Die in Folge des Ukraine-Krieges entstandene Notwendigkeit, neue Energiequellen für Europa zu erschließen, könnte hier nun zu mehr Augenhöhe und einer neuen Form gegenseitiger Partnerschaft führen. Auch in Algerien könnte die EU helfen, den augenscheinlich notwendigen gesellschaftlichen Transformationsprozess – es kommt regelmäßig zu Protesten gegen den verkrusteten algerischen Staatsapparat – abgesichert durch eine gute ökonomische Perspektive in einen friedlichen Rahmen einzubetten. Das wäre etwas, was man sich als EU eh überlegen sollte und wozu die jetzige Situation in der Ukraine dann nur ein weiterer Anlass wäre.

Neben all diesen Überlegungen, werden wir uns in Deutschland und der EU demnächst aber auch fragen müssen, wie mit Vertriebenen aus der Ukraine umgegangen werden soll. Noch sind wir in einer akuten Phase, also bei der Notversorgung mit Schlafplätzen, Lebensmitteln und Gesundheitsleistungen. Bei einem Fortgang des Krieges wird jedoch bald auch die Frage nach der Integration dieser Menschen in den Arbeitsmarkt drängend werden. Und so sehr es dabei zu wünschen ist, dass möglichst viele Ukrainerinnen und Ukrainer in der EU schnell zu einem Job finden – das hilft diesen wie auch den jeweiligen Gastländern – so ärgerlich ist es natürlich, dass die Ukraine damit umgekehrt zumindest einen Teil gerade auch der gut qualifizierten Arbeitskräfte verliert.
Überdies darf Europa jetzt nicht nur auf sich, auf den Krieg in der Ukraine und die Folgen für uns Europäerinnen und Europäer schauen. Auch die Hilferufe der UN bezüglich der weltweiten Versorgung, insbesondere mit Lebensmitteln, müssen in Europa gehört werden. Das Welternährungsprogramm und andere UN-Programme müssen ausreichend finanziert sein und bleiben. Auch dieser Herausforderung muss sich Europa stellen, nicht nur aus humanitären Gründen, sondern alleine schon, um nicht noch mehr Länder in ihrer Not in die Arme von Putins Russland oder den nicht intervenierenden Chinesen zu treiben.

Wie es am Ende kommt, müssen wir abwarten. Was mir zum Abschluss daher nur noch bleibt, ist den Ukrainerinnen und Ukrainern für den mutigen Kampf um ihr Land viel Erfolg und möglichst wenige Opfer zu wünschen und ihnen dafür, dass sie nicht nur ihr Land, sondern damit auch Europa, unsere freie Welt und die gesamte Friedensordnung souveräner Staaten verteidigen, von ganzem Herzen zu danken – Slawa Ukrajini!


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[1] Genaue Zusammensetzung und Zahlen zur Sowjetunion, zum Warschauer-Pakt sowie weitere Länderdaten und Ähnliches von Wikipedia entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Sowjetunion

[2] Außenhandelsdaten von oec.world (Ein Datenprojekt zu Handelsströmen): https://oec.world/en/home-b

[3] Zahlen von Wikipedia übernommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Unruhen_in_Kasachstan_2022

]]>
https://www.mister-ede.de/politik/putins-krieg-in-der-ukraine/9234/feed 0
Bundestagswahl 2021: Wahl(kampf)analyse und Ausblick https://www.mister-ede.de/politik/btw21-analyse-und-ausblick/9229 https://www.mister-ede.de/politik/btw21-analyse-und-ausblick/9229#comments Sun, 26 Sep 2021 11:09:39 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9229 Weiterlesen ]]> Ich muss zugeben, bei dieser Bundestagswahl lief einiges anders, als ich das vor einem Jahr erwartet hätte. Schon die Auswahl des Unions-Kandidaten hat mich überrascht, aber auch, dass beispielsweise die Linke so wenig von einem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz profitiert oder die AfD so wenig von einem Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet.

Union:
Bis ins Frühjahr hinein bin ich fest davon ausgegangen, dass die Union mit Markus Söder als Kanzlerkandidat ins Rennen startet. Merkel regiert nun seit 2005 und bis auf Wolfgang Schäuble blieb das Personal der Union unter ihr stets ziemlich blass – eine Lücke, durch die kurzzeitig ein gewisser Karl-Theodor von und zu Guttenberg samt Gattin auf einer frisierten Dissertation rauschte. Ein Thomas de Maiziere – die Älteren unter Ihnen werden sich erinnern – war da ja noch einer der bekannteren unter den Unions-Ministern. Aber wer kennt noch Michael Glos, Kristina Schröder, Jung, Wanka, Gröhe, Schmitt oder HP Friedrich? Und was die Union in dieser Legislatur abliefert – Scheuer, Altmaier, Spahn, Maskendealer, Korruptionsaffäre – ist ja objektiv unterirdisch. Insofern hätte ich erwartet, dass die Union die Gunst der Stunde mit einem bei Unionswählern bundesweit gut angesehenen Markus Söder nutzt und auf die Karte setzt: „Der nächste Kanzler heißt nicht Merkel und kommt nicht von der CDU, und natürlich wird damit einiges anders und ich, Markus Söder, verspreche ihnen, mit mir wird alles besser.“
Daher war ich über die Entscheidung der Union bzw. der CDU wirklich verwundert, es lieber mit dem Merkel-nahen Armin Laschet probieren zu wollen. Wenn die Union mit ihm jetzt 25% holt, ist für die CDU machtstrategisch ja nichts gewonnen. Aber gut, man muss natürlich auch sagen, dass niemand in der Union damit gerechnet hat, dass Laschet den Wahlkampf so komplett vergeigt. Das Wahlergebnis wird dementsprechend heute aber leistungsgerecht ausfallen und die Union vermutlich in eine ziemliche Krise stürzen.

FDP:
Überraschend finde ich ebenfalls, dass der FDP die Schwäche der Union nur mäßig nutzt. Gegen einen Markus Söder hätte die FDP mit ihren 5 – 7 % vom letzten Herbst vermutlich noch einen sehr viel schwereren Stand gehabt, aber auch vom schwachen Laschet profitieren FDP und auch die AfD offenkundig gar nicht so sehr. So stürzte die Union nach der Nominierung von Laschet von Umfragewerten von einstmals 35 – 40% krachend auf zwischenzeitlich nur noch 20% ab, während umgekehrt die FDP lediglich um 6 oder 7 Prozentpunkte anstieg. Glücklicherweise profitierte auch die AfD seit dem Herbst nur mit 2 oder 3 Prozentpunkten von der massiven Schwäche der Union. Ein kleiner Teil des bürgerlichen Lagers aus Union und FDP ist damit aber nach rechts hin zur AfD abgewandert und ein anderer größerer Teil entweder zu den Nichtwählern oder ins rote bzw. grüne Lager. Insgesamt bedeuten diese Wanderungen für das bürgerliche Lager aus Union und FDP einen dramatischen Verlust an Wählern in alle Richtungen hin. Für die FDP stellt sich damit wiederum die Frage, wie sie nun mit diesem starken Wahlergebnis umgehen soll, das zur Hälfte durch geflüchtete Unions-Anhänger zustande gekommen ist. In die Opposition will Lindner mit diesem Ergebnis sicher nicht, allerdings bei einer Ampel könnte man die neu gewonnenen Wähler auch schnell wieder verprellen und dasselbe gilt im Falle, dass man ausgerechnet nun doch Laschet zu einer Kanzlerschaft verhilft und das auch noch mit den Grünen im Schlepptau. Blieben also noch eine SPD-geführte „Deutschland-Koalition“, an der allerdings eine unterlegene Union kaum ein Interesse haben dürfte, oder eine Unions-geführte „Deutschland-Koalition“, die wiederum in der SPD auf wenig Gegenliebe stoßen dürfte.

AfD:
Nachdem die Politikverdrossen, die von der AfD einst aus dem Nichtwählertum eingesammelt wurden, allmählich von der AfD genauso genervt sind wie von allen anderen Parteien, ist deren Wählerschwund außerhalb einzelner Hochburgen nicht sonderlich überraschend und vermutlich auch von den Strategen der Ost-AfD einkalkuliert. Für den harten Kern sind hingegen auch Skandale, ekelhaftes Auftreten und interner Streit mindestens egal, vielleicht sogar gewünscht. Denn solange eine Bundestags-Präsenz gesichert ist, ist es für einen Björn Höcke wichtiger, zwei AfDler aus seinem Thüringer Dunstkreis in den Bundestag zu bekommen als fünf moderate AfDler aus irgendwelchen Westverbänden. Entscheidend ist für die Ost-AfD ja nicht, ob 8 oder 15 % der Abgeordnete im Bundestag von der AfD sind – mitregieren will man ja eh nicht – sondern dass unter den AfD-Abgeordneten ausreichend viele aus eben jenen östlichen Hochburgen sind, damit die Netzwerke der Ost-AfD ihren Einfluss in der Bundestagsfraktion geltend machen können. Insofern liegt der Fokus der rechten Strategen wohl weniger auf bundesweiter Stärke als auf konzentrierter regionaler Stärke. Das Ziel scheint, ein einzelnes Puzzleteil – z.B. einen Landkreis – aus dem föderalen Konstrukt der freiheitlich-demokratischen BRD herauszulösen und zu übernehmen. Was machen Sie denn, wenn Ihr Landrat plötzlich Björn Höcke heißt? Auch wenn sich die AfD im Gegensatz zur letzten Bundestagswahl kaum in den Prozentpunkten verändern wird, darf man daher nicht übersehen, dass sich mit dieser Wahl die parteiinternen Machtverhältnisse durch die Konzentration im Osten – die AfD startete einstmals als Partei westdeutscher Professoren – erheblich zugunsten von Höcke und Co. verschoben haben.

Grüne:
Wenn mich die Grünen gefragt hätten, hätte ich ihnen auf jeden Fall zu Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin geraten, denn es war völlig klar, dass sich die Grünen bei dieser Bundestagswahl gezielten und orchestrierten Hetzkampagnen gegenübersehen werden. Vor keiner Partei fürchten sich die rechten Netzwerke und die versammelten Autokraten dieser Welt so sehr wie vor den Grünen. Und ob ein Robert Habeck, der ja durchaus auch mal in die Rolle des Beleidigten rutscht, einem solchen Shit-Hurricane, wie ihn Baerbock über sich ergehen lassen musste, besser standgehalten hätte, mag ich noch immer bezweifeln. Baerbock hat es auf jeden Fall trotz des Dauerbeschusses aus eigener Kraft und aufrecht gehend ins Ziel geschafft. Dass es unter diesen Voraussetzungen aber schwer sein würde, die Umfragewerte von 20% – 23%, über die Nominierung eines Kanzlerkandidaten hinaus bis zum Wahlabend zu halten, war klar. Dass die Wählergunst auf 15 – 16 % abfällt, hätte ich allerdings dennoch nicht erwartet und die Grünen, insbesondere durch Laschet als Konkurrenten, eher bei 20% erwartet. Dafür hätten die Grünen dann aber vermutlich schon einen etwas pro-aktiveren und vor allem besser kommunizierenden Wahlkampf machen müssen. Griffige Forderungen unter denen sich alle etwas vorstellen können, wie beispielsweise „12 Euro Mindestlohn“ (SPD) oder die „vollständige Abschaffung des Solis“ (FDP), sind aus dem Grünen-Wahlkampf, zumindest bei mir, nicht hängen geblieben. Und wer so ein verbrauchtes Wort wie „Grundsicherung“ verwendet, um auszudrücken, dass es mehr Geld für Kinder geben soll, hat vielleicht auch wirklich ein Marketingproblem. Trotz des absolut beachtlichen Stimmenzugewinns bleibt daher – m.E. zu Recht – der Eindruck, dass die Grünen einige Prozentpunkte leichtfertig verschenkt haben.

SPD:
Es war zu erwarten, dass Olaf Scholz versuchen wird, im Wahlkampf den Merkel-Erben zu mimen – nach einer Sozialdemokratin aus der CDU, jetzt ein Bürgerlicher aus der SPD. Dass das funktionieren könnte, hatte ich mir zwar vorstellen können, allerdings nur dann, wenn Scholz rasch nach seiner Nominierung eine Aufwärtsdynamik entfaltet. Als das ausblieb, hatte ich ihn spätestens Anfang 2021 im Prinzip abgeschrieben. Wie wir wissen, kam es gänzlich anders – Totgesagte leben länger.
Meines Erachtens ist das im Wesentlichen auf die fast schon panische Flucht von Unionsanhängern vor Armin Laschet und seiner grauenhaften Performance zurückzuführen. Leute, die früher eher „Merkel“ und gar nicht unbedingt die Union gewählt haben, hätten einem gut organisierten Laschet vermutlich durchaus eine Chance gegeben, werden nach diesem Wahlkampf nun aber doch lieber das Kreuz bei „Scholz“ machen, auch wenn sie gar nicht unbedingt SPD wählen würden. Ähnlich wie die FDP hat die SPD damit aber nun das Problem, dass sie mit diesem Wahlergebnis sicherlich gerne regieren würde, dann aber entweder mit Rot-grün-rot gerade diese Wechselwähler zumindest in Teilen wieder an die Union verlieren dürfte oder sich bei einer Deutschland-Koalition von vielen zentralen Wahlversprechen verabschieden müsste. Es bliebe damit die Ampelkoalition, die allerdings, wie zuvor beschrieben, für die FDP nicht sonderlich attraktiv sein dürfte.

Linke:
Mit der Kandidatur von Olaf Scholz hätte ich erwartet, dass sich einige Wähler von der Union zur SPD bewegen und dafür einige Wähler von der SPD zur Linken. Beides blieb zunächst und Letzteres bis zum Schluss aus. Die innerparteilichen Auseinandersetzungen, vor allem mit Sahra Wagenknecht, wirken auf viele Wähler ermüdend. Dazu immer mal wieder ziemlich schräge Auftritte und Aussagen von einzelnen Parteimitgliedern. Vermutlich dürften die Grünen hierdurch einige Unzufriedene der SPD eingesammelt haben, die sich ansonsten auch ein Kreuz bei den Linken hätten vorstellen können.
Dennoch habe ich die Linke stärker erwartet, auch wenn sie natürlich das Problem hat, sich auf der einen Seite von der SPD abgrenzen und gezielt bei der SPD-Wählerschaft um Stimmen für die Linke werben zu müssen und sich auf der anderen Seite an die SPD annähern zu müssen, so dass eine Koalition zumindest in Ansätzen realistisch ist. So etwas kann Schizophrenie verursachen und tatsächlich wirkt die Linke ja auch manchmal wie eine Partei mit Persönlichkeitsspaltung. Ob es sich für die Linke am Ende auszahlen wird, dieses Mal im Wahlkampf nicht so stark auf Attacke gegenüber der rot-grünen Konkurrenz gesetzt zu haben, wird sich aber erst am Ende zeigen. Sofern es, wie bereits 2013, für Rot-grün-rot reicht, dürften es SPD und Grüne so auf jeden Fall deutlich schwerer haben, sich gegen eine solche Koalition zu entscheiden und das dann abermals mit einem angeblich „mangelnden Zubewegen“ der Linken zu begründen.

Die große Unbekannte:
Egal wie sich die Prozente auf die Parteien am Ende verteilen, bleibt die große Unbekannte für den Wahlsonntag: Wie viele Abgeordnete werden in den Bundestag einziehen? Sollte die jüngste Wahlrechtsreform erneut ihre Wirkung verfehlen und der Bundestag weiter auf über 750 oder gar 800 Abgeordnete anwachsen, könnte plötzlich eine ganz andere Debatte aufkommen, nämlich über zügige Neuwahlen. Möglicherweise von AfD und Springer entfacht und von einer Union als Wahlverlierer und einer FDP mit wenig Lust auf eine Ampel-Koalition befeuert, könnte so eine neue Dynamik entstehen. Und wenn sich Schwarz und Gelb, getragen vom Argument eines durch die Größe nicht mehr wirklich arbeitsfähigen Parlaments, einer Regierungsbildung kategorisch verschließen und es gleichzeitig für Rot-grün-rot keine Mehrheit gibt, bliebe am Ende nur noch ein erneuter Urnengang als Ausweg. Es bleibt also bis zum Schluss spannend und letztlich könnten die Würfel sogar nochmal ganz neu geworfen werden.


Text als PDF: Bundestagswahl 2021: Wahl(kampf)analyse und Ausblick


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Das Ideologedicht https://www.mister-ede.de/politik/das-ideologedicht/9180 https://www.mister-ede.de/politik/das-ideologedicht/9180#comments Wed, 24 Feb 2021 09:03:07 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9180 Wer Wahrheit spricht, dem glaub‘ ich nicht,
solang‘ die Sicht mir widerspricht.


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Festlegung eines Test- und eines Shutdown-Zeitraums:

Der originäre Testzeitraum sollte fünf, sechs Tage nicht überschreiten, um sich mit der gesamten Testung innerhalb eines mittleren Reproduktionszyklus zu bewegen. Innerhalb dieses Zeitraums sollte das öffentliche Leben massiv reduziert und Ämter, Büros – einfach alles, was nicht zwingend notwendig ist – geschlossen werden. Der Shutdown-Zeitraum sollte allerdings noch etwas länger reichen als der Testzeitraum.
Vorstellbar wäre, von Samstag bis Donnerstag der Folgewoche einen Massentest anzusetzen und den Shutdown dann noch drei Tage weiter bis Sonntag laufen zu lassen und samstags oder sonntags Spezialfälle nochmals abschließend zu testen.

Testpflicht:

Eine generelle Testpflicht dürfte schwer durchsetzbar sein, auch wenn sie sehr hilfreich wäre. Der Schnelltest sollte daher aber zumindest verpflichtend sein für Beamte, Angestellte im Bereich Pflege- und Gesundheit sowie an Schulen und in Kitas. Obligatorisch sollten die Tests außerdem für Schülerinnen und Schüler sowie für in anderen Einrichtungen wie Kita, Hort oder Kinderheimen betreute Kinder sein genauso wie auch für Heimbewohnerinnen und Heimbewohner sowie für von mobilen Diensten betreute Personen. Damit sollten die Bereiche Schule bzw. Alten- und Behindertenpflege weitestgehend vom Virus befreit werden. Alle anderen Einwohner der betroffenen Regionen oder auch Pendler von außerhalb wären in diesem Fall zwar nicht verpflichtet, aber natürlich dringend gebeten, sich am konzertierten Massentest zu beteiligen.

Testanreiz:

Allen Getesteten, egal ob freiwillig oder verpflichtet, werden nach Abschluss des Testverfahrens fünf personengebundene Gutscheine über 5,- Euro für die heimische Gastronomie und andere kulturelle Einrichtungen (Kino, Theater) ausgehändigt. Die Gutscheine sind gültig ab 1. Juni, damit es nicht zu früh zu einem Ansturm kommt, und können bis zum 31.12.2022 eingelöst werden.

Doppeltestung:

Um die PCR-Kapazitäten zu schonen werden für die Testung Antigen-Schnelltests verwendet, die lediglich bei positiven Befunden durch einen PCR-Test kontrolliert werden. Um dabei die niedrigere Sensitivität der Schnelltests auszugleichen, besteht die gesamte Testung aus zwei Schnelltests pro Person, die im Abstand von drei Tagen durchgeführt werden sollten, also z.B. an Tag 1 (Samstag) und Tag 4 (Dienstag). Die Sensitivität der eingesetzten Schnelltests sollte dabei nicht unter 94% liegen.
Sind beide Tests negativ, sollte das Risiko eines falsch-negativen Befundes durch die Doppeltestung relativ gering sein. Finden verschiedene Schnelltests Verwendung, sollte der sensitivere Test beim zweiten Testvorgang eingesetzt werden. Schlägt ein Schnelltest an, wird zum Ausgleich der niedrigeren Spezifität von Schnelltests der Befund per PCR-Verfahren kontrolliert. Ist die Person tatsächlich infiziert, dann greifen die üblichen Maßnahmen (Isolierung, Kontaktnachverfolgung etc.). Ist die Person hingegen doch negativ, so wird vorgegangen, als sei der Schnelltest negativ gewesen.

Spezialfälle:

Gibt es Spezialfälle, z.B. eine Person wurde zwar negativ getestet, war aber genau im Testzeitraum Kontaktperson eines bestätigten Infizierten, so soll wenige Tage später noch ein dritter Schnelltest durchgeführt werden.

Einschätzung:

Wenn 80% der Bevölkerung teils verpflichtet, teils freiwillig mitmachen und man bei diesen dann 95% der Infizierten findet, hat man 3/4 der Infektionsketten binnen einer Woche einem Ende zugeführt. Klar, manche Ketten wären auch so zu Ende gegangen. Klar, wenn man mit einem harten Lockdown den R-Wert über 4 Wochen bei 0,7 hält, erreicht man dieselbe Reduktion. Aber klar ist eben auch, solche freiwilligen Massentests sind im Gegensatz zu vielen anderen Maßnahmen ein relatives mildes und auch preisgünstiges Mittel. Wenn man die Kosten von vier Wochen hartem Lockdown mit vielleicht 100 Euro Testkosten pro Person (100 Euro * 80 Mio. = 8 Mrd. Euro) vergleicht, dann gibt es meines Erachtens gar nichts mehr zu diskutieren. Zumal man die Tests bedarfsorientiert wiederholen kann, wenn das Infektionsgeschehen in einer Region weiterhin oder erneut über 50 bestätigten Neuinfektionen je Woche liegen sollte.

Erläuterung:

Massentests stellen eine Momentaufnahme dar. Sie sind daher insbesondere in den Momenten geeignet, in denen das Infektionsgeschehen heimisch und hoch ist. Ungeeignet wären sie bei niedrigem oder hauptsächlich von Eintragungen von außen geprägten Infektionsgeschehen. In einer solchen Lage bräuchte es dann eher wieder Tests für Reisewillige, Pendler oder Reiserückkehrer. In der jetzigen Lage sind Massentests hingegen absolut zielführend.

Rechenbeispiele:

Massentests dienen nicht dazu, die bestätigten Infizierten zu finden – diese kennt man ja bereits. Mit Massentests sollen vielmehr gerade jene Infizierten gefunden werden, die bislang unerkannt geblieben sind. Wie hoch diese Dunkelziffer ist, ist zwar unbekannt, aber bei 50 bestätigten Neuinfektionen je Woche ist eine Größenordnung von 100 – 200 unentdeckten Infizierten nicht völlig unrealistisch. Eine solche Anzahl an tatsächlichen Fällen je 100.000 Einwohner ist allerdings auch in etwa nötig, damit die Schnelltests trotz ihrer Ungenauigkeit noch effektiv eingesetzt werden können. Umso höher das Infektionsgeschehen ist, desto eher sind die Schnelltests geeignet. Bei niedrigem Infektionsgeschehen liefern sie hingegen zu viele falsch-positive Ergebnisse, wie die drei nachfolgenden Beispiele für einen Schnelltest mit 95% Spezifität und 95% Sensitivität zeigen:

* * * * *
Inzidenz (tatsächliche Infizierte je 100.000): 2.000

98.000 Nicht-Infizierte
- > 93.100 korrekt als Nicht-Infizierte erkannt.
- > 4.900 fälschlich als Infizierte erkannt (falsch-positive Befunde)
2.000 Infizierte
- > 1.900 korrekt als Infizierte erkannt
- > 100 fälschlich als Nicht-Infizierte erkannt (falsch-negative Befunde)
Von 6.800 positiven Schnelltest-Ergebnissen werden 1.900 durch den PCR-Nachtest bestätigt.

* * * * *
Inzidenz (tatsächliche Infizierte je 100.000): 200

99.800 Nicht-Infizierte
- > 94.810 korrekt als Nicht-Infizierte erkannt.
- > 4.990 fälschlich als Infizierte erkannt (falsch-positive Befunde)
200 Infizierte
- > 190 korrekt als Infizierte erkannt
- > 10 fälschlich als Nicht-Infizierte erkannt (falsch-negative Befunde)
Von 5.180 positiven Schnelltest-Ergebnissen werden 190 durch den PCR-Nachtest bestätigt.

* * * * *
Inzidenz (tatsächliche Infizierte je 100.000): 40

99.960 Nicht-Infizierte
- > 94.962 korrekt als Nicht-Infizierte erkannt.
- > 4.998 fälschlich als Infizierte erkannt (falsch-positive Befunde)
40 Infizierte
- > 38 korrekt als Infizierte erkannt
- > 2 fälschlich als Nicht-Infizierte erkannt (falsch-negative Befunde)
Von 5.036 positiven Schnelltest-Ergebnissen werden 38 durch den PCR-Nachtest bestätigt.

Disclaimer: Ich bin kein Virologe, Epidemiologe, Arzt. Es handelt sich um eine rein rechnerische bzw. systemlogische Betrachtung von Massentests.


Text als PDF: Wie das Infektionsgeschehen mit Massentests effektiv gesenkt werden kann


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Dabei kann man wirklich nicht sagen, dass seit dem Sommer nichts unternommen worden wäre, um genau dieses Ziel auch zu erreichen – im Gegenteil! Man hat planmäßig und zielgerichtet wissenschaftliche Erkenntnisse zum Infektionsgeschehen an Schulen [2] ignoriert oder fehlinterpretiert, um ja keine Schulschließungen zu riskieren. Man hat den Anstieg der Neuinfektionen so lange verharmlost und schöngeredet, wie es nur eben ging. Und man hat die Kritiker dieses Vorgehens als faktenresistente Egoisten verunglimpft, denen die Bildung der Kinder schlicht egal sei.

Doch nun sieht man, es war genau umgekehrt! Leuten wie mir ging es darum, an Schulen langfristig ein verlässliches, gutes und sicheres Bildungsangebot trotz Corona zu gewährleisten. Die Konzepte dafür gab es ja schon seit Mai: Raumluftreiniger wo Präsenz nötig ist (z.B. in KiTa und Grundschule), Hybrid- und Fernunterricht in höheren Klassenstufen (so wie es auch an Uni und FH läuft) und breitflächige Testung sobald Infektionsfälle an einer Schule auftreten. Doch genau solche sinnvollen Maßnahmen wurden von Union und SPD eben gerade nicht angepackt, geschweige denn umgesetzt!

Heute kann man daher konstatieren, dass es wohl eher Saskia Esken und Anja Karliczek sind, denen die Bildung der Kinder geschmeidig am Arsch vorbeigeht. Vermutlich ging es den beiden Frauen nur um Selbstdarstellung mit einem Versprechen, von dem sie wohl irrtümlich glaubten, es ohne große Anstrengungen halten zu können – also so, wie wenn ich Ihnen heute hoch und heilig verspreche, dass ich bis Juni für höhere Temperaturen in Deutschland sorge.
Doch genau mit diesem leichtfertigen Schulversprechen von Esken und Karliczek nahm das Elend seinen Lauf. Corona entwickelte sich nämlich doch eher so, wie es Wissenschaftler und Experten für Herbst und Winter prognostiziert haben und nicht so, wie es die beiden Laien-Wahrsagerinnen erhofft haben. Nur zurückrudern ging für die zwei Spitzenpolitikerinnen nun nicht mehr, ohne damit gleichzeitig einzugestehen, auf voller Linie versagt zu haben. Und so haben Esken und Karliczek einfach Däumchen drehend abgewartet, während die Zahlen der Infizierten, der Erkrankten, der Intensivpatienten und zuletzt dann auch der Toten Tag für Tag anstiegen. Oder haben Sie in den vergangenen Wochen nochmal etwas Substanzielles von den beiden zum Thema „sichere Bildung“ gehört?

Mit diesem unverantwortlichen Zuwarten haben Esken und Karliczek aber nicht nur Ihr Versprechen gebrochen, weil wir nun wieder alles andere als verlässliche, gute und sichere Bildung haben, nein, sie haben damit auch verhindert, dass das Infektionsgeschehen im Herbst klein gehalten wurde. Was sollen denn auch Kontaktbeschränkungen bringen, wenn zeitgleich 13, 14 Millionen Menschen fünfmal die Woche zur Corona-Party ins Klassenzimmer gepfercht werden?
Wären durch die zuvor beschriebenen Maßnahmen nur 25% der Infektionen unter den U20-Jährigen verhindert worden, hätten wir rechnerisch alleine dadurch heute 70 – 80% weniger Neuinfektionen und tausende Menschen wäre nicht an Covid19 gestorben.

Klar, man kann das so nicht rechnen, weil die Geschichte dann anders verlaufen wäre. Klar, es waren nicht Esken und Karliczek alleine, sondern auch 14! Kultus- und Bildungsminister, die diesen Wahnsinn vor Ort auch bei höchsten Inzidenzen noch exekutiert haben. Und klar, wenn die Inzidenz umgekehrt sehr niedrig ist, wie das in Schleswig-Holstein oder Mecklenburg-Vorpommern lange der Fall war, gibt es mehr Spielräume, die man prioritär für die Bildung einsetzen kann.
Im Gesamtblick komme ich aber dennoch zu dem Schluss, dass Esken und Karliczek die Hauptverantwortung für die jetzige Schulsituation tragen und mindestens mitverantwortlich dafür sind, dass das Infektionsgeschehen und damit auch die Todeszahlen in den letzten 8 Wochen in Deutschland durch die Decke geschossen sind. Sie hatten zwar keine direkte Entscheidungskompetenz für Schulen, aber sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, eine offene Debatte über die Gefahren an Schulen und Einschränkungen des Schulbetriebs verhindert zu haben.

Frau Esken (SPD) und Frau Karliczek (CDU), übernehmen Sie die politische Verantwortung und treten Sie zurück!


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Einschätzung der aktuellen Infektionslage und Vorschläge für den anstehenden Corona-Winter (www.mister-ede.de – 14.10.2020)


[1] Vorwärts-Artikel vom 14.8.2020 zum „Bildungsgipfel“

[2] Drosten: „Wir werden Probleme kriegen mit der unbeschränkten Schulöffnung“ (RND, 21.9.2020)

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Ein flächendeckendes schnelles Test- und Meldesystem für den Corona-Winter https://www.mister-ede.de/politik/corona-test-und-meldesystem/9126 https://www.mister-ede.de/politik/corona-test-und-meldesystem/9126#comments Sun, 13 Dec 2020 12:22:25 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9126 Weiterlesen ]]> In weiten Teilen habe ich diesen Text schon im Juni verfasst, damals allerdings nicht veröffentlicht. Zu oft wurde ich für meine Vorschläge zur Pandemiebekämpfung beschimpft und beleidigt – nicht von Corona-Leugnern, sondern von der genau entgegengesetzten Seite. Was musste ich mir nicht alles anhören: Dass ich zugunsten der Wirtschaft Tote in Kauf nehmen würde. Dass ich die Alten wegsperren möchte. Dass ich egoistisch und unsolidarisch sei. Dabei hatten meine Vorschläge nur ein einziges Ziel: Dem Erwartbaren – einer zweiten Welle im Herbst – vorzubeugen bzw. sich adäquat darauf vorzubereiten. Leider fehlte mir irgendwann die Kraft, das immer wieder und wieder zu erklären.
Nun sieht man es allerdings. Egoistisch waren wohl eher diejenigen, die meine Vorschläge aus Geltungssucht niedergemacht haben. Tote in Kauf genommen haben all jene, die immer nur Lockdown gebrüllt und damit die Entwicklung von effektiven und effizienten Schutzmaßnahmen im Sommer verhindert haben. Ich war mir sicher, dass mir die Realität im Winter Recht geben wird. Und heute sehen das vermutlich auch die Allerletzten.

Hier deshalb nun mein Artikel, wie ein flächendeckendes, effektives und effizientes Test- und Meldesystem gestaltet sein sollte:

Ausgangslage im Sommer

Leider lässt der Fallzahlen-Anstieg nach den Lockerungen in den USA, der massive Anstieg in Süd- und Mittelamerika und die nun auch in Südafrika, Pakistan, Indien und Bangladesch einsetzende Dynamik nicht erwarten, dass Europa ein milder Verlauf im Herbst bevorsteht. Noch immer sind die Menschen in weiten Teilen Europas nicht durch Antikörper geschützt und noch immer ist keine Impfstoffverfügbarkeit absehbar. Gleichzeitig haben die verschiedenen Lockerungen dazu geführt, dass die Fallzahlen in vielen europäischen Ländern eher stagnieren, statt weiter zu sinken. Und die unter den gelockerten Bedingungen zu erwartende Urlaubsreisewelle wird die Problematik von Ein- und Verschleppungen des Coronavirus zusätzlich erhöhen. Mit niedrigeren Temperaturen, schlechterer Witterungen und damit auch mehr Aufenthalten in Innenräumen ist für den Herbst ein Szenario wie im Frühjahr, also ein spürbarer Anstieg der Fallzahlen und Lockdowns zur Eindämmung, zunehmend zu erwarten. Allerdings befreit uns im Herbst dann nicht bereits nach zwei Monaten wieder der Sommer und die Verlagerung von drin nach draußen oder vom Bus aufs Rad. Im Gegenteil, es folgt der ganze lange Winter. Oberste Priorität muss in Europa deshalb sein, ein solches Szenario zu verhindern!

Zu schaffende Rahmenbedingungen

Neben der Beibehaltung der smarten Maßnahmen wie Abstandsgebot und Mundschutzpflicht, braucht es dringend eine europaweit nutzbare freiwillige Corona-App, die auf möglichst vielen Geräten und mit möglichst wenig Anbindung an Google und Apple funktioniert. Neben der reinen Kontakterfassung sollte hierbei die Möglichkeit zum Speichern und Auslesen der GPS-gestützten Standortdaten für 20 Tage ermöglicht werden. Auch der Einsatz von Tracing-Tokens, die die Funktionen der Corona-App für Menschen ohne (geeignetes) Smartphone verfügbar machen, ist für eine ausreichende Breitenwirkung erforderlich – insbesondere innerhalb von Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheimen.
Daneben muss ein zentrales europäisches Meldesystem geschaffen werden, um Corona-Meldungen europaweit einheitlich zu erfassen und schnell und transparent den verschiedenen Behörden auch über Grenzen hinweg für die Nachverfolgung zur Verfügung zu stellen, z.B. bei einem Ausbruchsgeschehen an einem Urlaubsort. Ferner muss mit SmartTesting ein intelligentes europaweites Testsystem etabliert werden, das jeder Person, die sich irgendwo in Europa befindet, jederzeit Zugang zu Corona-Tests bietet, z.B. am Urlaubsort oder bei einem Arbeitsaufenthalt in einem anderen europäischen Land.
Was nachfolgend für Deutschland dargestellt ist, sollte daher so oder so ähnlich auch in den übrigen europäischen Ländern umgesetzt werden.

Verbessertes und erweitertes Meldesystem

Ursprungs- und Nachverfolgungs-Ampel:
Bislang schauen wir in Deutschland und Europa vor allem auf die Zahl der Infizierten. Viel stärker als bisher sollten allerdings die Infektionsketten, also der Ursprungsort der Infektion und der mögliche Weiterverbreitungskreis, in den Blick genommen werden. Neben der reinen Infektionsmeldung und dem wahrscheinlichen Ansteckungsort sollte ähnlich einer Ampel von der jeweils zuständigen Meldebehörde, also den örtlichen Gesundheitsämtern, angegeben werden, in grün, wenn die Ansteckung wahrscheinlich auf eine bereits identifizierte Infektionskette oder ein bekanntes Infektionscluster zurückzuführen ist, z.B. bei den Tönnies-Mitarbeitern, bzw. in rot, wenn das nicht der Fall ist, der Ursprung also unbekannt ist. Selbiges sollte für die Kontaktnachverfolgung gelten – grün, wenn die engeren Kontaktpersonen im Zeitraum der Infektiosität ermittelbar sind, z.B. bei einem Ausbruch in einem Pflegeheim, und im umgekehrten Fall logischerweise rot.

Grün-grüne Fälle sind zwar weiterhin eine gesundheitliche Gefahr für den Betroffenen selbst, sie sind epidemiologisch aber wenig problematisch, weil die Infektionskette in diesen Fällen klar und damit unterbrechbar ist. Auch rot-grüne Fälle sind bei einem vereinzelten Auftreten, z.B. nach einer Reise, ebenfalls unproblematisch. Bei vermehrtem Auftreten innerhalb einer Region oder bei Personen, die sich lediglich innerhalb dieser Region aufgehalten haben, wäre es hingegen ein Alarmzeichen, dafür dass es ein unentdecktes lokales Infektionsgeschehen gibt. Zielführend ist dann im Rahmen des nachfolgend beschriebenen SmartTestings intensiver zu testen, um die vermuteten Infektionsketten aufzuspüren.
Bei grün-roten Fällen ist hingegen die Kontaktnachverfolgung problematisch, z.B. bei einem Bus- oder Bahnreisenden ohne Corona-App. Bei grün-roten oder rot-roten Meldungen sollten daher nach Möglichkeit die Aufenthaltsorte des Infizierten während der Infektiosität mit angegeben werden, um eine mögliche Gefahrensituation für andere Land- oder Stadtkreise oder auch andere europäische Staaten transparent zu machen.
Zwei Wochen nach einer Fallmeldung sollen rote Ursprung- oder Nachverfolgungsampeln, die sich bis dahin nicht durch die Arbeit der Behörden aufklären und auf grün schalten ließen, die Farbe Weiß erhalten. Treten also innerhalb von zwei Wochen keine neuen Fälle auf, sind die Ampeln aller bisherigen Meldungen eines Landkreises entweder grün oder weiß. Erst wenn es wieder zu einem Infizierten kommt, bei dem der Ursprung unbekannt ist oder bei der sich die Kontaktpersonen nicht ermitteln lassen, gibt es wieder eine Meldung mit roten Ampeln.

Im Falle eines Ausbruchs wie in den Schlachthöfen von Tönnies hätte man also zunächst ein paar rot-rote Meldungen gehabt (Ursprung unklar, Kontakte noch nicht umfänglich ermittelt), die dann durch jede Menge grün-rote Meldungen (Ursprung klar, Kontakte noch nicht umfänglich ermittelt) ergänzt worden wären. Je mehr die Behörden die Kontakte der einzelnen Infizierten dann nachverfolgen können, umso mehr Fälle würden sich nach und nach auf rot-grün bzw. grün-grün schalten, bevor sie nach einiger Zeit als grün-grüne (Ursprung klar, Kontakte ermittelt) oder weiß-grüne (Ursprung unklar geblieben, aber Kontakte ermittelt) Meldungen der Vergangenheit angehören.
Kommen im dortigen Kreis dann in nächster Zeit auch keine neuen Meldungen mit roter Ursprungsampel oder roter Nachverfolgungsampel hinzu, wäre das ein deutliches Zeichen dafür, dass das Infektionsgeschehen vor Ort trotz massiver Fallzahlen weitestgehend im Griff ist. Kommen hingegen weiterhin Meldungen mit unbekanntem Ursprung hinzu, wäre es ein klares Indiz dafür, dass sich die Infektionsketten weiter in die Bevölkerung hinein verbreitet haben. Und selbiges ist natürlich auch dann zu befürchten, wenn bei zu vielen Meldungen die Nachverfolgungsampel rot bliebe.

Beschleunigte Meldung und Nutzung von GPS-Daten:
Zusätzlich zu einer umfassenderen Meldung in Bezug auf die Infektionsketten, also zum Ursprung und zum möglichen Weitergang der Kette, ist außerdem eine Beschleunigung des Meldewesens und der Kontaktnachverfolgung erforderlich, um so zeitnah wie nur irgend möglich eine Intervention einzuleiten – Infizierte sind ja in aller Regel nur einige wenige Tage infektiös. Eine erste telefonische Befragung der infizierten Person sollte daher spätestens 3 Stunden nach der Meldung an das Gesundheitsamt erfolgen – und das bitte auch nicht nur montags bis freitags!

Im Rahmen der Erstbefragung sollte außerdem um die Übermittlung der in der Corona-App gespeicherten GPS-Daten gebeten werden, um diese mit den Standortdaten anderer Infizierter zusammenzuführen. Auf Basis der freiwillig zur Verfügung gestellten Daten soll so die Suche nach Infektionsquellen mittels Datenanalyse unterstützt werden. Sind beispielsweise drei Infizierte im wahrscheinlichen Infektionszeitraum nahe zusammen, z.B. in einer Kneipe, dann sollte die Datenanalyse das erkennen und eine Befragung der betroffenen Infizierten diesbezüglich stattfinden. Und selbst in Bewegung, also wenn die drei Infizierten in einem Bus oder Zug sitzen, würde der GPS-Abgleich funktionieren, weil sich der Standort bei allen infizierten gleichermaßen verändert. Natürlich müssen solche Standortdaten stets verifiziert werden – die drei Infizierten könnten auch im Auto hintereinanderher gefahren sein – aber es wäre auf jeden Fall ein zusätzlicher Anhaltspunkt, wo der Ursprung der Infektion lag und ob eventuell noch weitere Personen betroffen sein könnten.

SmartTesting

Damit das verbesserte Meldesystem und die beschleunigte Fallbearbeitung tatsächlich zum Tragen kommen können, braucht es aber auch zwingend eine deutlich höhere Entdeckungsquote. Denn nur dort, wo Infizierte gefunden werden, kann die Ermittlung und Nachverfolgung der Infektionsketten starten. Für die Eindämmung des Coronavirus ist es daher unerlässlich, möglichst viel zu testen, nicht nur spezifisch, sondern auch in der Breite und mit der gebotenen Schnelligkeit. Überdies ist es notwendig, dass bei positiven Befunden unverzüglich – also deutlich schneller als bisher – eine Risikobewertung durch die lokalen Gesundheitsbehörden und eine Meldung an das Robert-Koch-Institut stattfindet. Der Zeitverzug von einem Testwunsch bis zur finalen Meldung eines positiven Befundes an das RKI sollte bei Verdachtsfällen 60 Stunden nicht überschreiten. Die Kosten der Testungen sollten im Rahmen der Gefahrenabwehr vollständig vom Bund aus dem Haushalt getragen werden.

Kostenlose Tests für alle:
Jede Person bekommt das Recht, sich verdachtsunabhängig kostenlos auf Corona testen zu lassen. Sofern es nicht anders gewünscht wird, soll dabei stets auf eine aktive Corona-Infektion und auch auf eine überstandene Corona-Infektion getestet werden. Mehrfachtestungen einer Person sind ausdrücklich erlaubt. Die Tests können weiterhin bei Hausärzten durchgeführt werden, zusätzlich sollte es aber aufgrund der zu erwartenden Nachfrage auch kommunale Testeinrichtungen und mobile Testteams in jeder Region geben. Um eine missbräuchliche Nutzung zu verhindern, sind für die dortigen Tests allerdings Ausweisdokumente oder Ersatzbescheinigungen nötig und es findet eine zentrale Speicherung der Daten für 6 Monate bei den Gesundheitsbehörden statt.

Kommunale Testeinrichtungen:
Alle Landkreise und kreisfreien Städte werden verpflichtet, mindestens eine lokale Testeinrichtung zu schaffen, die jeden Tag, einschließlich sonntags, mindestens von 8 Uhr bis 20 Uhr für Tests zur Verfügung steht. Eine Angliederung z.B. in Containern an ein vorhandenes Krankenhaus erscheint hierbei zielführend. Tests sollen in diesen kommunalen Einrichtungen allerdings nur nach Terminvereinbarung stattfinden, sowohl um die Planbarkeit zu verbessern als auch um Warteschlangen zu vermeiden.

Mobile Testteams:
Für mobilitätseingeschränkte Menschen und andere Personen, die die Testeinrichtungen nur schwer erreichen können, z.B. Alleinerziehende ohne Auto, müssen von den Kommunen zusätzlich ausreichend mobile Testteams bereitgestellt werden, die an allen Wochentagen für die Durchführung von Corona-Tests zur Verfügung stehen.

24/7-Notfalltests:
Für epidemiologische Notfälle, z.B. bei einem Corona-Verdacht in einem Pflegeheim oder einer anderen Massenunterkunft, ist in allen Landkreisen und kreisfreien Städten rund um die Uhr ein mobiles Testteam vorzuhalten. Die Koordination kann die lokale Rettungsleitstelle übernehmen, die tagsüber auf die vorhandenen mobilen Testteams der Kommunen zurückgreift und in Randzeiten die schnelle Testung über den Rettungsdienst gewährleistet.

Bundesweite Hotline:
Das Bundesgesundheitsministerium schaltet 24/7 eine kostenlose Hotline für Bürgerinnen und Bürger, die einen Test durchführen wollen. Handelt es sich um keinen dringlichen Fall, z.B. einen Testwunsch vor dem Besuch der Großeltern, wird ein passender Termin in einer lokalen Testeinrichtung oder mit einem mobilen Testteam der jeweiligen Kommune vereinbart. In dringenden Fällen, wenn also ein Infektionsverdacht vorliegt – und seien es nur leichteste Symptome – soll hingegen ein Termin mit einem mobilen Testteam vereinbart werden, das maximal 18 Stunden später bei dieser Person ist und einen Test durchführt. Bis dahin soll sich die betreffende Person selbst isolieren. Bei einem Anruf um 17 Uhr soll also bis spätestens 11 Uhr des Folgetags eine Testung durchgeführt werden. Bei epidemiologischen Notfällen, also z.B. einer Symptom-Entwicklung bei Bewohnern oder Bediensteten eines Altenheims, muss es allerdings noch schneller gehen. Hier ist dann über die örtliche Rettungsleitstelle ein Notfalltest zu veranlassen, der unverzüglich stattzufinden hat.

Beschleunigte Test-Auswertung:
Die Landkreise und kreisfreien Städte haben ferner zu gewährleisten, dass Notfalltests unverzüglich ausgewertet werden, z.B. in den Laboren der örtlichen Krankenhäuser. Dringliche Tests sollen binnen 24 Stunden ausgewertet sein, nicht dringliche Tests binnen 42 Stunden. Bei einem nicht dringenden Test am Donnerstag um 16 Uhr soll das Ergebnis also spätestens am Samstag um 10 Uhr vorliegen. Sollte es beim Probentransport Engpässe geben, kann auch die Infrastruktur anderer Organisationen (Amtshilfe durch Polizei, Blutspende-Dienste, Feuerwehr) genutzt werden.

Meldung der Gesundheitsbehörden an das RKI:
Sobald positive Testergebnisse in den Gesundheitsämtern der Landkreise und kreisfreien Städte eingehen, sind diese binnen 18 Stunden zu erfassen, hinsichtlich der Gefahrenlage einzuschätzen und ergänzt um die oben beschriebenen Informationen zum Stand der Infektionskettenermittlung an das RKI zu melden.

Sofortige Gefahrenabwehr:
Ist eine Gefahrenlage erkennbar, z.B. eine Infektion in einer Tagespflege, sind unverzüglich Gegenmaßnahmen einzuleiten, z.B. die Durchführung von Notfalltests bei allen Betreuten und Angestellten der Einrichtung. Eine Gefahrenlage kann sich aber auch aus dem vermehrten Auftreten von Infektionsfällen innerhalb eines kurzen Zeitraums ergeben. Gibt es in einer Region mit ansonsten wenig Fällen zeitnah in einem Teilgebiet, z.B. einem kleinen Dorf oder in einem Stadtteil, drei oder vier positive Befunde mit unklarer Herkunft, ist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass es vor Ort zu einem bis dahin noch unbemerkten Infektionsgeschehen gekommen ist. Grundsätzlich gilt dabei, je geringer das Infektionsgeschehen in einer Region ist, umso mehr Aufmerksamkeit ist nötig und umso niedriger sollte die Interventionsschwelle sein.

Reihentests:
Regelmäßig getestet werden sollten alle Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen und mobilen Pflegediensten, außerdem Angestellte in Krankenhäusern und Arztpraxen inklusive Reinigungs- oder Kantinenpersonal. Zielführend kann es daneben sein, Personen mit einer hohen Kontaktzahl regelmäßig zu testen, z.B. in der Gastronomie, beim Handel oder im ÖPNV.
Auch an Schulen und Kitas sollten anlassbezogene und für den Besuch der jeweiligen Einrichtung zwingend erforderliche Tests durchgeführt werden, z.B. wenn es lokal ein bekanntes Ausbruchsgeschehen gibt oder wenn in einer Region vermehrt Fälle ungeklärter Herkunft auftreten. Auch ist eine Testung vor der Wiederaufnahme des Schul- oder des Kita-Betriebs nach Ferien sinnvoll. Zusätzlich sollten allerdings auch auf freiwilliger Basis Stichprobentests durchgeführt werden, z.B. jeden Tag bei einer anderen Schulklasse, sodass alle Schülerinnen und Schüler einmal im Monat getestet werden.

Aktualisiertes Nachwort

Da eine breitflächige Impfung erst weit im Laufe des nächsten Jahres möglich sein wird, wären die beschriebenen Verbesserungen noch immer zielführend. Und die zwischenzeitliche Verfügbarkeit von Schnelltests erlaubt es auch, ein solches SmartTesting-Konzept zügig zu etablieren. Neu kommt allerdings hinzu, dass mit den verfügbaren Schnelltests auch die Durchführung von Massentests in Regionen mit hohem Infektionsgeschehen realistisch wird. Eine solche Erweiterung des Test-Regimes sollte daher direkt mitgedacht werden.


Text als PDF: Ein flächendeckendes schnelles Test- und Meldesystem für den Corona-Winter


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Einschätzung der aktuellen Infektionslage und Vorschläge für den anstehenden Corona-Winter (www.mister-ede.de – 14.10.2020)

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Lagebeurteilung:

Globale Corona-Lage:
In den USA und Kanada steigt die Zahl der Neuinfektionen seit September von unterschiedlichem Niveau aus wieder an. Ebenso in Russland und dem Iran. In Ostasien – Japan, Südkorea, Philippinen – sind nach einer Welle im August die Zahlen wieder etwas niedriger, aber ebenfalls höher als im Sommer. Die Corona-Herbstwelle ist auf der Nordhalbkugel mit voller Wucht angekommen!
In Süd- und Mittelamerika entspannt sich hingegen die Situation in den allermeisten Ländern, ebenso in Südafrika, Australien und Neuseeland. Argentinien, das sehr gut durch den Winter kam, hat inzwischen allerdings einen deutlichen Anstieg der Neuinfektionen zu verzeichnen.

Die Corona-Lage in Mittel- und Westeuropa:
Mittel- und Westeuropa hat mit einer massiven Corona-Herbstwelle und einem mehr oder weniger unkontrollierten Infektionsgeschehen zu kämpfen. Insbesondere Frankreich, Spanien und Großbritannien, sowie Tschechien, Belgien und die Niederlande, aber auch Schweden, die Schweiz und inzwischen auch Polen verzeichnen ein erhebliches Infektionsgeschehen. In den meisten Ländern ist allerdings die Zahl der schweren Covid-19-Fälle zumindest bislang deutlich geringer als im Frühjahr [1]. Bis in den November erwarte ich daher keine flächendecke Überforderung der Gesundheitssysteme in West- und Mitteleuropa. In einzelnen Regionen, z.B. in Tschechien mit zuletzt (12.10.2020) 467 Personen in intensivmedizinischer Betreuung [2] [3], steht allerdings tatsächlich zu befürchten, dass das Gesundheitswesen der steigenden Zahl an schweren Fällen mit intensivmedizinischem Betreuungsbedarf in nächster Zeit nicht mehr überall vollumfänglich gerecht werden kann [4]. Sollte dies der Fall sein, haben die weniger betroffenen Länder die Pflicht zu helfen. Ich bin mir sicher, Europa ist inzwischen gut genug vorbereitet, um im europäischen Miteinander ein solches Geschehen wie im Frühjahr in Norditalien zu verhindern.

Gleichwohl muss man sich bewusst machen, dass Europa mit seiner Altersstruktur in den nächsten Monaten vor einer gewaltigen Herausforderung steht. Sofern die Herbst- und Winterwelle nicht deutlich gebremst oder gebrochen wird, wird jedes Gesundheitssystem in Europa auf eine massive Belastungsprobe gestellt. Der Reproduktionsfaktor muss daher früher oder später mindestens wieder auf R = 1 gesenkt werden. Die Frage ist hierbei also nicht ob, sondern nur wann das geschieht. Denn spätestens wenn der Winter wirklich da ist, wird sich die Lage nach meiner Einschätzung noch einmal erheblich zuspitzen. Maßnahmen, deren Wirkung im Moment für ein R = 1 reichen würden, könnten möglicherweise im Dezember und Januar – das Weihnachtsfest, Silvester und die kälteste Jahreszeit stehen vor der Tür – zu schwach sein, um das zu schaffen. Das gilt europaweit und entsprechend logisch ist es, dass die ersten EU-Länder bereits in einen erneuten Lockdown gehen [5] [6]!

Die Corona-Lage in Deutschland:
Allen Unkenrufen – gelegentlich auch meinerseits – zum Trotz, ist Deutschland so gut aufgestellt wie kaum ein anderes Land. Noch klappt die Nachverfolgung von Infektionsketten einigermaßen gut und rund 20% der Bundesbürger nutzen die CoronaWarnApp, die zwar kein Glanzstück ist, aber zumindest einen Teil dazu beiträgt, dass sich Personen, die sich möglicherweise infiziert haben, testen lassen. Ähnliches gilt für die recht breitflächige Testung und Testkapazitäten von über einer Million Hochleistungs-PCR-Tests pro Woche, die übrigens nur in seltenen Ausnahmefällen ein falsches Resultat liefern und nicht, wie oft behauptet, bis zu einem Prozent falsch-positive Ergebnisse verursachen.
Seit dem Frühjahr wurde die Zahl der wöchentlich durchgeführten Tests hierzulande deutlich erhöht, weshalb davon auszugehen ist, dass wir einen guten Überblick über die Infektionslage haben. Das Phänomen der Testscham sowie die Verlagerung in jüngere Altersgruppen, die schlicht nicht merken, dass sie infiziert sind, könnten allerdings gegenläufige Effekte darstellen, sodass ohne tiefergehende Analyse eine Aussage über die absolute Entwicklung der Dunkelziffer unseriös wäre.

Ein großer Trumpf der hiesigen Strategie ist daher sicherlich das regionale Vorgehen anhand festgelegter Grenzwerte. Auf der einen Seite ermöglicht dies die nötige Flexibilität, auf der anderen Seite schafft es aber einen klaren und verständlichen Rahmen, ab wann Reaktionen erfolgen. Das macht es für alle Seiten leichter nachvollziehbar, warum an manchen Orten schärfere Maßnahmen getroffen werden müssen als an anderen, und es schafft auch eine gewisse Planbarkeit. Den Grenzewert von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner für die Einstufung als Risikogebiet halte ich dabei weiterhin für angemessen. Das entspricht immerhin bundesweit 40.000 Neuinfektionen pro Woche und wenn der Grenzwert irgendwo gerissen wird, dann ja nur selten punktgenau.
Der klare Grenzwert und die Fokussierung auf die Zahl der Neuinfektionen – sie ist vielleicht nicht so präzise, dafür allerdings vergleichsweise schnell und sehr zuverlässig verfügbar – bringt im föderalen System einen weiteren Vorteil mit sich: Jede Landesregierung versucht, dass ihr Bundesland oder ihre Stadt nicht die Poleposition beim Infektionsgeschehen inne hat – Ausnahmen bestätigen selbstverständlich die Regel.

Das Gesundheitssystem ist nach meiner Einschätzung aktuell nicht stärker belastet als außerhalb der Corona-Zeit. Die Zahl der Covid-19-Patienten auf Intensivstationen beträgt mit 602 am 14.10.2020 um 12:15 Uhr etwa ein Fünftel dessen, was wir im Frühjahr im Maximum gesehen haben. Im Vergleich zur Vorwoche hat die ICU-Belegung um etwa 130 Patienten zugenommen. Diese Zunahme im Vergleich zur Vorwoche setzt sich zusammen aus täglich etwa 90 Covid-19-Patientenaufnahmen auf deutschen Intensivstationen abzüglich etwa 400 in stabilem Zustand entlassen ICU-Patienten sowie rund 100 verstorben Intensivpatienten in der vergangenen Woche.
Würden morgen alle Infektionen unterbunden, würde die Herbstspitze nach meiner Einschätzung nicht über 60% der Frühjahrsspitze kommen. Umgekehrt erwarte ich bei einem weiter in der jetzigen Geschwindigkeit steigenden Infektionsgeschehen, dass im November, allerspätestens im Dezember in etwa dieselbe Lage auf den Intensivstationen wie im Frühjahr erreicht wird. Und dann kommen wir natürlich auch in Deutschland in eine Situation, die zwischen den Jahren deutliche Einschränkungen erforderlich machen würde. Der Umkehrschluss sollte daher sein, dass wir dringend versuchen sollten, vor die Welle kommen, um im Dezember und Januar einigermaßen ruhig ins neue Jahr zu starten.

Welche zusätzlichen Maßnahmen sollten ergriffen werden:

Festlegung von Hochrisikogebieten:
Neben Risikogebieten, die weiterhin ab einer 7-Tages-Inzidenz von mehr als 50 bestätigten Neuinfektionen je 100.000 Einwohner ausgewiesen werden sollten, halte ich einen zweiten Grenzwert und die Einstufung als Hochrisikogebiete ab einer 7-Tages-Inzidenz von 100 bis 150 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner für sinnvoll. Man kann da auch sagen, der Grenzwert muss 5 der letzten 7 Tage überschritten worden sein. Es wäre eine einfache und klar verständliche zweite Grenze, an die sich dann weitere, nochmals verschärfte Maßnahmen anschließen können.

Sperrstunden / Ausweitung der Maskenpflicht:
Eine bundesweite Maskenpflicht in allen Innenräumen außer der eigene Wohnung, inklusive Gängen und Aufzügen in Mehrfamilienhäusern, sollte spätestens ab einer 20er- oder 30er-Inzidenz eingeführt werden. Im gewerblichen Bereich – Einzelhandel, Restaurants, Bars, Fitnesscenter – sollte diese überall gelten, außer „am Platz“ und bei anderen geeigneten Hygienekonzepten (z.B. Plexiglas im Kassenbereich). Die Maskenpflicht soll sich dabei auch explizit auf den Eingangsbereich vor Geschäften, Restaurants oder Wohnhäusern erstrecken. Das Gleiche soll für alle übrigen Arbeitsplätze in Innenräumen gelten, sofern kein abgesegnetes Hygienekonzept vorliegt. Hingegen sollte bis auf Ausnahmefälle auf eine Maskenpflicht im Freien verzichtet werden, um die Menschen nicht unnötig in Innenräume zu drängen.
Bei überschreiten der 50er-Grenze sollte eine Sperrstunde ab 22 oder 23 Uhr gelten. Hier wäre dann vorstellbar, parallel auch eine Maskenpflicht beim Aufenthalt auf öffentlichen Plätzen bis zum Morgen einzuführen. Hochrisikogebiete sollten auf die Öffnung von Bars und Restaurants grundsätzlich verzichten. Eine Maskenpflicht für den Aufenthalt im öffentlichen Raum – z.B. Warten an der Bushaltestelle, nicht aber der kurze Weg zum Nachbarhaus oder zum Auto – sollte dann entsprechend gelten.

Reihentestung in Alten- und Pflegeheimen:
Sobald die von Jens Spahn angekündigten Schnelltests verfügbar sind, sollte das Personal in Pflegeheimen arbeitstäglich vor dem Arbeitsbeginn mit diesen getestet werden. Gepaart mit den sonstigen Schutzmaßnahmen sollten damit Infektionen in den Alten- und Pflegeeinrichtungen deutlich reduziert werden. Gleiches gilt für die Beschäftigten in der mobilen Pflege sowie das gesamte Gesundheitswesen. Insgesamt besteht in Deutschland für eine umfängliche Testung ein Bedarf von 50 Mio. bis 100 Mio. Schnelltests pro Woche. Dies bedeutet, dass bei den aktuell verfügbaren Tests je nach Qualität eine PCR Nachtestung von 1 – 8 Mio. Tests nötig wäre, um die Schnelltestbefunde zu verifizieren. Damit wird deutlich, dass im Bereich der PCR-Testung die Kapazitäten zwingend nochmals gesteigert werden müssen, wenn wir wollen, dass die Schnelltests auch wirklich einen Wert haben. Wenn – wie Christian Drosten das in seinem Podcast mal sagte – Pooltests von 5 Proben im Rahmen des Möglichen liegen, sollte das jetzt forciert werden. Auch sollte eine Ausweitung der meines Wissens nach schon vorhandenen Unterstützung durch die Labordiagnostik aus dem Veterinärbereich in Betracht gezogen werden.

Testpflicht bei allen Reisen aus inländischen Risikogebieten sowie Ein- und Ausreisen aus Deutschland:
Sobald! die kostengünstigeren Antigen-Schnelltests in ausreichendem Maße verfügbar sind, sollten im Prinzip alle innerdeutschen Reisenden aus Gebieten mit mehr als 50 Infektionen je 100.000 Einwohner getestet werden. Das gilt für Berufspendler wie Tagesausflügler oder Urlauber. Entsprechend sollten diese Tests in Risikogebieten dann ausreichend, breitflächig sowie kostenlos angeboten werden können und auch überall sonst in Deutschland für einen geringen Betrag, zentral an Teststationen, erhältlich sein. Bei einem positiven Test erfolgt dann natürlich sofortige Quarantäne und ein umgehender PCR-Nachtest, der binnen 24 oder 58 Stunden vorliegen sollte. Eine ähnliche Regelung wäre auch für Einreisende aus dem Ausland sinnvoll und – europäisch gedacht – natürlich auch für Ausreisende aus einem unserer Corona-Hotspots. Damit es dabei aber nicht wieder zu Grenzproblemen kommt, sollte klarer kommuniziert, dass es nur um eine Schnelltestpflicht geht, und auch der Güterverkehr sowie jene, die in den direkt angrenzenden Regionen wohnen, sollten wieder ohne Test einreisen dürfen. Es sollte aber natürlich jedem beim Grenzübertritt für eine geringe Gebühr angeboten werden, sich testen zu lassen.

Ferien kurz halten und eventuell frühzeitig absagen:
Eine Idee könnte sein, bis März weitestgehend auf Ferien zu verzichten. Das wäre dann fest planbar für alle und man könnte in dieser Zeit an Schulen etwas von dem aufholen, was in 2020 nicht geschafft wurde. Die Frage, ob das in Präsenz- oder Fernunterricht stattfinden sollte, kann im Nachgang, zum Beispiel anhand der Risikoeinstufung einer Region, entschieden werden. Das muss auch nicht zwingend bundeseinheitlich sein.

Wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen für die kommenden Monate:
Beherbergungsbetriebe sollten einen Zuschuss erhalten, der sich nach der Auslastung der letzten drei Jahre richtet. Messebauer, Schausteller, Kinos, Kulturschaffende, Reisebüros und andere sind wegen der pandemiebedingten Umsatzausfälle ebenfalls angemessen zu unterstützen. Der durchschnittliche Umsatz der Vorjahre sollte dabei Richtschnurr für die Hilfe sein. Je nach Branche sollte der Umsatz dann anteilig als nicht zurückzuzahlender Zuschuss gewährt werden, z.B. 10%. Nicht sinnvoll erscheint hingegen ein reines Abstellen auf die bisherigen Steuerzahlungen, da eine solche Hilfe an den kleinen Gewerbetreibenden im Land am ehesten vorbeiginge.

Ergänzungen:

Ergänzende Abschätzung des Erkrankungsgeschehens:
Ich bin zwar kein Mediziner, allerding ein leidenschaftlicher Heuristiker und recht gut geübt in Datenanalysen. Meine Prognose der zu erwartenden Erkrankungszahlen, die ich im April entwickelt und bis Juni verfeinert habe, ist so simpel wie treffsicher, dass ich sie hier kurz darlegen will. Die einzige getroffene Annahme ist, dass nach den ersten sieben Folgetagen 50% jener Erkrankungen gemeldet sind, die insgesamt für diesen einen Tag gemeldet werden. Die Zahl 50% ist dabei keine grobe Näherung, sondern nach einem ersten Ansatz mit 55% und einem zweiten mit 52% seit Juni ganz bewusst gewählt. Auch wenn es für einzelne Tage nicht genau stimmt, im 7-Tages-Schnitt, liegt meine rote Prognose-Kurve, die tatsächlich einzig auf der Formel „Erkrankungs-Meldungen der ersten Wochen * 2“ aufbaut, frappierend eng an den tatsächlichen Erkrankungs-Meldungen, die bislang beim RKI eingegangen sind. Und die Zahlen im Juli ändern sich inzwischen auch nicht mehr wirklich. Ich kann nicht erklären, warum diese Formel so gut passt, ich kann nur sagen, dass sie seit Monaten, wenn man vom Tönnies-Ausschlag im Juni absieht, nahezu perfekt passt. Entsprechend gehe ich leider aber sehr überzeugt von einem starken Anstieg der Erkrankungszahlen in den nächsten Wochen aus.

Reproduktionszahl:
Auf Basis des vorgenannten Prognose-Models berechne ich seit April ein 7-Tages-R. Begonnen hatte ich damit, weil das RKI zu diesem Zeitpunkt noch ausschließlich ein sehr stark schwankendes 4-Tages-R veröffentlichte. Legt man meine Prognose auf Basis des 7. Folgetages auf das inzwischen vom RKI ebenfalls geschätzte 7-Tages-R (Prognose vom 4. Folgetag), wirkt mein R-Wert wie eine Glättung der RKI-Werte. Beide Werte werden dabei allerdings, wie dargestellt, mit ganz unterschiedlichen Prognose- und Berechnungsmodellen ermittelt. Die damit einhergehende Redundanz der statistischen Aussage erlaubt mir die Annahme, dass wir im bundesschnitt aktuell eine deutlich über eins liegende Reproduktionszahl (R > 1) haben.


Corona-Epidemie in Deutschland: Aktuelle Lage (6.5.) in Zahlen und Grafiken
(www.mister-ede.de – 06.05.2020)

Die Pandemie verschlafen: Jeder zweite Corona-Infizierte außerhalb Chinas ist in der EU (www.mister-ede.de – 10.03.2020)

Wie wird sich die Corona-Pandemie in Deutschland, Europa und der Welt weiterentwickeln? (www.mister-ede.de – 31.03.2020)


[1] Übersicht der täglichen oder wöchentlichen ICU-Meldungen in Europa durch das European Centre for Disease Prevention and Control -> https://www.ecdc.europa.eu/en/publications-data/download-data-hospital-and-icu-admission-rates-and-current-occupancy-covid-19

[2] Tagesschau-Meldung vom 30.09.2020 „Tschechien und Slowakei im Notstand“ -> https://www.tagesschau.de/ausland/corona-tschechien-notstand-101.html

[3] Dashboard des Tschechischen Gesundheitsministerium -> https://onemocneni-aktualne.mzcr.cz/covid-19/prehled-hospitalizaci

[4] Heise-Artikel vom 25.9. zur ICU-Auslastung in Europa -> https://www.heise.de/tp/features/Wie-ausgelastet-sind-die-Intensivstationen-4912024.html

[5] WDR-Bericht vom 14.10.2020 über anstehenden Lockdown in den Niederlanden -> https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/niederlande-verschaerfen-corona-regeln-100.html

[6] NZZ-Artikel vom 9.10.2020 zu Lockdown in Brüssel -> https://www.nzz.ch/panorama/belgien-bruessels-massnahmen-gegen-steigende-corona-fallzahlen-ld.1580860

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