Die Lehre aus „Faust“: Genügsam leben, anstatt nach immer mehr zu streben

Ach, was wird nicht alles in Goethes Faust hineininterpretiert. Dabei dreht sich das Faust-Motiv im Kern nur um die vielen Menschen innewohnende Ambivalenz, nach einem Zustand zu streben, der sie von diesem Streben befreien soll. Sie versuchen, immer wissender zu werden, bis sie Allwissenheit erlangen, immer reicher zu werden, bis ihnen die Welt gehört, immer mächtiger zu werden, bis sie allmächtig sind, und geliebt zu werden, bedingungslos und unendlich. Doch während sie damit nach eigener Göttlichkeit streben, um ihrem Menschsein Sinn und Erfüllung zu geben, verlieren sie ihr Kostbarstes – ihre Menschlichkeit.

Wer hingegen die Genügsamkeit als Ziel erkennt, steigt aus dem Hamsterrad des immer mehr, höher, schneller, teurer, neuer und weiter aus und fängt an, zufrieden im Einklang mit seiner eigenen Spiritualität und der ihn umgebenden Umwelt zu leben. Es ist das christliche und das jüdische Leben in Liebe zu Gott, seinen Mitmenschen und sich selbst. Es ist das buddhistische und das hinduistische Leben in vollendeter Erleuchtung. Es ist das islamische Leben mit Liebe zu Glaube und Menschheit. Es ist das Leben vieler traditioneller Religionen in Harmonie mit der Natur und ihren Geschöpfen. Und es ist das atheistische Leben nach Maßgabe des Kantschen kategorischen Imperativs.

Wer Gier, Hass und Selbstsucht überwindet, hat Faust nicht nur verstanden, sondern zieht daraus auch die richtigen Lehren. Er hört auf, nach immer mehr zu streben. Er beginnt, wahrhaftig zu leben.
Und so endet die Geschichte des Faust damit, dass daraus jeder lernen möge, genügsam das Sein zu schätzen und nicht, wie es einst Faust getan hat, dem Teuflischen in sich zu verfallen [1].


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[1] Satz entlehnt an einen Satz aus Kapitel 68 der „Historia von D. Johann Fausten“ von unbekanntem Autor. Erstdruck von Johann Spies, Frankfurt am Main, 1587. Vorlage für Goethes zwei Jahrhunderte später erschienenen Faust. Volltext auf www.zeno.org

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