mister-ede.de » Grundgesetz https://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Corona-Pandemie: Empfehlungen zum weiteren Vorgehen in Deutschland https://www.mister-ede.de/politik/corona-empfehlung-deutschland/8984 https://www.mister-ede.de/politik/corona-empfehlung-deutschland/8984#comments Fri, 17 Apr 2020 13:46:02 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8984 Weiterlesen ]]> Aktuelle Lage

Seit Anfang April ist bundesweit, bei regionalen Unterschieden, ein Rückgang der bestätigten Neuinfektionen festzustellen. Nachdem gleichzeitig in diesem Zeitraum die Testkapazitäten ausgebaut wurden und entsprechend mehr und schneller getestet wird, ist davon auszugehen, dass dieser Rückgang nicht nur statistisch ist, sondern tatsächlich stattfindet. Die positive Nachricht ist daher zunächst, dass wir in Deutschland in der Lage sind, die Ausbreitung des Coronavirus bei weitestgehender Aufrechterhaltung der Produktion unter Kontrolle zu behalten.
Die aus den Meldezahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) ermittelte tägliche Abnahme von 3 bis 4 Prozent ist allerdings so gering, dass eine Entwarnung keinesfalls angebracht ist. Im Gegenteil: Dass trotz der verschiedenen, zum Teil sehr strikten Maßnahmen – in Bayern gilt seit über drei Wochen eine harte Ausgangssperre – die Fallzahlen nur so marginale zurückgehen, ist ziemlich ernüchternd.
Überdies gibt es große regionale und lokale Unterschiede, die eine pauschale Bewertung der Lage unmöglich machen. Während Bayern und das Saarland aktuell im Schnitt noch täglich 6 bis 7 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner melden, liegt dieser Wert in NRW bei etwa 3,5 und in Mecklenburg-Vorpommern bei nur 0,5. Damit ist das Infektionsgeschehen in Bayern und dem Saarland noch immer über zehnmal höher als an der Ostseeküste.

Zu den regionalen Unterschieden zwischen den Bundesländern kommen aber auch noch erhebliche lokale Unterschiede hinzu. So weist das RKI für den hiesigen Kreis Siegen-Wittgenstein aktuell eine 7-Tages-Corona-Aktivität von 12,2 Fällen je 100.000 Einwohner aus, während die 7-Tages-Corona-Aktivität im strukturell völlig vergleichbaren Nachbarkreis Olpe laut RKI aktuell bei 87,6 Fällen je 100.000 Einwohner liegt. Bezogen auf die täglichen Neuinfektionen bedeutet das für den Kreis Olpe rund 18 Fälle je 100.000 Einwohner, was NRW-weit der mit Abstand höchste Wert ist und problemlos mit den Fallzahlen in den stark betroffenen Regionen Süddeutschlands mithalten kann.

Regionalisierung der Schutzmaßnahmen

Neben bundesweiten und flächendeckenden Maßnahmen braucht es künftig deutlich mehr regionalspezifische Ansätze, die an die jeweiligen Rahmenbedingungen und das jeweilige Infektionsgeschehen angepasst sind. Denn während mancherorts die Lockerung der getroffenen Schutzvorkehrungen durchaus angebracht erscheint, könnte selbiges nur wenige Kilometer entfernt zum Brandbeschleuniger in einer laufenden Epidemie werden.
Bundesweite Regelung bedarf es insofern vor allem für das Verbot von Großveranstaltung und die Beschränkung der Reisefreiheit, z.B. das Verbot touristischer Busreisen, die Einschränkung des überregionalen ÖPV oder gegebenenfalls ein Ausreiseverbot aus stark betroffenen Bundesländern in das übrige Bundesgebiet. Auch was das allgemeine Verhalten im öffentlichen Raum anbelangt, machen bundesweite Regelungen Sinn, um Verwirrungen vorzubeugen.
Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit kleinerer Gruppen, der Erlass von Ausgangssperren oder der Umgang mit dem Schul- und KiTa-Betrieb sollten hingegen weitestgehend den Bundesländern oder den kommunalen Gebietskörperschaften überlassen werden, so wie das vom Infektionsschutzgesetz sinnvoller Weise bereits vorgesehen ist. Dasselbe gilt für die Frage, inwieweit und unter welchen Bedingungen Geschäfte geöffnet sein können, auch wenn hier eine Abstimmung zwischen benachbarten Regionen ratsam ist, um ungewollte Effekte beispielsweise an Landesgrenzen oder gegebenenfalls auch an Kreisgrenzen zu vermeiden.
Notwendig für eine solche Regionalisierungsstrategie ist jedoch ein entsprechendes Monitoring durch flächendeckende, engmaschige und zeitnahe Tests. Denn nur wenn es tatsächlich gelingt, Infektionsherde frühzeitig zu identifizieren, kann man die Eindämmungsmaßnahmen zielgerichtet und zeitlich begrenzt in diesen Gebieten durchführen, anstatt pauschal das öffentliche Leben überall und dauerhaft einschränken zu müssen.

Mundschutzpflicht

Zu den bundesweiten Maßnahmen kann eine Mundschutzpflicht im ÖPV (Bus, Zug, Flugzeug), in Geschäften oder sonstigen Innenräumen gehören. Gleichzeitig muss aber energisch dem Spin der Medien oder auch des Leopoldina-Präsidenten Haug widersprochen werden, dass mit einer Mundschutzpflicht eine Rückkehr zur Normalität möglich werden würde. Wenn Haug bereits wieder von vollgepackten U-Bahnen spricht, dann ist das geradezu absurd, denn es muss um das genaue Gegenteil gehen, also U-Bahnen und ähnliches möglichst leer zu halten.
Zwar ist das Tragen eines Mundschutzes sehr zu begrüßen, weil es das Ansteckungsrisiko unter ansonsten gleichbleibenden Bedingungen vermutlich verringert. Aber ob ein Mundschutz, womöglich auch nur ein Schal, in einem vollbesetzten Bus wirklich verhindert, dass sich irgendjemand ansteckt, kann man zumindest anzweifeln. Wenn also gleichzeitig zu der Einführung einer Mundschutzpflicht andere Schutzvorkehrungen reduziert werden, der Einzelne also beispielsweise wieder die U-Bahn nimmt, anstelle des Fahrrads, dann ergibt das in der Summe nicht mehr Ansteckungsschutz, sondern umgekehrt ein deutlich erhöhtes Ansteckungsrisiko. Insofern ist eine Mundschutzpflicht zwar ratsam, sie kann aber nur als Ergänzung zu anderen Maßnahmen und nicht als Ersatz für diese dienen.

Wiederöffnung des Einzelhandels

Nachdem Supermärkte und andere Geschäfte des täglichen Bedarfs während des Shutdowns geöffnet hatten, konnte man hier bereits erste Erfahrungen mit Zugangsbeschränkungen, Plexiglas in Kassenbereichen und Abstandsregeln sammeln. Und nach meinem Kenntnisstand gibt es bislang keine Anzeichen dafür, dass Einkaufsgeschäfte unter solchen Schutzbedingungen zu den wesentlichen Übertragungsorten des Coronavirus gehören. Das sieht bei Bars und Kneipen, in Pflegeheimen und vor allem natürlich innerhalb der Familien ganz anders aus. Insofern spricht aber viel dafür, die Wiederöffnung des Einzelhandels unter denselben Schutzvorkehrungen wie in den bislang schon geöffneten Läden zu ermöglichen.
Die in dieser Woche getroffenen Verabredungen der Bundes- und der Landesregierungen gehen daher in die richtige Richtung. Fraglich ist allerdings, ob die Beschränkung auf kleinere Geschäfte wirklich zielführend ist. Zum einen wird sich dadurch das Einkaufsgeschehen auf weniger Verkaufsfläche abspielen. Zum anderen fehlt es an einem hinreichenden Sachgrund für die willkürliche Grenzziehung. Warum nämlich das Ansteckungsrisiko in riesigen Möbelhäusern höher sein soll wie in einem kleinen Juweliergeschäft, dürfte mit den Mitteln der Logik nur äußerst schwer zu erklären sein.
Besser geeignet als eine feste Höchstgrenze für die Verkaufsflächen wäre deshalb eine Regelung, die auf Kunden je Quadratmeter abstellt. Damit wäre dann vermutlich sowohl dem Gesundheitsschutz wie auch den Einzelhändlern gedient.

Strikte Ausgangssperre vs. lockerere Kontaktbeschränkung

Wenn man sich die Entwicklung der Neuinfektionen in den Bundesländern anschaut, ist zu erkennen, dass die striktere Ausgangssperre in Bayern keinen höheren Effekt hat als die etwas lockereren Kontaktbeschränkungen im Rest der Republik. Das ist auch wenig verwunderlich, da sich die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger schon von sich aus vernünftig verhält und außerdem durch den weitgehenden Shutdown sowieso viele Aktivitäten gar nicht mehr möglich sind. Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, welche Ansteckungsgefahren reduziert werden sollen, indem man Menschen verbietet, auf einer Parkbank zu sitzen oder auf einer Wiese zu liegen und ein Buch zu lesen.
Künftig braucht es deshalb eine deutlich stärkere Orientierung am Ziel der Kontaktreduktion. Natürlich kann in besonders stark betroffenen Gebieten eine lokal begrenzte Ausgangssperre zielführend sein, um kurzzeitig wirklich jegliches öffentliches Leben stillzulegen. Im Allgemeinen ist es aber völlig ausreichend, die Ansammlung größerer Menschengruppen zu unterbinden, wie es durch die lockereren Kontaktbeschränkungen geschieht. Als Richtwert für eine bundesweite Regelung erscheint eine Obergrenzen für Gruppen zwischen 4 und 8 Personen sinnvoll. In stärker betroffenen Bundesländern sollte jedoch weiterhin die 2-Personen-Regelung gelten. Die flächendeckende strikte Ausgangssperre in Bayern muss hingegen mangels Wirksamkeit sofort gelockert und in eine mildere Kontaktbeschränkung umgewandelt werden.

Alten-, Behinderten-, Krankenpflege

Noch immer steht Deutschland, genauso wie Europa und die gesamte Welt, vor dem Problem, dass es nur wenige – faktisch oft keine – effektiven Maßnahmen gibt, die vor Ansteckungen im Pflegebereich schützen. Während man auf Kneipenbesuche verzichten und in Supermärkten und anderen Geschäften relativ leicht Abstand halten kann, handelt es sich im Bereich der Pflege um notwendige Kontakte, bei denen die räumliche Nähe meist zwingend ist. Genau jene Regeln, also die Kontaktreduktion und das Abstand halten, die in der restlichen Gesellschaft effektiv und vergleichsweise effizient den Reproduktionsfaktor R auf einen Bruchteil senken, laufen im Pflegebereich komplett ins Leere. Umso wichtiger ist es daher, die übrigen physischen und präventiven Schutzmöglichkeiten in diesem Bereich vollständig auszuschöpfen.
Das heißt, dass bei der stationären Pflege in Richtung Ganzkörperschutzanzüge und Desinfektionsanlagen vor den Einrichtungen gedacht werden muss, damit von Pflegekräften über Reinigungspersonal und sonstige Angestellte bis zu Besucherinnen und Besuchern wirklich jeder nur noch vollständig abgeschirmt und 100% virenfrei in Krankenhäuser, Altenheime oder sonstige Pflegeeinrichtungen gelangt. Auch in der mobilen Alten- und Krankenpflege müssen solche Schutzmaßnahmen entwickelt werden. Daneben müssen Pflegende wie auch Gepflegte zur Prävention regelmäßig auf eine Infektion mit dem Coronavirus getestet werden, um die Ansteckungsgefahren für die Hochrisikogruppe der Gepflegten so gering wie möglich zu halten. Das gilt allerdings nicht nur in der stationären und der mobilen gewerbsmäßigen Pflege, sondern insbesondere auch für die private Pflege innerhalb der Familie.
Bislang ist mein Eindruck aber leider, dass der Pflegebereich kaum Beachtung findet. Anstatt die Mundschutzpflicht im ÖPNV rauf und runter zu diskutieren oder zu überlegen, ob man 18-Jährige Abiturienten für 3 Stunden mit ausreichend Abstand in einen Raum setzen darf, sollte vielmehr der Schutz dieser schwächsten und zugleich gefährdetsten Gruppe unserer Gesellschaft in den Blick genommen werden.

Schulen und Kitas

Während es in Kitas unmöglich sein dürfte, die für einen Ansteckungsschutz notwendigen Abstandsregeln und Hygienemaßnahmen einzuhalten, sollte dies bei oberen Klassenstufen grundsätzlich funktionieren. Eine einheitliche Regelung von den jüngsten Kita-Kindern bis zu den Abiturientinnen und Abiturienten kann insofern aber nicht zielführend sein.
In Kitas sollte deshalb vorerst weiter auf einen Notbetrieb gesetzt werden, wohingegen an Schulen durchaus wieder einige Aktivitäten durchgeführt werden können. Sinnvoll erscheint hierbei, zunächst mit den Abschlussklassen zu beginnen, während der Unterricht für die restlichen Klassenstufen weiterhin ausgesetzt bleibt. Damit stünden jetzt für die Abschlussklassen genügend Lehrkräfte und Räume zur Verfügung, um den Schulunterricht und die Prüfungsvorbereitungen in kleineren Gruppen mit dem nötigen Abstand fortzusetzen. Gelänge es auf diese Weise, die Abschlussprüfungen zu Ende zu führen, stünden im Anschluss wiederum für die restlichen Klassenstufen mehr Kapazitäten zur Verfügung. Gegebenenfalls könnte dann durch eine Verlängerung des aktuellen Schuljahres, verkürzte Sommerferien und einen späteren Beginn des nächsten Schuljahres ein Teil der verlorenen Lernzeit wieder aufgeholt werden.
Gleichwohl wird man auch bei diesem Vorgehen nicht ohne flankierende Maßnahmen auskommen, sobald die übrigen Klassenstufen wieder zur Schule gehen. Um das Ansteckungsrisiko ab diesem Zeitpunkt auf einem Minimum zu halten, sollte daher zumindest an weiterführenden Schulen ein Teil des Präsenzunterrichts durch E-Learning-Einheiten substituiert werden. Auch Schichtunterricht oder zeitversetzte Pausen können dazu beitragen, die Zahl der Kontakte und damit auch das Infektionsrisiko zu reduzieren.

Zusammenfassung

Nachdem es eine Vielzahl lokaler Infektionsgeschehen gibt, ist eine Regionalisierung der Maßnahmen zwingend erforderlich. Nur so ist es möglich, die verschiedenen flächendeckenden Einschränkungen zurückzunehmen, ohne damit die Gefahr von Infektionen zu erhöhen. Daneben muss das Augenmerk vielmehr auf dem Schutz der Risikogruppen liegen, insbesondere den pflegebedürftigen Personen. Während große Menschenansammlungen bundesweit für längere Zeit nicht möglich sein werden, erscheint eine moderate Lockerung der Kontaktsperre für Kleingruppen zumindest in schwächer betroffenen Regionen vertretbar. Selbiges gilt für die Wiederöffnung des Einzelhandels und die Beschulung der Abschlussklassen. Überdies kann eine Mundschutzpflicht in Innenräumen eine gute Ergänzung zu anderen Schutzmaßnahmen sein.


Text als PDF: Corona-Pandemie: Empfehlungen zum weiteren Vorgehen in Deutschland


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Eine erste Einschätzung zur bundesweiten Corona-Kontaktsperre https://www.mister-ede.de/politik/corona-kontaktsperre/8955 https://www.mister-ede.de/politik/corona-kontaktsperre/8955#comments Tue, 24 Mar 2020 17:40:14 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8955 Weiterlesen ]]> Bereits vor zwei Wochen hatte ich neben Grenzschließungen verschiedene Maßnahmen innerhalb Deutschlands vorgeschlagen, um der Ausbreitung des Coronavirus entgegenzuwirken. Zusätzlich zur Einstellung weiter Teile des innerdeutschen öffentlichen Personenverkehrs (Züge, Busse, Flüge) hatte ich schon zu diesem Zeitpunkt angeregt, in besonders betroffenen Gebieten alle nicht notwendigen Aktivitäten einzustellen und die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit erheblich einzuschränken.
Insofern halte ich die von den Bund und Ländern inzwischen getroffenen Maßnahmen durchaus für sinnvoll. Und auch die Entscheidung der Politik, darüber hinaus KiTas und Schulen bundesweit zu schließen oder zumindest auf eine Notbetreuung umzustellen, ist sicher ebenfalls gut und richtig.
Das flächendeckende Kontaktverbot hingegen ist aus meiner Sicht problematisch, weil damit pauschal fundamentale Grundrechte auf ganz massive Art und Weise eingeschränkt werden. Natürlich kann eine solche Kontaktbeschränkung in stark betroffenen Regionen ein sinniges Mittel sein. Aber selbst dort lässt sich über die tatsächliche Wirkung streiten, solange es nur völlig unzureichende Schutzvorkehrungen an den wesentlichen Knotenpunkten der Gesellschaft (Supermarkt, Arzt, ÖPNV usw.) gibt. Und klar ist eben auch, dass es der Seuchenbekämpfung im süddeutschen Mitterteich recht wenig hilft, wenn auf Rügen Schulen geschlossen und den Rügenern ein Kontaktverbot oder eine Ausgangssperre auferlegt wird.
Die aktuell seitens der Landes- und Bundespolitik vorgetragene Begründung für diese Maßnahme läuft insofern ins Leere. Nur weil es stark betroffene Gebiete gibt, in denen die Einschränkung der Grundrechte wirklich notwendig ist, muss man deshalb noch lange nicht die Grundrechte in anderen Teilen Deutschlands außer Kraft setzen.
Zu beantworten ist daher vielmehr die Frage, ab wie vielen Infizierten in einer Region solche Maßnahmen sinnvoll und zulässig sind. Eines kann man dabei jedoch ausschließen, nämlich dass in Stadt- und Landkreisen mit einigen wenigen Infizierten, deren Infektionswege sich oftmals noch nachvollziehen lassen, eine so einschneidende Maßnahme wie ein solches Kontaktverbot verhältnismäßig ist. Das gilt insbesondere dann, wenn gleichzeitig in vollen Bussen und Läden, am Arbeitsplatz oder in Behörden ein Vielfaches an Übertragungsrisiken lauert.

Mit Blick auf das bayerische Mitterteich und eine Infektionsquote von 1% sieht das natürlich anders aus. Dort ist ein solches Kontaktverbot mehr als angebracht. Und sinnvoll wäre es vermutlich auch, zusätzlich wirklich alle Geschäfte einschließlich Arztpraxen und Apotheken zu schließen und eine Notversorgung der Bevölkerung in ihren Häusern und Wohnungen durch Bundeswehr, THW, DRK oder auch sonstigen ehrenamtlichen Kräfte zu organisieren. Nachdem von weiteren bislang unerkannten Infizierten in dem Dorf auszugehen ist und auch davon, dass es in häuslicher Quarantäne weitere Ansteckungen gibt, könnte die Zahl der Erkrankten dort sogar trotz solch strikter Maßnahmen schnell auf 5% ansteigen. So etwas hält unser Gesundheitssystem vielleicht noch bei einer kleinen Gemeinde aus, aber nicht flächendeckend.
Insgesamt ist die Situation in vielen Teilen Süd- und Westdeutschlands und – wie zu erwarten – insbesondere auch in den Metropolen äußerst gefährlich. Ob es hier in den letzten Tagen gelungen ist, die Verbreitung signifikant zu verlangsamen, kann man aktuell noch nicht beurteilen. Meine große Befürchtung ist allerdings, dass gerade in Berlin, Hamburg, München oder Köln die verschiedenen Maßnahmen – inklusive der Kontaktsperre – eine vergleichsweise geringe Verlangsamung bewirken könnten, weil dort der ÖPNV-Anteil und auch der Anteil von Berufspendlern sehr hoch ist und es in den Geschäften des täglichen Lebens einfach einen viel höheren Durchlauf an Menschen gibt. Und genau dort liegen die Hauptgefahrenquellen und eben nicht bei vier Leuten, die zusammen im Park sitzen.
Umgekehrt habe ich dafür aber noch immer die Hoffnung, dass mit den jetzt getroffenen Maßnahmen in weiten Teilen Deutschlands, insbesondere in den eher schwächer besiedelten Gebieten mit etwas Abstand zu den Metropolregionen, die Infektionsketten in einigen Fällen auch wieder gestoppt werden können. Bei den aktuell 52 bestätigten Fällen in unserem hiesigen Kreisgebiet ist meines Wissens nach von 50 bekannt, auf welchem Wege diese sich infiziert haben, nämlich allesamt in Italien oder Österreich oder über Rückkehrer von dort. Gelingt es in den nächsten Wochen, auch die Infektionswege weiterer Fälle zu identifizieren und vielleicht sogar einen Zusammenhang zu den beiden bislang unbekannten Übertragungswegen herzustellen, wäre das eine ganz andere Situation, als wenn sich jetzt nach und nach immer mehr Fälle mit ungeklärten Infektionswegen auftun.

Selbstverständlich machen bundesweite Maßnahmen an vielen Stellen Sinn, z.B. der Verzicht auf größere Versammlungen oder auch die Begrenzung von Gruppengrößen in der Öffentlichkeit auf wenige, vielleicht fünf oder sechs Personen. Zielführend wäre außerdem, in ganz Deutschland besondere Gefahrenpunkte, wie Autobahntankstellen oder den ÖPV, in den Blick zu nehmen. Es sollten so viele Busse wie möglich eingesetzt werden, um so wenige Fahrgäste wie möglich je Bus zu haben. Dazu routinemäßige Desinfektionen von Zügen und Bussen nach ein oder zwei Touren und auch regelmäßige Desinfektion von Taxen. Außerdem sollte über eine Mundschutzpflicht für Fahrgäste nachgedacht werden. Daneben sind auch Taxi-Gutscheine oder ein Shuttle-Service z.B. für Klinikpersonal überlegenswert, das sonst auf Bus und Bahn angewiesen wäre. Beim Einkaufen in Supermärkten, Apotheken oder anderen Geschäften bräuchte es deutschlandweit mehr Ansteckungsschutz z.B. durch Trennschreiben aus Plexiglas im Kassenbereichen. Und sinnvoll wären sicher auch viel mehr Möglichkeiten, sich vor Geschäften oder an Bushaltestellen die Hände zu waschen. In Bahnhöfen wäre es sicher kein Problem, in bahnsteignähe mobile Waschbecken aufzustellen, um die Hygiene zu verbessern. All das macht auch in der Fläche Sinn, weil es sich zwar um weiche, aber dennoch seuchenhemmende Maßnahmen handelt.
Ob darüber hinaus eine noch härtere Kontaktsperre oder gar eine Ausgangssperre notwendig ist, sollte allerdings in den jeweiligen Regionen von der Situation abhängig gemacht und nicht zentral von Bundes- oder Landesregierungen festgelegt werden. Denn in dieser Pauschalität wird eine solche Maßnahme sonst weder der Situation noch den Anforderungen des Infektionsschutzgesetzes und des Grundgesetzes gerecht.
Und wenn am Ende in den schwach betroffenen Regionen die Kollateralschäden solcher harten Maßnahmen höher sind, als der beabsichtigte Nutzen, ist niemandem geholfen. Schon jetzt verlassen Pflegekräfte scharenweise das Land was für hunderttausende Ältere und Pflegebedürftige eine nicht minder lebensgefährliche Situation darstellen kann wie die Corona-Epidemie selbst. Und auch für die zig Millionen Menschen, die schon jetzt durch das Raster unseres Staates fallen – Obdachlose, Minirentner, Flaschensammler – beginnt in den nächsten Tagen bei Lieferengpässen, steigenden Preisen und geschlossenen Tafeln ein Lebenskampf – Corona hin, Corona her. All das muss Politik deshalb jetzt im Blick haben, damit es am Ende nicht heißt, in Deutschland starben 20.000 Menschen an Corona und 100.000 Obdachlose, Alte und Hilfsbedürftige an den Corona-Schutzmaßnahmen der Politik.


Text als PDF: Eine erste Einschätzung zur bundesweiten Corona-Kontaktsperre


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Das Verfassungsgerichtsurteil zu Hartz-IV-Sanktionen ist ein Sieg des Sozialstaats https://www.mister-ede.de/politik/urteil-hartz-iv-sanktionen/8920 https://www.mister-ede.de/politik/urteil-hartz-iv-sanktionen/8920#comments Sat, 09 Nov 2019 17:52:26 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8920 Weiterlesen ]]> Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein regelrechter Befreiungsschlag für einen Sozialstaat, der seit zig Jahren von einer laissez-faire-neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik konsequent ausgehöhlt wurde und zwar bis weit über die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen hinaus. Das wissen wir heute.

Und alle wussten es eigentlich auch schon immer. Denn das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren immer wieder klargestellt, dass unser Staat als demokratischer und sozialer Bundesstaat grundsätzlich verpflichtet ist, Menschen in einer existenziellen Notlage zu helfen. Lediglich die Beantwortung der Frage, wie und in welchem Maße Hilfe gewährt werden muss, haben die Verfassungsrichter entsprechend der Gewaltenteilung stets so weit wie möglich der Politik in Form des Gesetzgebers überlassen.
Insofern muss man aber kein promovierter Sozial- oder Staatsrechtler sein, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass eine vollständige Kürzung aller Hilfen bei Personen, die sich nicht selbst aus ihrer Existenznot befreien können, niemals und nimmer nicht diesen Anforderung genügen kann. Und so hat man zwischen den Zeilen bei diversen Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts und seiner Vertreter in der Vergangenheit einen gewissen Hilfeschrei an die Politik vernehmen können, man solle doch bitte in Berlin endlich handeln, damit Karlsruhe sich in dieser Frage nicht zum Ersatzgesetzgeber machen muss.
Diesen Ruf haben aber insbesondere CDU und CSU ganz bewusst überhört, denn für die langjährige Regierungspartei und ihre Kanzlerin bietet die jetzige Situation nur Vorteile. Zum einen wird ein innerparteilicher Streit über die Lockerung der Sanktionen vermieden und man kann nun ganz bequem sagen, das Verfassungsgericht hat uns halt zum Handeln gezwungen. Zum anderen dürfte die Kritik an dem bisherigen, in weiten Teilen massiv verfassungswidrigen Hartz-IV-Sanktionsregime insbesondere die SPD treffen. Sie hatte Hartz-IV und die Sanktionen eingeführt und das Urteil verdeutlicht nun einmal wieder, wie sehr bei der Sozialpolitik der SPD Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen.

Nun aber hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil gesprochen und damit erstmals ein Grenze festgelegt, die als absolutes Existenzminimum angesehen werden kann. 10 Euro am Tag, ein Dach über dem Kopf, Heizung und Krankenversicherung – darunter kommt der Staat nie mehr, bei niemandem der hierzulande in Existenznot ist. Und auch an diese absolut unterste Grenze kommt der Staat künftig nur noch in jenen Ausnahmefällen, in denen es absolut triftige Gründe für die Unterschreitung des vom Gesetzgeber festgelegten Existenzminimums gibt. Wenn aber eine 30% Sanktion das Maximum dessen ist, was im verfassungsrechtlichen Rahmen noch ausnahmsweise zulässig bleibt, wird man künftig bei einem ersten abgelehnten Jobangebot nicht gleich 30% sanktionieren. Das Urteil wird deshalb erhebliche Auswirkungen auf das bisherige Sanktionsregime insgesamt haben und auch die Debatte über eine Umstellung von Sanktionen auf Anreize dürfte wieder deutlich an Fahrt aufnehmen. Statt 10% Sanktionen für diejenigen, die Termine verpassen, sind ja auch 10% Bonus für all jene denkbar, die ihre Sachen mit dem Amt ordentlich regeln.

Möglich bleibt aber natürlich weiterhin, die Leistungen in den Fällen komplett zu streichen, in denen überhaupt keine Existenznot vorliegt, welche die Menschenwürde bedroht. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn und solange direkt verwertbare Rücklagen vorhanden sind, gegebenenfalls auch im Bereich des eigentlichen Schonvermögens, oder wenn und solange es zumutbare Arbeit gibt, z.B. durch ein staatliches Arbeitsprogramm, das eine jederzeitige Arbeitsaufnahme erlaubt. Gibt es solche Möglichkeiten, um direkt und unmittelbar für seine Existenzsicherung zu sorgen, so hat man durch das Nachrangprinzip auch weiterhin keinen Anspruch auf eine Hilfsleistung der Solidargemeinschaft. Zwar wird dies in einigen Veröffentlichungen zum Urteil als Hintertür bezeichnet, aber rechtsdogmatisch wie auch inhaltlich-logisch ist das konsistent und aus meiner Sicht war jetzt auch nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht den lange entwickelten Nachranggrundsatz kippt.
Sobald in der nächsten Zeit die tatsächlichen Auswirkungen des Urteils sichtbar werden, z.B. durch die Aussetzung der Sanktionen auch für unter 25-Jährige, dürfte sich aber auch diese mancherorts noch vorhandene Skepsis gegenüber dem Urteil legen und noch viel deutlich werden, welchen Fortschritt der Richterspruch aus Karlsruhe für den Sozialstaat bedeutet.

Link zur Pressemeldung des BVerfG mit dem Urteil (www.bundeverfassungsgericht.de)


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Wie wird künftig mit Schutzsuchenden aus sicheren Drittstaaten umgegangen?

Zu beachten ist dabei, dass der Drittstaat das Land bezeichnet, aus dem eine Person in ein anderes einreist, während das Land, aus dem eine Person ursprünglich kommt, das Herkunftsland ist. So kommt z.B. ein Syrer mit Herkunftsland Syrien bei einem Grenzübertritt von der Türkei nach Griechenland aus dem Drittland Türkei und bei einem Grenzübertritt von Österreich nach Deutschland aus dem Drittland Österreich.
Entsprechend steht die Frage nach dem künftigen Umgang mit Schutzsuchenden aus sicheren Drittstaaten unabhängig davon im Raum, ob man, wie es die CSU macht, auf die Binnengrenzen innerhalb der EU schaut oder, wie es SPD und CDU machen, auf die EU-Außengrenzen.

Sowohl das deutsche GG (Art. 16a II) als auch die Genfer Flüchtlingskonvention (Art. 33 I) verbieten nicht die Zurückweisung von Flüchtlingen, die aus einem sicheren Drittland einreisen wollen. Bereits jetzt ist diese Form der Zurückweisung in vielen Ländern der Welt und auch in EU-Mitgliedsländern lange geübte Praxis, so z.B. an den mit Zäunen gesicherten Grenzen zwischen Marokko und den spanischen Enklaven Melilla und Ceuta oder auch den Landgrenzen zwischen Bulgarien bzw. Griechenland und der Türkei.
Rechtlich ist es also unproblematisch, den Flüchtlingszustrom auf diese Weise zu reduzieren, sofern die jeweiligen Drittländer als sicher gelten. Die medial nicht so viel beachteten Versuche, die Liste der sicheren Herkunftsstaaten auf europäischer Ebene z.B. durch die Türkei, Marokko, Algerien oder Tunesien zu ergänzen, zielen entsprechend auch genau darauf ab, dort einen sicheren Status auszuweisen.

Allerdings reicht die rechtliche Betrachtung alleine keinesfalls aus, um die Frage, wie mit Schutzsuchenden aus sicheren Drittländern künftig umgegangen werden soll, vollständig zu beantworten. Denn gerade weil es die Rechtslage zulässt, die legale Einreise z.B. von der Türkei nach Griechenland zu verwehren, steigen ja Hunderttausende in Boote oder schlagen sich nachts durch die Gebüsche, wodurch genau diese Einreiseregeln in der Realität ausgehebelt werden. Solange dann aber die Drittländer nicht zu einer Rücknahme der illegal eingereisten Personen bereit sind, nutzt in diesen Fällen auch deren vorherige Einstufung als sicher wenig.
Bei der Ausweitung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten gehört daher zur Wahrheit dazu, dass die EU zwar einseitig diesen Status ändern kann, für eine wirksame Umsetzung der daran anknüpfenden Rechtsfolgen aber stets auf die Kooperation der jeweiligen Nachbarländer, z.B. in Form von Rückführungsabkommen, angewiesen bleiben wird. Doch selbst wenn sich die Nachbarländer der EU kooperativ zeigen, bleibt es immer noch schwierig, z.B. auf dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge eindeutig einem Land zuzuordnen. Hinzu kommt, dass mit Libyen zumindest einer der nordafrikanischen Mittelmeeranrainer definitiv als nicht sicher einzustufen ist.

Ähnlich ist die Problemlage an den Binnengrenzen der EU, wodurch die Parallelen auch noch einmal sichtbar werden. So hätte eine Entscheidung Deutschlands, die offiziellen Grenzen zu Österreich für Schutzsuchende zu schließen, mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls ein solches Ausweichverhalten der Flüchtlinge hin zur grünen Grenze zur Folge.
Und obwohl Rückführungen in der EU durch das Dublin-System bereits rechtlich verankert sind, so stellen auch diese immer wieder ein Problem dar, weil z.B. manche Flüchtlinge zuvor in keinem anderen Land registriert wurden oder die Zustände in anderen EU-Mitgliedsstaaten nach deutschem Recht eine Rückführung schlicht ausschließen.

Stellt man sich dennoch für einen Moment vor, dass die Umsetzung des rechtlich Zulässigen auch real möglich ist, bleibt noch immer die entscheidende Frage, ob die Zurückweisung von Schutzsuchenden aus sicheren Drittstaaten auch ethisch vertretbar wäre. So ist in Bezug auf die deutschen EU-Binnengrenzen zwar der Hinweis richtig, dass z.B. auch in Österreich eine anständige Versorgung von Flüchtlingen gewährleistet wird, jedoch lässt dies außer Acht, dass eine solche teilweise Grenzschließung eine Kettenwirkung zur Folge hätte, welche die Lasten der Flüchtlingsversorgung auf den Balkan und nach Italien oder Griechenland verschieben würde. Gerade vor dem Hintergrund, dass immer wieder gefordert wird, Deutschland solle mehr Verantwortung in der Welt übernehmen, stellt sich deshalb die Frage, ob ein solches Kopf in den Sand stecken wirklich eine angemessene Reaktion für das größte Mitgliedsland der EU wäre.
Noch stärker drängt sich diese Frage allerdings in Bezug auf die EU-Außengrenzen auf. Was hätte es noch mit europäischen Werten zu tun, wenn Europa in dieser Krise einfach die Zugbrücken hochklappt und sich hinter Frontex und Co. verschanzt?
Wenn die EU künftig einen Großteil der EU-Nachbarschafft als sichere Herkunftsländer und damit auch als sichere Drittländer einstufen und Schutzsuchende abweisen oder zurückführen will, wird dies aus meiner Sicht daher nur dann ethisch vertretbar sein, wenn die EU gleichzeitig auf anderem Wege ihrer Verantwortung für die Flüchtlinge gerecht wird. Einige Milliarden Euro an Erdogan und die Türkei werden hierfür aber sicher nicht reichen. Anstatt die Flüchtlingsversorgung alleine den dortigen Behörden zu überlassen, müsste die EU zumindest eine Mitverantwortung für die ordentliche Versorgung der Schutzsuchenden in diesen künftig sicheren Ländern übernehmen. Ein EU-Flüchtlingskommissar mit gut ausgestattetem EU-Flüchtlingshilfswerk wäre hier beispielsweise ein denkbarer Ansatz. Desweiteren müsste es aber auch große Kontingente zur Aufnahme von Flüchtlingen geben, um damit die restriktiven Einreisebestimmungen ein wenig auszugleichen.

Bleibt hingegen die Frage, wie mit Schutzsuchenden aus sicheren Drittstaaten umgegangen wird, weiterhin einfach unbeantwortet im Raum stehen, werden auch künftig Flüchtlinge versuchen, illegal aus der Türkei nach Griechenland und von dort unter anderem nach Deutschland zu reisen, um Asyl oder humanitären Schutz zu suchen. Wenn also die Zahl der nach Europa und Deutschland kommenden Flüchtlinge 2016 reduziert werden soll, wird man nicht umhin kommen, diese zentrale Frage zu beantworten.

Anmerkung: Text überarbeitet am 29.01.2016, um Drittstaaten und Herkunftsstaaten korrekt zu unterscheiden.


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Flüchtlingspolitik: Der Unterschied zwischen Kontingenten und Obergrenzen https://www.mister-ede.de/politik/kontingente-und-obergrenzen/4671 https://www.mister-ede.de/politik/kontingente-und-obergrenzen/4671#comments Mon, 23 Nov 2015 18:30:13 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4671 Weiterlesen ]]> Im Fokus der Asyldebatte stehen aktuell mit „Kontingenten“ und „Obergrenzen“ zwei grundverschiedene Konzepte, die allerdings häufig in einen Topf geworfen werden. So titelte gestern z.B. tagesschau.de „Die Obergrenze heißt jetzt Kontingent“ und auch der dazugehörige Artikel vermittelte den Eindruck, als würden sich beide Ansätze nur durch den Namen unterscheiden [1]. Um deshalb etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen, stellt dieser Artikel zunächst beide Konzepte dar und im Anschluss kurz gegenüber.

Obergrenzen:

Geht es nach der bayerischen CSU, dann wird künftig eine Obergrenze eingeführt, die festlegt, wie viele Flüchtlinge in einem gewissen Zeitraum nach Deutschland einreisen dürfen, also z.B. 500.000 Flüchtlinge pro Jahr.

Eine solche Regelung wäre jedoch kaum mit Art. 16a GG und der Genfer Flüchtlingskonvention zu vereinbaren, denn beide Vorschriften stellen auf einen individuellen Schutzanspruch ab. Das heißt, dass es bei der Frage der Schutzgewährung nicht auf äußere Umstände ankommen darf, sondern nur darauf, ob eine Person die Voraussetzungen für einen Schutzanspruch erfüllt, z.B. eine Verfolgung vorliegt oder die Einreise nicht aus einem sicheren Drittland erfolgt. Lediglich bei einer objektiven Gefahr für die Existenz des Staates bzw. für die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann von dieser Maßgabe abgewichen werden. Allerdings dürfte es ebenfalls unzulässig sein, für einen solchen Fall unabhängig von den tatsächlichen Gegebenheiten allgemein und schon im Voraus einen Grenzwert festzulegen.
Außerdem führt eine solche Obergrenze, wenn sie denn funktionieren soll, unweigerlich zu einem Bruch des Schengen-Abkommens, weil Deutschland, sobald die festgelegte Höchstzahl erreicht ist, seine Grenzen komplett schließen und jeden Einreisenden kontrollieren müsste. Daneben stellt sich aber auch die Frage nach der praktischen Umsetzbarkeit einer solchen Beschränkung, vor allem mit Blick auf ein mögliches Ausweichen auf die grüne Grenze. Ob dann Soldaten mit Gewehr im Anschlag die illegalen Eindringlinge – also unbewaffnete und unschuldige Flüchtlinge – am Grenzübertritt hindern sollen, hat die CSU bislang nämlich noch nicht erklärt.

Kontingente:

Geht es nach Angela Merkel, SPD, Grünen und auch Menschenrechtsorganisationen, werden künftig Kontingente eingeführt, um legale und vor allem sichere Wege für Flüchtlinge nach Deutschland zu eröffnen. Bereits in Krisenländern bzw. in Flüchtlingslagern vor Ort sollen Flüchtlinge die Möglichkeit haben, über dieses Instrument ihren Schutzanspruch geltend zu machen und dann z.B. aus der Türkei per Flugzeug direkt nach Deutschland zu reisen. Auf diese Weise sollen dann die EU-Außengrenzen, die Balkanländer und damit am Ende auch die deutsch-österreichische Grenze entlastet werden und geordnete Verfahren entstehen.

Sowohl das Recht auf Asyl als auch die Genfer Flüchtlingskonvention würden durch eine solche Regelung unberührt bleiben, weil es sich bei diesen Kontingenten nicht um einen Ersatz für diese Schutzrechte handelt, sondern um ein zusätzliches Aufnahmeangebot Deutschlands. Genau deshalb kann Deutschland im Rahmen solcher Kontingente dann aber auch einseitig eine Obergrenze festlegen oder weitere Vorgaben machen, z.B. im Bezug auf die Nationalität oder im Hinblick darauf, ob Familien, Waisenkinder, Menschen mit Behinderung oder Opfer von Gewalttaten innerhalb dieser Kontingente bevorzugt behandelt werden sollen.
Außerdem sind Grenzschließungen bei diesem Ansatz nicht notwendig, weil ein erschöpftes Kontingent lediglich zu einem Aufnahmestopp über den Weg der Kontingente führt, nicht jedoch zu einem Ende der Aufnahme im Rahmen des grundgesetzlichen Asylschutzes oder der Genfer Flüchtlingskonvention.

Gegenüberstellung:

Der wesentlichste Unterschied beider Konzepte ist, dass Kontingente neue Zugangswege für Flüchtlinge schaffen, während mit einer Obergrenze die vorhandenen Wege zur Schutzsuche eingeschränkt werden. Entsprechend setzen die Kontingente mit der Schaffung legaler Fluchtmöglichkeiten am Anfang der Fluchtkette an, wohingegen eine Obergrenze mit dem Ziel einer Abschottung Deutschlands am Ende dieser Fluchtkette ansetzt.
Im Gegensatz zu Kontingenten ist eine Obergrenze allerdings kaum mit Art. 16a GG und der Genfer Flüchtlingskonvention zu vereinbaren und führt zu weiteren rechtlichen und praktischen Problemen, sobald es tatsächlich zu Grenzschließungen kommen müsste.


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Flüchtlingspolitik: Ein Anfang ist gemacht, doch es bleibt ein weiter Weg (www.mister-ede.de – 22.09.2015)

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[1] Artikel auf Tagesschau.de vom 22.11.2015 (Link zum Artikel auf www.tagesschau.de)

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Flüchtlinge: Bundesregierung schafft Rechtsstaat ab https://www.mister-ede.de/politik/politik-schafft-rechtsstaat-ab/4374 https://www.mister-ede.de/politik/politik-schafft-rechtsstaat-ab/4374#comments Mon, 14 Sep 2015 19:03:20 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4374 Weiterlesen ]]> Menschenunwürdige Flüchtlingsquartiere von München bis Hamburg, Grenzkontrollen, dumpfer Populismus und möglicherweise bald Enteignungen – die Bundesregierung verliert die Kontrolle und ist dabei, den Rechtsstaat in Deutschland abzuschaffen.

Wer glaubt, Art. 1 GG würde in Deutschland uneingeschränkt gelten, kann sich in jeder Notunterkunft für Flüchtlinge eines Besseren belehren lassen. Die Menschenwürde wird mit Füßen getreten und die Bundesregierung schaut einfach nur zu. Wo sind denn die Milliarden, die einst für die Bankenrettung aufgebracht wurden? Wo ist das Engagement, das in der Finanzkrise gezeigt wurde? Es ist offensichtlich, dass diese Regierung nicht willens oder nicht in der Lage ist, das wichtigste Grundrecht in Deutschland einzuhalten, den Schutz der Menschenwürde.

Aber auch andere Rechtsbrüche werden von den Bundes- und Landesregierungen in Kauf genommen. Wer dachte, das Recht auf Privateigentum sei gewährleistet, muss sich nur den Vorschlag zu Zwangsvermietung an Flüchtlinge anschauen, um zu erkennen, dass auch dieses grundgesetzlich geschützte Recht bald wohl nicht mehr existieren wird. Dabei stellt sich die Frage, wieso dort, wo dies möglich ist, entsprechende Häuser nicht einfach gekauft werden. Dass dies teurer ist als eine Zwangsbewirtschaftung des Wohnraums, reicht definitiv nicht als Rechtfertigung aus, um einfach mal so nebenbei Art. 14 außer Kraft zu setzen.

Daneben werden die europäischen Regeln des Dublin-Abkommens und des Schengen-Abkommens einfach nicht beachtet. Es gibt überhaupt keinen Grund, warum Flüchtlinge ohne Registrierung einfach nach Schweden geschickt werden. Selbst wenn Schweden dem zustimmt, kann Deutschland nicht einfach ohne Not einen Vertrag brechen, der ja nicht nur zwischen Schweden und der BRD geschlossen wurde, sondern eine Vereinbarung mit vielen weiteren Vertragspartnern ist.
Genauso unverständlich ist es, dass die Binnengrenzen zu Österreich seit gestern de facto geschlossen sind, obwohl die Voraussetzungen für eine solche Maßnahme, nämlich eine Gefährdungslage, überhaupt nicht vorliegen. So war es die Bundesregierung selbst, die in den letzten Wochen mehrfach ausführte, dass durch die Migration keine Gefahr besteht. Doch selbst wenn man die Einführung von Grenzkontrollen als gerechtfertigt ansieht, so erlaubt das noch lange nicht, den Zugverkehr einzustellen und damit den Grenzverkehr komplett zu unterbinden. Diese Form der Abschottung ist nirgends vorgesehen und ist in keinster Weise mit europäischem Recht vereinbar.

Im Ergebnis hält sich diese Bundesregierung mittlerweile nur noch an jene Bestandteile des Grundgesetztes, die ihr gefallen, an jene Gesetze, die sie umzusetzen vermag, und an jene europäischen Verträge, deren Einhaltung ihr opportun erscheinen. Der Rechtsstaat war gestern, heute ist Deutschland nur noch eine Merkelkratie im Notstandsmodus.

Ergänzung 17.9.2015: Was die Grenzkontrollen anbelangt, so kommt es auf die Frage an, ob die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet ist. Hier bin ich in Bezug auf die letzten Tage mittlerweile zu einer anderen Einschätzung gelangt, weshalb ich die Grenzkontrollen als vertretbar erachte. Per Stand heute bezweifle ich aber wieder, dass die öffentliche Ordnung noch immer gefährdet ist. Die Grenzkontrollen sollten daher wieder auf das obere Ende des Normalmaßes reduziert werden.


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Nachgefragt: Fragen an die Bundesregierung zur Änderungen des Bleiberechts https://www.mister-ede.de/politik/fragen-zum-bleiberecht/4140 https://www.mister-ede.de/politik/fragen-zum-bleiberecht/4140#comments Tue, 04 Aug 2015 08:11:02 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=4140 Weiterlesen ]]> Anfang dieses Monats ist eine Änderungen des Bleiberechts für Flüchtlinge in Deutschland in Kraft getreten, durch die es „gut integrierten“ Flüchtlingen künftig erleichtert werden soll, in Deutschland bleiben zu können oder zumindest eine längere Duldung zu erhalten. Für die Bewertung der Integrationsleistung der einzelnen Personen wird dabei auf Schulbesuche, Abschlüsse oder einen vorhandenen Ausbildungsplatz abgestellt.
Allerdings frage ich mich in diesem Zusammenhang, ob das nicht unfair gegenüber jenen Flüchtlingen ist, die aufgrund einer Krankheit, eines Traumas oder einer Behinderung einfach nicht so leistungsfähig sind und damit auch die Anforderungen für diese bevorzugte Behandlung schwerer erfüllen können, also zum Beispiel keine Ausbildungsstelle finden. Um dies jetzt aber nicht verkürzt und gefühlsmäßig, sondern rational und voll umfänglich beantworten zu können, habe ich meine Frage(n) an die zuständigen Stellen gerichtet, also an das für das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration verantwortliche Bundesinnenministerium sowie an die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Aydan Özoğuz (SPD).

Hier sind zunächst meine Fragen und weiter unten nach einem Fazit die Antworten:

1. Nachdem das neue Bleiberecht die frühere Möglichkeit einer Aufenthaltsgenehmigung bei gut integrierten Jugendlichen vorsieht, habe ich folgende Fragen:

Haben Jugendliche mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit, z.B. aufgrund einer geistigen oder körperlichen Behinderung oder Traumata durch Krieg und Vertreibung, dieselben Chancen wie gesunde und leistungsstarke Jugendliche, eine Aufenthaltsgenehmigung nach diesen Vorschriften zu erhalten?

Wie wird verhindert, dass nur leistungsstarke Jugendliche in den Genuss dieses Vorteils kommen? Gibt es entsprechende Härtefallregelungen?

2. Nachdem das neue Bleiberecht Personen mit einer Ausbildungsstelle eine längere Duldung ermöglicht und diese damit anders behandelt als Personen ohne eine Ausbildungsstelle, habe ich folgende Fragen:

Haben Personen mit eingeschränkter Leistungsfähigkeit, z.B. aufgrund einer geistigen oder körperlichen Behinderung oder Traumata durch Krieg und Vertreibung, dieselben Chancen wie gesunde und leistungsstarke Personen, in Deutschland einen Ausbildungsplatz zu finden und von dieser Regelung zu profitieren?

Wie wird verhindert, dass nur leistungsstarke Personen in den Genuss dieses Vorteils kommen? Gibt es entsprechende Härtefallregelungen?

3. Abschließende Frage zur Vereinbarkeit mit Art. 3 III S. 2 GG:

Ist aus Sicht des Bundesinnenministeriums / der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration die Anknüpfung an die gute Integration bzw. an das Vorhandensein eines Ausbildungsplatzes mit dem Grundgesetz und insbesondere mit Art. 3 III S. 2 GG, „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, vereinbar?

Fazit:

Zu 1) Zwar gibt es keine expliziten Härtefallregeln für diese Situation, aber Personen, die durch eine Behinderung oder andere Beeinträchtigungen benachteiligt werden könnten, können andere Schutzklauseln für sich in Anspruch nehmen. Außerdem haben schwächer begabte Personen keine Nachteile, weil auf den Besuch einer Schule und nicht gleich auf einen Diplom-Abschluss abgestellt wird. Diese Verbesserung ist aus meiner Sicht daher uneingeschränkt zu begrüßen.

Zu 2) Auch in Bezug auf die 1-jährige Duldung können neben der Aufnahme einer Ausbildung auch andere Härtefallgründe in Betracht kommen. Hier jedoch fallen jene durch das Raster, die entweder nicht das richtige Talent mitbringen oder einfach nicht das Glück haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Zu Begrüßen sind daher Sonderprogramme, die hier eine Förderung bieten.
Dennoch hat diese Neuregelung einen gewissen selektiven Charakter, weil jene, die gut in das Profil Deutschlands passen, leichter eine bevorzugte Behandlung erfahren können. Allerdings, auch wenn ich dies bei humanitären Angelegenheiten als schwierig empfinde, befürchte ich, dass in der aktuellen Situation dem Umgang mit der Realität der Vorrang vor dem Beharren auf Wunschbildern einzuräumen ist.

Zu 3) Aus meiner Sicht ist die Verfassungskonformität durch die Kombination mit anderen Schutzvorschriften und Maßnahmen gegeben, auch wenn ich das Anknüpfen an einen Ausbildungsplatz zumindest als nicht unkritisch ansehe.

Antwortschreiben des BMI vom 07.08.2015:

Antworten des BMI zu 1) Die Bleiberechtsregelung nach § 25a AufenthG für gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende setzt in der Regel den erfolgreichen Besuch einer Schule oder einen anerkannten Schul- oder Berufsabschluss voraus. Eine Härtefallklausel ist in § 25a AufenthG nicht vorgesehen.
Dafür ist es nach der allgemeinen Bleiberechtsregelung des § 25b AufenthG möglich wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Krankheit oder Behinderung oder aus Altersgründen von den Regelerteilungsvoraussetzungen der Lebensunterhaltssicherung und der hinreichenden Deutschkenntnisse abzuweichen (§ 25b Absatz 3 AufenthG).
Traumatisierte oder behinderte Jugendliche kommen zudem auch für weitere humanitäre Aufenthaltsrechte, z.B. nach § 25 Absatz 4oder 5 AufenthG, in Betracht, so dass sie genauso wie „leistungsstarke Jugendliche“ eine Bleibeperspektive in Deutschland erhalten können.

Antworten des BMI zu 2) Mit dem Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung ist in § 60a Absatz 2 AufenthG klarstellend ergänzt worden, dass die Aufnahme einer Berufsausbildung ein dringender persönlicher Grund zur Erteilung einer Duldung sein kann.
Daneben sieht das Aufenthaltsgesetz aber auch die Erteilung einer Duldung aus dringenden humanitären Gründen vor (siehe § 60a Absatz 2 Satz 3 AufenthG), so dass auch die von Ihnen angesprochenen Personen ggf. eine Ermessensduldung erhalten können.
Die Bundesregierung und die übrigen Partner der „Allianz für Aus- und Weiterbildung 2015 – 2018“ wollen gemeinsam daran arbeiten, sowohl mehr leistungsstarke junge Menschen für die beruf¬liche Bildung zu gewinnen als auch mehr jungen Menschen mit schlechteren Startchancen, jungen Menschen mit migrationsbedingten Problemlagen sowie Menschen mit Behinderung eine betriebliche Berufsausbildung zu ermöglichen. Etwa durch die neu in § 130 SGB III eingeführte Maßnahme der Assistierten Ausbildung sollen mehr lernbeeinträchtigte und sozial benachteiligte junge Menschen zu einem beruflichen Abschluss gebracht und die Unter¬nehmen bei der Ausbildung unterstützt werden. Die Assistierte Ausbildung steht auch Geduldeten offen. Zudem können Zuschüsse zur Ausbildungsvergütung für behinderte und schwerbehinderte Jugendliche geleistet werden, wenn die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für eine Ausbildung vorliegen und eine Ausbildung sonst nicht erreicht werden kann.

Antworten des BMI zu 3) Das Aufenthaltsgesetz hält verschiedene Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen bereit, die gerade auch behinderten Personen zu Gute kommen können. Ein Verstoß gegen das Grundgesetz kann mithin nicht erkannt werden.


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Die Gleichwertigkeit der Stimmen und das Verfassungsgerichtsurteil zur 3%-Hürde https://www.mister-ede.de/politik/bverfg-urteil-zur-sperrklausel/2386 https://www.mister-ede.de/politik/bverfg-urteil-zur-sperrklausel/2386#comments Fri, 28 Feb 2014 18:09:50 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=2386 Weiterlesen ]]> Am Mittwoch urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass die 3%-Hürde für Parteien bei der Europawahl unzulässig ist und entfallen muss. Als Begründung führte das Gericht an, dass die Sperrklausel „gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien“ [1] verstößt.
Dies ist juristisch sicherlich richtig, denn für die Beurteilung des Wahlverfahrens der deutschen Abgeordneten ist das deutsche Grundgesetz maßgeblich und deshalb muss eben auch die Gleichwertigkeit der Stimmen in besonderem Maße beachtet werden. Es stellt sich für das Gericht somit lediglich die Frage, ob es für eine solche Sperrklausel einen Rechtfertigungsgrund gibt und genau dies verneint das BVerfG zurzeit.
Kritisiert wird am BVerfG, dass es damit möglicherweise zu weit auf das Spielfeld der Politik vorgedrungen ist. Denn ob und wie weit eine Gefahr einer Zersplitterung droht, ist eine Frage der Einschätzung, und bei solchen Fragen darf das Bundesverfassungsgericht eigentlich nur dem Spielraum des Gesetzgebers verfassungsrechtliche Grenzen setzen.
Ich teile aber auch hier die Auffassung des Gerichts, denn nachdem es keine Anzeichen dafür gibt, dass bei einem Wegfall der 3%-Hürde die Funktionsfähigkeit des Parlaments in irgendeiner Form beeinträchtigt wird, entfällt meines Erachtens auch der Spielraum des Gesetzgebers, eine mögliche Gefährdung zu prognostizieren.

Doch obwohl ich das Urteil für juristisch völlig korrekt halte, ist es aus meiner Sicht ein glatter Witz – ein Schildbürgerstreich. So stellt das Urteil höchstrichterlich fest, dass bei einer Wahl, bei der von vorneherein keine Gleichwertigkeit der Stimmen gegeben ist, eine 3%-Hürde an genau diesem Gleichwertigkeitsgebot scheitert. Betrachtet man das Europäische Parlament, dann ist die Zusammensetzung des Parlaments nicht proportional zu der Einwohnerzahl. Während Luxemburg mit rund einer halben Million Einwohner sechs Abgeordnete nach Brüssel oder Straßburg schicken darf, entfallen auf die BRD mit der 150-fachen Anzahl an Einwohnern gerade mal 96 Sitze [2], also nur 16-mal so viele.
Nun kann man sich fragen, ob es, auf die Einwohnerzahl bezogen, leichter ist 90.000 Luxemburger oder 800.000 Deutsche zu überzeugen, aber von einer Gleichwertigkeit der Stimmen kann man hier nicht sprechen.
Würde man das Bundestagswahlrecht auf diese Weise ausgestalten, also z.B. proportional dem Saarland mehr Sitze im Bundestag zuteilen, würde man gegen das Grundgesetz verstoßen. Doch weil für das Europäische Parlament europäische Gesetze gelten, muss die Gleichwertigkeit der Stimmen eben nicht bei der Wahl des gesamten Parlaments sondern nur bei der Wahl des deutschen Kontingents beachtet werden. Dies führt zu diesem zwar juristisch korrekten aber dennoch recht sinnfreien Urteil.

Aber neben dieser Realsatire wirft das Urteil auch noch für einen anderen Bereich eine Frage auf. Sind heutzutage denn noch Sperrklauseln bei Bundestags- und Landtagswahlen zulässig und in welcher Höhe sind diese vertretbar? Welche Auswirkungen die 5%-Hürde auf die Zusammensetzung des Parlaments haben kann, hat die jüngste Bundestagswahl mit zwei Parteien, die kurz vor dieser Hürde scheiterten, gezeigt. Mehrere Millionen Stimmen sind nicht im Bundestag vertreten und auch die Miniopposition ist eine direkte Folge der hohen Hürde. Auf der anderen Seite kann eine niedrigere Hürde auch den Anreiz erhöhen, mit kleineren Nischenparteien den politischen Erfolg zu suchen, was möglicherweise dann tatsächlich auf Dauer zu Problemen bei der Regierungsbildung führt.
Aus meiner Sicht sind jetzt die Abgeordneten auf Bundes- und Landesebenen gefordert, die jeweiligen Sperrklauseln zumindest auf den Prüfstand zu stellen.


[1] Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2014 (Link zur Entscheidung auf www.bundesverfassungsgericht.de)

[2] Zusammensetzung des europäischen Parlaments laut Wikipedia (Link zum Artikel über das europäische Parlament auf de.wikipedia.org)

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SPD-Mitgliederentscheid in der Diskussion https://www.mister-ede.de/politik/diskussion-mitgliederentscheid/2301 https://www.mister-ede.de/politik/diskussion-mitgliederentscheid/2301#comments Sat, 30 Nov 2013 06:13:36 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=2301 Weiterlesen ]]> Es hat mich doch etwas erstaunt, wie heftig zurzeit der Mitgliederentscheid der SPD angegriffen wird. Dabei verwundert vor allem die Unsachlichkeit, mit der sich Journalisten und diverse Blogs mit der Frage der Verfassungskonformität dieses Mitgliederentscheids auseinandersetzen. Exemplarisch kann man das ZDF-Interview von Marietta Slomka nehmen, in dem die Argumente und Begründungen von Sigmar Gabriel einfach ignoriert wurden [1].

Dafür wird der Staatsrechtler Degenhart, der sich z.B. bei Handelsblatt Online zu den verfassungsrechtlichen Bedenken äußerte, vielfach zitiert [2]. Nun habe ich zwar auch schon auf  Degenhart verwiesen, z.B. bei der rechtlichen Bewertung der neuen Rundfunkbeiträge [3], allerdings muss man schon feststellen, dass Degenhart sehr viele Dinge als verfassungsrechtlich bedenklich einstuft und seine Meinung häufig auch nur eine Mindermeinung ist.
Dennoch wird auch in Blogs vielfach die Aussage zu den verfassungsrechtlichen Bedenken bereitwillig und völlig unreflektiert übernommen. Natürlich hat Degenhart recht mit seiner Kritik an der Parteiendemokratie, in der die Parteitage gelegentlich wichtiger erscheinen als Parlamentssitzungen des Bundestags. Der Fraktionszwang bei diversen Entscheidungen ist wohl die bekannteste Ausprägung dieser Unart. Trotzdem liegt Degenhart mit seiner Einschätzung zum Mitgliederentscheid falsch.

Als erstes ist festzustellen, dass ein Koalitionsvertrag kein Vertrag sondern eine Absichtserklärung ist. Damit binden sich keinerlei Rechtsfolgen an diesen Koalitionsvertrag, so dass er juristisch als gar nicht existent zu betrachten ist. Im Falle eines Vertragsbruchs kann keine Partei vor ein Gericht ziehen und den jeweiligen Koalitionspartner auf Einhaltung des Vertrags oder gar Schadenersatz verklagen. Das Scheitern von Regierungskoalitionen ist im Übrigen auch keine Neuheit, weder auf Bundesebene noch in den Ländern.

Als zweites muss man anfügen, dass die SPD-Mitglieder weder den Bundestag neuwählen, noch die Kanzlerin wählen, sondern lediglich über die Zusammenarbeit der SPD mit den Unionsparteien abstimmen. Insofern ist es schon kurios, wenn Thomas Stadler in seinem Blog zur Einschätzung kommt, „es geht […] – zumindest juristisch – nicht um die innere Ordnung der SPD, sondern um eine Regierungsbildung“ [4]. Genau darum geht es eben – zumindest juristisch – nicht.
Natürlich zielt eine Partei darauf ab, Regierungsverantwortung zu erhalten, um eigene Inhalte umzusetzen. Dennoch ist die Frage, wie sich die Partei ausrichtet, um dieses Ziel zu erreichen, eine innerparteiliche Angelegenheit. Auch dies ist ein Grund, warum nicht jeder Koalitionsvertrag am Ende auch in einer Regierung mündet. Heide Simonis in Schleswig-Holstein oder Andrea Ypsilanti in Hessen, die beide trotzt eines Koalitionsvertrags auf dem Weg zur Regierungsbildung scheiterten, belegen das eindrücklich.
Und nachdem es sich um eine innerparteiliche Angelegenheit handelt, ist es dementsprechend auch weder die Aufgabe der Nichtmitglieder, die Entscheidungsprozesse innerhalb der SPD festzulegen, noch ist es deren Aufgabe, über die internen Angelegenheiten der SPD mitzuentscheiden.

Besonders bizarr erscheint mir aber noch ein dritter Punkt. Kritisiert man tatsächlich nur den Mitgliederentscheid, so wie Slomka in ihrem Interview, dann bedeutet dies ja umgekehrt, dass eine Entscheidung eines kleinen Gremiums oder gar eine einsame Entscheidung eines Parteivorsitzenden unproblematisch seien. Wieso aber ausgerechnet die Kungelei unter einigen wenigen ein besonders schützenswerter demokratischer Prozess ist, hat sich mir bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht erschlossen.
Damit wird auch deutlich, dass es völlig deplatziert ist, gerade den Mitgliederentscheid für die Kritik an der Parteiendemokratie zu nutzen. Ginge es wirklich um die Auswüchse der Parteiendemokratie, dann müsste man unabhängig von diesem Mitgliederentscheid fragen, ob Koalitionsvereinbarung zwischen Parteien oder ein möglicher Fraktionszwang bei der Kanzlerwahl nicht die Demokratie gefährden.
Dies wäre dann auch durchaus ein interessanter Punkt, denn er führt zur Frage, ob es für die Demokratie nicht besser wäre, wenn z.B. Angela Merkel ganz ohne Koalitionsvertrag in einer Minderheitsregierung versucht jedes Mal neue Mehrheiten zu suchen.


[1] Interview von Marietta Slomka im ZDF Heute-Journal vom 28.11.2013 mit Sigmar Gabriel (SPD) (Link zum Interview auf www.youtube.com)

[2] Artikel vom 28.11.2013 auf Handelsblatt Online zu den verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber dem SPD-Mitgliederentscheid (Link zum Artikel auf www.handelsblatt.com)

[3] Der Rundfunkbeitrag – Ein Koloss bewegt sich (www.mister-ede.de – 05.02.2013)

[4] Blog-Artikel vom 29.11.2013 von Thomas Stadler zum SPD-Mitgliederentscheid (Link zum Blog-Artikel auf www.internet-law.de)

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Die blinde Masse https://www.mister-ede.de/politik/die-blinde-masse/703 https://www.mister-ede.de/politik/die-blinde-masse/703#comments Sat, 31 Mar 2012 10:12:38 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=703 Weiterlesen ]]> Die Kampagne im Netz gegen einen Verdächtigen aus Nord-Deutschland ist die Schattenseite der Massenbewegungen, die das Netz ermöglicht [1]. Eine Masse, die von Emotionen geleitet die Freiheitsrechte anderer Bürger mit den Füßen tritt, ist eine Gefahr für unsere Gesellschaft. Es stimmt mich bedenklich, dass der private Anbieter Facebook, die Plattform dafür bereitstellt. Ich bin zwar nicht für eine Altersbeschränkung (mindestens 18 Jahre) bei Facebook, aber in Schulen und Jugendorganisationen sollte sowohl unser Grundgesetz, als auch unsere Geschichte wieder stärker ein Thema sein. Eine blinde Masse, die gegen einen Einzelnen, oder eine Minderheit hetzt gab es in Deutschland nämlich schon einmal in beträchtlichem Ausmaß.

Facebook macht mit der Massenbewegung des Internets gute Geschäfte, aber der Schutz der individuellen Freiheitsrechte, wie sie im Grundgesetz stehen, sieht Facebook wohl nicht als seine Aufgabe, genauso wie der Datenschutz nicht zu den Stärken von Facebook zählt. Während ein privater Fernsehsender, in dessen Programm zur Lynchjustiz aufgerufen wird, sehr schnell abgeschaltet werden würde, hat Facebook als Kommunikationsplattform relativ wenig zu fürchten. Ich sehe hier auch den Staat (Polizeibehörden, Politik, Datenschutzbeauftragte) in der Pflicht, geeignete Regelungen zu erlassen und die Einhaltung der Gesetze zu gewährleisten. Twitter sollte z.B. bei solchen Fällen tatsächlich zensieren dürfen oder müssen, genauso wie Facebook aufgerufen sein sollte, möglichst schnell,  Beiträge oder Accounts zu sperren, und die Inhaber der Profile darauf hinzuweisen, dass „rassistische, verachtenden,…“ Kommentare nicht mit deutschem Recht vereinbar sind. Ich glaube Vielen ist, z.B. aufgrund des Alters (Kinder), gar nicht bewusst, was sie machen. Der Unterschied zu einer Meinung im privaten Kreis unter Freunden ist ja bei Facebook, dass diese Meinung veröffentlicht ist.

Jetzt sollen diejenigen ermittelt und evtl. bestraft werden, die zur “Lynchjustiz” aufgerufen haben. Ich schätze zum Teil waren das Kinder und Jugendliche, die in Facebook unterwegs waren. Zum Teil Leute die nicht bekommen haben, dass es ein Unterschied ist eine Meinung im privaten Kreis Kund zu tun, oder diese auf eine öffentliche Plattform zu stellen, bei der viele unbekannte andere Nutzer Zugriff haben (z.B. Twitter).

Ich stelle mir auch die Frage, wie das bei der Bewegung der Piratenpartei aussehen wird. Wird dann auch dort am Ende ein „Opfer“, in Form einer Person oder einer Minderheit (Unternehmer, Ausländer, Straftäter,…) gesucht, auf dessen Kosten man Stimmung machen kann. Wie soll der Schutz von Minderheiten in einem System der blinden Masse funktionieren? Aus meiner Sicht ist die Piratenpartei der politisch verlängerte Arm dieser Masse, die von Emotionen geleitet über die individuellen Freiheitsrechte des Grundgesetzes hinweg stürmt.


[1] Tagesschau-Bericht zum Thema vom 31.03.2012 auf www.tagesschau.de

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