mister-ede.de » europäische Integration https://www.mister-ede.de Information, Diskussion, Meinung Fri, 01 Dec 2023 14:44:02 +0000 de-DE hourly 1 http://wordpress.org/?v=3.4.2 Vertrag zur friedlichen Koexistenz zwischen der Allianz und der Russischen Föderation und zur Beilegung des Grenzstreits in der Ukraine https://www.mister-ede.de/politik/vertrag-friedliche-koexistenz/9253 https://www.mister-ede.de/politik/vertrag-friedliche-koexistenz/9253#comments Tue, 17 May 2022 19:59:55 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9253 Weiterlesen ]]> In Anerkennung des jahrelangen Leidens der Menschen in der Ostukraine, den Grausamkeiten der letzten Monate und der inzwischen größten humanitären Katastrophe im Europa des 21. Jahrhunderts verpflichten sich alle Beteiligten zum Ende sämtlicher Feindseligkeiten.
In Anerkennung der unüberbrückbaren Differenzen zwischen der Allianz und der Russischen Föderation verpflichten sich alle Beteiligten, eine Ordnung der friedlichen Koexistenz zu etablieren und damit ein, trotz dieser Differenzen, funktionierendes und angstfreies Zusammenleben in Europa und der Welt zu ermöglichen.

1) Die Allianz verpflichtet sich, die Integrität und völkerrechtliche Souveränität der Russischen Föderation zu achten und das Selbstbestimmungs- und Selbstorganisationsrecht der Russischen Föderation in keiner Weise zu berühren oder zu unterlaufen.

2) Die Allianz verspflichtet sich, allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die über den Vertrag zur kollektiven Sicherheit mit der Russischen Föderation verbunden sind, z.B. Belarus oder Kasachstan, dieselben unter Punkt 1 genannten Garantien zu gewähren.

3) Die Russische Föderation verpflichtet sich, die Integrität und völkerrechtliche Souveränität aller Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die nicht über den Vertrag zur kollektiven Sicherheit mit der Russischen Föderation verbunden sind, z.B. Aserbaidschan oder Georgien, zu achten und deren Selbstbestimmungs- und Selbstorganisationsrecht in keiner Weise zu berühren oder zu unterlaufen. Im Gegenzug verpflichten sich diese Länder, auf die offizielle Mitgliedschaft in anderen Militärbündnissen sowie die Beschaffung und den Besitz von ABC-Waffen oder anderen künftigen Waffensystemen zur Massenvernichtung zu verzichten. Die bestehenden NATO-Mitgliedschaften von Estland, Lettland und Litauen bleiben hiervon unberührt.

4) Die Allianz beendet sämtliche Sanktionen bezüglich Luft- und Raumfahrt und des internationalen Finanzwesens und gibt eingefrorene russische Vermögenswerte wieder frei. Sämtliche Sanktionen gegen Einzelpersonen, die im Zusammenhang mit dem heutigen oder den vergangenen Konflikten in der Ukraine verhängt wurden, werden aufgehoben. Die Russische Föderation verpflichtet sich zu selbigem gegenüber der Allianz.

5) Die Russische Föderation erkennt die völkerrechtliche Souveränität der Ukraine in ihren neuen, unter Punkt 6 beschriebenen Grenzen an. Die Russische Föderation erkennt explizit die Zugehörigkeit der Ukraine zur Allianz sowie eine potentielle, künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der EU vollumfänglich an. Die Ukraine verpflichtet sich im Gegenzug, auf eine Mitgliedschaft in der NATO oder in anderen Militärbündnissen sowie auf die Beschaffung und den Besitz von ABC-Waffen oder anderen künftigen Waffensystemen zur Massenvernichtung zu verzichten.

6) Die Ukraine stimmt im Einklang mit dem Völkerrecht der Übertragung der Krim an Russland zu. Ferner erkennt die Ukraine die völkerrechtliche Souveränität der von den Separatisten vor dem 22.2.2022 kontrollierten Gebiete in den bisherigen Oblasten Donezk und Luhansk an. Es bleibt den neuen Volksrepubliken freigestellt, sich im Anschluss per Referendum der Russischen Föderation anzuschließen. Alle weiteren bisherigen ukrainischen Staatsgebiete bilden das neue, völkerrechtlich anerkannte ukrainische Staatsgebiet.

7) Die Russische Föderation und die Allianz vereinbaren außerdem eine friedliche Koexistenz. Es besteht beidseitig kein Anspruch auf den freien Verkehr von Personen und Gütern oder auf einen sonstigen Austausch zwischen der Allianz und der Russischen Föderation. Im gegenseitigen Einvernehmen kann von dieser friedlichen Koexistenz jederzeit zugunsten von Handel, Wissenschaft, Kultur und der Völkerverständigung abgewichen werden.

8) Die Russische Föderation wird wieder vollständiges Mitglied im Europarat. Sie verpflichtet sich, mit Ernsthaftigkeit die Regeln der Europäischen Menschenrechtskonvention zu befolgen sowie Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte umzusetzen.

9) Für den Fall eines Angriffs von außen auf die Territorien oder sonstigen Einrichtungen der Allianz oder der Russischen Föderation verpflichten sich beide Seiten zum gegenseitigen Beistand.

10) Als Entschädigung und zur Beseitigung der materiellen Kriegsschäden erhält die Ukraine eine Reparationszahlung in Höhe von 500 Mrd. Euro. Geleistet wird diese Zahlung zu 35% von der Russischen Föderation, zu 35% von der EU, zu 20% von den USA, zu 5% von Großbritannien, zu 2% von der Schweiz und jeweils zu 1% von Norwegen, Kanada und der Türkei.


Text als PDF: Vertrag zur friedlichen Koexistenz zwischen der Allianz und der Russischen Föderation und zur Beilegung des Grenzstreits in der Ukraine


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Putins Krieg in der Ukraine und wie es dazu kam https://www.mister-ede.de/politik/putins-krieg-in-der-ukraine/9234 https://www.mister-ede.de/politik/putins-krieg-in-der-ukraine/9234#comments Thu, 31 Mar 2022 21:53:36 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=9234 Weiterlesen ]]> Text als PDF: Putins Krieg in der Ukraine und wie es dazu kam

Es sind schwere Tage und Wochen, sicher für viele von uns – und doch sind wir damit in Deutschland noch sehr gut bedient, im Gegensatz zu all den Menschen, die in der Ukraine Tod, Not und Leid erfahren und um ihre Familien, ihr Leben, ihre gesamte Existenz bangen müssen.
Der von Wladimir Putin befohlene Überfall auf die souveräne, freiheitlich-demokratische Ukraine führt zu menschlichen Tragödien, natürlich zuvörderst in der Ukraine selbst, aber auch durch zu erwartende Versorgungsengpässe weit darüber hinaus, insbesondere in den ärmsten Regionen der Welt. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg durch Russland wirft überdies die gesamte Sicherheitsordnung in Europa und weltweit durcheinander. Die Vereinten Nationen wurden schwer geschädigt, Jahrzehnte des Dialogs mit Russland sind auf einen Schlag Makulatur und gerade in Europa müssen wir uns fragen, ob wir an manchen Abzweigungen in der Vergangenheit einen anderen Weg hätten einschlagen sollen oder gar müssen. Wie konnte es nur so weit kommen, dass dieser seit mindestens 20 Jahren schwelende Konflikt über einen eigenständigen Weg der freien Ukraine nun in diesem grauenhaften Krieg mündete?

Übersicht:

Die Vorgeschichte

Die Sowjetunion (UdSSR – Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken)

Der Zusammenbruch

Die Ukraine

Das Völkerrecht

Die Geopolitik

Vom Maidan bis Minsk II

Die Entwicklung ab 2015

Der Territorialkonflikt

Die Entwicklung seit 2020

Die Monate vor dem Krieg

Meine Fehleinschätzung

Putins Fehleinschätzung

Die Reaktionen auf Putins Angriff

Wie geht es weiter?

Die Vorgeschichte

Was vor 1945 geschah, liegt so lange zurück, dass es heutzutage höchstens noch als Narrativ dient, real also nichts mit der heutigen Situation zu tun hat, außer vielleicht, dass Vladimir Putin (englische Schreibweise) hieraus gerne Ausreden für seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine bastelt. Genauso gut könnte man aus den von Putin selbst dargelegten historischen Abrissen schlussfolgern, dass Russland eigentlich nur ein Ableger der Ukraine sei, also gar keine Eigenständigkeit verdiene und Kiew nun über Moskau herrschen solle. Es ist insofern völlig müßig, sich näher mit diesen Einlassungen Putins zu beschäftigen.
Nicht ganz so einfach darf man es sich aber mit jener Zeit machen, die von den aktiven Entscheidungsträgern – je nach Alter mal mehr, mal weniger lange zurückreichend – bewusst erlebt wurde und diese geprägt hat. Wer im Kalten Krieg aufgewachsen ist, schaut tendenziell anders auf die Welt, auf die USA, auf Russland oder China als eine Person, die 1990 geboren wurde. Und ein Vladimir Putin, der in der Sowjetzeit ja nicht irgendwo, sondern im KGB sozialisiert wurde, also im sowjetischen Geheimdienst, dem Herzstück der damaligen kommunistischen Diktatur, wird seinen ganz eigenen Blick auf die Geschichte haben. Die nachfolgende Analyse setzt daher bereits in der Sowjetunion ein und versucht, aus geopolitischer Perspektive die Entwicklung Russlands und der Ukraine nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Sowjetimperiums bis hin zum jetzigen Krieg zu beschreiben.

Die Sowjetunion (UdSSR – Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken)

Bis 1991 existierte die 1922 gegründete Sowjetunion (ca. 290 Mio. Einwohner im Jahr 1990), die sich aus verschiedenen Teilrepubliken zusammensetzte. Die wichtigste Teilrepublik war dabei die Russische SFSR (Sozialistische Föderative Sowjetrepublik), die sowohl flächenmäßig (ca. 75% des sowjetischen Territoriums) als auch vom Bevölkerungsanteil (51%) mit Abstand größte Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion. Weitere Teilrepubliken innerhalb der UdSSR waren nach Bevölkerungsanteil: Die Ukraine (18%), Usbekistan (7%), Kasachstan (6%), Belarus (3,6%), Aserbaidschan (2,5%), Georgien (1,9%), Tadschikistan (1,8%), Kirgisien, Moldawien, Litauen, Turkmenistan, Armenien, Lettland und die kleinste Teilrepublik Estland (0,5%) [1]. All diese heutzutage souveränen Länder waren vor 1991 Teil der UdSSR und ihrerseits selbstverständlich ebenfalls als SSR, also „Sozialistische Sowjetrepublik“, organisiert. Formal waren Russland, die Ukraine und die anderen SSR also keine Staaten, sondern Bundesländer innerhalb des gemeinsamen Staates „UdSSR“ mit seiner Hauptstadt Moskau.
Der Einfluss Moskaus reichte im Kalten Krieg aber weit über die Grenzen der UdSSR hinaus. So waren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion auch die ganzen Warschauer-Pakt-Staaten, also Polen (37 Mio.), Rumänien (22 Mio.), die DDR (17 Mio.), die Tschechoslowakei (16 Mio.), Ungarn (11 Mio.) und Bulgarien (9 Mio.), Teil der sozialistischen bzw. kommunistischen Welt. Zwar blieben diese Länder formal, also völkerrechtlich, stets souverän, gleichwohl standen sie allesamt über die jeweils vor Ort herrschenden kommunistischen Staatsparteien unter der direkten Kontrolle Moskaus.
Lose verbunden mit der UdSSR waren außerdem in Europa das ebenfalls kommunistische Jugoslawien (24 Mio. Einwohner) sowie weltweit eine Vielzahl „Sozialistischer Bruderstaaten“ wie z.B. Kuba oder Mosambik.

Der Zusammenbruch

All dies zerbrach infolge des Kollaps der Sowjetunion – Putins Trauma und auch objektiv kein ausnahmslos positives Ereignis. Wäre die UdSSR zwischen 1989 und 1991 einfach nur demokratisch geworden, wäre das für die Welt vermutlich tausendmal besser gewesen.
So aber stolperten all die verbündeten sozialistischen Länder samt ihren Machthabern weltweit in einen Zustand der Schutzlosigkeit und eigener Instabilität. In manchen sozialistischen Diktaturen gelang es den Herrschenden an der Macht zu bleiben und Scheindemokratien zu etablieren. Andere Länder versanken in Bürgerkrieg und wieder andere wurden durch das Fehlen einer Schutzmacht zum Angriffsziel für die Nachbarstaaten. Insgesamt waren die 90er-Jahre unter anderem mit dem zweiten Golfkrieg, den Jugoslawien-Kriegen oder auch dem Völkermord in Ruanda, der fast so viele Opfer forderte wie der komplette Vietnamkrieg, wohl das kriegerischsten Jahrzehnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für viele Menschen bedeutete das Ende der sozialistischen Diktatur daher gar nicht Freiheit, sondern oftmals nur Krieg oder das Weiterleben unter irgendwelchen kapitalistischen Diktatoren.

Deutlich besser lief es hingegen für die Warschauer-Pakt-Staaten, deren Bevölkerungen sich zwar weitestgehend mit dem Kommunismus abfanden, aber nie damit glücklich wurden. Diese Länder rissen sich natürlich sofort nach dem Zusammenbruch der UdSSR aus jenen Fängen Moskaus los, die zuvor auch dank der Protestbewegung in diesen Staaten gesprengt wurden. Beim folgenden Demokratisierungsprozess wurden die ehemaligen Warschauer-Pakt-Länder dann auch massiv von den westlichen Demokratien unterstützt, z.B. im Rahmen der langjährigen Aufnahmeprozesse in die EU. Es ist übrigens genau der Grund, warum in diesen EU-Ländern heute ein Gefühl vorhanden ist, von Brüssel bevormundet zu werden. Es ist der EU nicht vorzuwerfen, aber freilich ist es schon so, dass Polen und andere Länder in den letzten 20, 30 Jahren sehr, sehr weite Wege gehen mussten, um fit für den Beitritt zur EU zu werden, alle Vorgaben aus Brüssel zu erfüllen und die nationalen Regelwerke und Verfahren mit dem EU-Recht zu harmonisieren. Natürlich war dies alles notwendig, aber daran sieht man gut, wie das, was man in Deutschland oder Frankreich als Hilfe für diese Länder empfindet, in Polen oder der Slowakei als Bevormundung wahrgenommen werden kann. Und ja, so sehr mich selbst der Verlauf der Geschichte freut, für einen KGB-Mann im Kreml muss das alles so wirken, als ob ein „Bruder“(Volk) nach dem nächsten von der schönen Europa verführt und dann von Uncle Sam in die NATO verschleppt wurde. Was Putin offenbar nicht sehen kann oder will, ist, dass es sich dabei stets um wahre Liebe handelte, die Liebe der Menschen zur Demokratie und zur Freiheit (und sicher auch zum Wohlstand).

Es waren Anfang der 90er-Jahre aber nicht nur die Verbündeten der UdSSR, die sich von Moskau lossagten, sondern die UdSSR löste sich 1991 auch selbst auf. Die Rechtsnachfolge ging dabei auf die Russische SFSR über, die sich im Anschluss in die Russische Föderation umformte, während die restlichen Sowjetrepubliken, von der Ukraine bis Estland, nach Jahrzehnten die Eigenstaatlichkeit zurückerlangten und unabhängig wurden. Viele dieser SSR blieben in der Folge aber trotzdem in enger Verbindung zu Russland, wurden z.B. Teil der GUS (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten – was ein interessanter Name für eine Gemeinschaft aus weitestgehend von Russland abhängiger Staaten ist) und schlossen sich militärisch über den Vertrag über kollektive Sicherheit zusammen. Einen anderen Weg schlugen allerdings die drei kleinen baltischen Länder ein, Estland, Lettland und Litauen. Diese schafften, ähnlich wie die Warschauer-Pakt-Staaten, in den 90er-Jahren den demokratischen Übergang und wurden ein gutes Jahrzehnt später, im Jahr 2004, Teil der EU und der NATO. Und mich freut das natürlich wieder riesig, weil dort gut 6 Mio. Menschen inzwischen in Demokratie, Freiheit und wachsendem Wohlstand leben können. Vladimir Putin dürfte das hingegen heute wohl ganz und gar nicht mehr freuen. Unklar ist jedoch, ob Putin zum damaligen Zeitpunkt des Beitritts noch anders dachte und mit Russland tatsächlich auch noch selbst in die NATO wollte. So ganz fern liegt der Gedanke ja nicht, immerhin handelt es sich bei der NATO um ein Militärbündnis, dessen wichtigstes Mitglied, die USA, es gewohnt ist, das Völkerrecht bei Bedarf ungestraft zu brechen, z.B. 2003 mit einer Lüge über Massenvernichtungswaffen im Irak.
Entweder hat Putin damals also wirklich nicht geahnt, dass sein Weg und der Weg Russlands einmal in die Fundamental-Opposition zur NATO und zur EU führen. Oder Putin hat zu diesem Zeitpunkt schlicht noch nicht die politische Macht oder militärische Kraft gehabt, um diese Osterweiterung von EU und NATO zu verhindern. Dass ein Teil der früheren UdSSR heute zu einem rivalisierenden Machtblock gehört, dem freien Westen, dürfte Putin mittlerweile aber durchaus als Schmach empfinden, für die er nun keine ukrainische Wiederholung braucht.

Der Zerfall der kommunistischen Welt war in den 1990ern jedoch nicht auf die UdSSR und ihre Verbündeten beschränkt, sondern auch innerhalb der Russischen SFSR bzw. der nachfolgenden Russischen Föderation gab es Sezessionsbestrebungen einzelner „Provinzen“. Zur Vorstellung daher mal ein Vergleich: Wenn sich als erstes die EU-Verbündeten verabschieden, z.B. Kanada und Japan, dann Norwegen als EWR-Staat (Europäischer Wirtschaftsraum) die Segel streicht, bevor sich die EU gänzlich auflöst und sich anschließend auch noch Bayern von Deutschland lossagen will, dann wäre die Bundesrepublik Deutschland in etwa in der Situation, in der sich die Russische Föderation Ende der 90er-Jahre politisch befand. Selbst russische Provinzen wie Dagestan und Tschetschenien strebten damals nach der Unabhängigkeit von Moskau, obwohl sie völkerrechtlich eigentlich fester Bestandteil der Russischen Föderation waren und gar kein Recht zur Sezession hatten.
Dass allerdings auch Völkerrechtssubjekte von der Realität zerlegt werden können, hatten die Jugoslawien-Kriege der 90er-Jahre Putin aber eindrücklich vor Augen geführt. Und so wurde bereits Mitte der 90er unter Putins Vorgänger im Präsidentenamt, Boris Jelzin, im ersten Tschetschenien-Krieg heftig gekämpft, um wenigstens die Integrität Russlands zu erhalten und zu verhindern, dass das Land zu einem großen Jugoslawien wird und ebenfalls komplett auseinanderbricht. Die Situation in Tschetschenien befriedete sich allerdings kaum und so startete Putin im Jahr 1999 schon kurz nach seinem Amtsantritt als Ministerpräsident, damals noch unter Präsident Jelzin, einen jahrelang andauernden zweiten Tschetschenienkrieg, um die Kontrolle Moskaus über die abtrünnige Kaukasus-Provinz zurückzuerlangen.

Mit seiner Übernahme des Präsidentenamtes im Jahr 2000 erbte Putin insofern ein politisch zerfallendes Russland, das sich überdies wirtschaftlich in der Hand von Oligarchen befand. Ich hätte dieses Land definitiv nicht von innen heraus retten können – schon alleine, weil ich Skrupel gehabt hätte, einfach mal so ein paar Oligarchen liquidieren zu lassen, aber auch, weil ich keine loyalen Vertrauten in den russischen Geheimdiensten gehabt hätte. Bei Putin hingegen war es genau umgekehrt, gute Verbindungen zu den Geheimdiensten hatte er zahlreiche, Skrupel dafür umso weniger. Und so ist es ihm mit einer eisernen (und blutigen) Hand tatsächlich gelungen, das Land zu stabilisieren und zumindest wieder ein „staatliches“ Gewaltmonopol in Russland herzustellen – territorial und ökonomisch. Das heißt natürlich nicht, dass Putin die Oligarchie beseitigt hat – im Gegenteil, viele in seinem Umfeld sind sehr reich geworden – aber die Oligarchen hören jetzt wieder auf jemanden und bekämpfen sich zumindest nicht mehr gegenseitig mit ihren „Privat-Armeen“. Putin hat es also mit Brutalität geschafft, dass die meisten Oligarchen inzwischen lieber mit ihm leben, als bei Brot und Wasser in einem Straflager zu sterben – Ausnahmen wie Nawalny bestätigen die Regel. Und dasselbe gilt für die lokalen und regionalen politischen Machthaber, die ja auch wirklich gut mit ihrem Putin leben, solange sie nicht aufmüpfig werden. Auf diese Weise – und selbstverständlich durch die Unterdrückung der Presse, die Kontrolle der Justiz und viele weitere Repressalien – hat Putin seit etwa 10 bis 15 Jahren eine im gesamten Territorium der Russischen Föderation gesicherte Herrschaft mit stabiler Verwaltung und durchkontrollierter Öffentlichkeit geschaffen (bei der es unterm Deckel aber weiterhin ganz schön brodelt).

Die Ukraine

Innerhalb der Sowjetunion war die Ukraine mit ihren gut 50 Mio. Einwohnern nach der Russischen SFSR die mit Abstand wichtigste Sowjetrepublik. Mit riesigen landwirtschaftlichen Flächen und großer Stahlindustrie war sie ein zentraler Baustein der Sowjetwirtschaft und dazu mit ihren großen Schwarzmeerhäfen auch von strategischer Bedeutung.
Nach dem Zerfall der UdSSR haben sich dann in der Ukraine – wie in Russland – viele der einstigen kommunistischen Funktionäre einen Stück Staatsbesitz unter den Nagel gerissen und fortan als Oligarchen Karriere gemacht. In den 90er-Jahren näherte sich die Ukraine außerdem dem Westen etwas an und die Machthaber in Kiew versuchten eine freundschaftliche Distanz zu Moskau zu halten. Das änderte sich auch nicht, als im Jahr 2000 Putin in Russland das Ruder übernahm.

Schon seit Beginn seiner Präsidentschaft ist Putin, der es als Aufgabe sieht, „seine Sowjetunion“ zu erhalten, daher mit der Situation konfrontiert, verhindern zu müssen, dass die Ukraine den gleichen Weg geht wie die baltischen Staaten und damit ein aus seiner Sicht integraler Bestandteil der ehemaligen UdSSR für immer an den (freiheitlich-demokratischen, respektive US-amerikanischen) Systemrivalen verloren geht. Mit Wahlfälschungen sollte daher 2005 der Moskau-treue Wiktor Janukowytsch zum Präsidenten gemacht werden, was jedoch an Protesten der Bevölkerung und einem nicht-linientreuen Gerichtshof in der Ukraine scheiterte, so dass bereits von 2005 bis 2010 mit Wiktor Juschtschenko ein Präsident in der Ukraine an der Macht war, der ganz klar eine NATO-Mitgliedschaft für sein Land anstrebte. Durch das Zudrehen des Gashahns und unverhohlene Drohungen gegen die Ukraine ist es Putin damals allerdings gelungen, die europäischen NATO-Mitglieder davon zu überzeugen, dass eine Aufnahme der Ukraine in das westliche Bündnis mehr Nachteile als Vorteile für Europa (und die Ukraine) mit sich bringen könnte. Deutschland war daher eine treibende Kraft gegen die damalige Aufnahme, zumal auch in der Ukraine selbst die Stimmung noch eine ganz andere, deutlich russlandverbundenere war.
2010 gelang es dem aus dem Donbas stammenden Janukowytsch dann im zweiten Anlauf mit einer massiven Wahlkampagne, finanziert sicherlich auch aus Russland, Juschtschenko im Präsidentenamt nachzufolgen. Damit steckte Janukowytsch aber seit seinem Amtsantritt in der Zwickmühle, auf der einen Seite die Ukraine stärker an den Westen anbinden zu müssen, wie es das Volk mehrheitlich von ihm verlangte, und gleichzeitig Putins Wünschen folgend genau diese Westbindung zu verhindern. Als Janukowytsch daraufhin im Jahr 2013 das bereits ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU stoppte, nahmen die Proteste im Land, die Maidan-Bewegung in Kiew und der Umsturz ihren Lauf. Dass dieser Umsturz vom Westen zusätzlich befördert wurde, sei es durch staatliche Akteure, politische Stiftungen, gemeinnützige Vereine oder Privatleute, ist dabei unzweifelhaft – und für uns als überzeugte Demokratinnen und Demokraten auch keineswegs unredlich. Putin oder auch die chinesische, iranische oder nordkoreanische Führung dürften das naturgemäß jedoch anders sehen.

Das Völkerrecht

Einen Punkt hat Putin dennoch. Keinen letztlich validen, aber einen, der für jene erkennbar ist, die in Gesetzen das „Willkürliche“ sehen. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, z.B. die Höchstgeschwindigkeit im Straßenverkehr. Warum beträgt diese innerorts genau 50 km/h, warum nicht 40 km/h? Natürlich muss sich eine Gesellschaft auf eine Regelung einigen, es ist aber völlig willkürlich, also nicht rational begründbar, warum man sich letztlich genau auf diese eine bestimmte Höchstgeschwindigkeit einigt.
Und genauso ist die völkerrechtliche Einteilung, welche Gebiete man als Völkerrechtssubjekte behandelt, also als eigenständige, souveräne Staaten, in einem gewissen Maße willkürlich. So ist beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland ein einziges Völkerrechtssubjekt und wenn Markus Söder morgen die Unabhängigkeit von Bayern erklärt, dürfte Berlin im selben Moment die Bundespolizei schicken und ihn verhaften lassen. Vom Völkerrecht her wäre es sogar erlaubt, in einem solchen Fall die Bundeswehr mit Soldaten, Panzern und Düsenjets nach Bayern zu schicken, um eine Sezessionsbestrebung gewaltsam niederschlagen zu lassen – ein solcher Militäreinsatz im Inneren ist nur in Deutschland aufgrund der speziellen deutschen Historie vom Grundgesetz verboten.
Würde sich die BRD jedoch morgen auflösen und alle 16 Bundesländer erhielten die Unabhängigkeit und wären fortan eigenständige Völkerrechtssubjekte – so wie es damals mit den einzelnen Teilrepubliken der UdSSR geschah – dann wäre ein solcher Militäreinsatz nicht mehr zulässig. Würde es einem modernen Bismarck in der Folge gelingen, 15 der 16 Bundesländer wieder zu vereinigen, hätte er also trotzdem kein Recht mehr, das 16. Bundesland gewaltsam wieder in das neugeschaffene Deutschland zu integrieren. Derselbe Bundeswehr-Einsatz, der heute noch gegen ein separatistisches Bundesland vom Völkerrecht her erlaubt ist, wäre dann ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat. In den meisten Fällen versuchen Staaten daher, unter allen Umständen eine Loslösung von einzelnen Landesteilen zu verhindern, damit es nicht zu so einem unumkehrbaren Kontrollverlust kommt – China entlässt Taiwan nicht in die Unabhängigkeit, Spanien nicht Katalonien und Italien nicht Südtirol.
Insofern muss für Putin aber die damalige Aufspaltung der UdSSR wie eine vom Westen, genauer den USA, über die „Marionette Gorbatschow“ initiierte Selbstzerstörung der Sowjetunion wirken. Es dürfte auch einer der maßgeblichen Gründe sein, warum Putin den damaligen Zerfallsprozess der UdSSR als Katastrophe empfindet. „Sein“ russisches Volk, das in der Sowjetunion in einem einzigen gemeinsamen Völkerrechtssubjekt versammelt war, wurde durch fremde Mächte auf ein Dutzend souveräner Völkerrechtssubjekte zerstreut und damit erheblich geschwächt. Natürlich ist das eine extreme Verzerrung der Wahrheit, denn letztlich war alles Geschehen in der UdSSR der Kontrolle Moskaus unterworfen und insofern war der innerstaatliche Frieden bis 1991 kein freiwilliger, sondern ein von Moskau mit Gewalt erzwungener Frieden zwischen den einzelnen Landesteilen. Gleichwohl stimmt aber auch, dass der heutige völkerrechtswidrige Angriffskrieg von Putin gegen die souveräne Ukraine vor 31 Jahren noch ein völlig legaler militärischer Durchgriff der russischen Staatsmacht gegen ihre abtrünnige „Provinz“ Ukraine gewesen wäre.

Die Geopolitik

Nachdem die sowjetischen Teilrepubliken in die Unabhängigkeit entlassen wurden, sind die Beziehungen von Russland zu diesen Ländern heute nicht mehr Teil der Innenpolitik, sondern Teil der Geopolitik. Das ist ein fundamentales Problem für Putin, auch wenn sich in vielen Nachfolgestaaten der Sowjetunion autoritäre Regime entwickelt haben, deren innen- und außenpolitisches Überleben sowieso vom guten Willen Putins abhängen.
Dort wo es aber nicht ganz so läuft, wie Putin das möchte, und wo die UdSSR die Aufstände einst einfach hat niederschlagen können, berufen sich heutzutage nun „halbseidene Staatsführer“ auf die UN und das Völkerrecht und bandeln auch gerne mal mit anderen Weltmächten an, z.B. mit China oder den USA. Man stelle sich nur vor, das „16. Bundesland“ aus dem Beispiel oben wollte nicht nur nicht mehr zu den anderen 15 zurück, sondern würde seine neugewonnene völkerrechtliche Souveränität für ein Verteidigungsbündnis mit Nordkorea nutzen – natürlich wären wir schockiert! Insofern dürfte für Putin das Ziel sein, einige der ehemaligen Sowjetrepubliken wieder so weit unter seine (russische) Kontrolle zu bringen, dass sie nur noch auf dem Papier Völkerrechtssubjekte darstellen, de facto aber wieder zur innenpolitischen Angelegenheit Moskaus werden. Dies ist auch deshalb für Putin von Bedeutung, um sich im Konfliktfall zu 100% auf die Loyalität dieser Länder verlassen zu können und diese nicht plötzlich an der Seite einer fremden Macht agieren oder gar kämpfen zu sehen.

War die Rote Armee in der UdSSR einst die hochgerüstete Armee eines 300 Mio. Einwohner Staates mit vielen Verbündeten, waren die russischen Streitkräfte der 90er-Jahre nur noch die schwächelnde Armee eines 150 Mio. Einwohner Staates und im Konfliktfall war auch keine nennenswerte Unterstützung durch die GUS-Partner bzw. über den Vertrag über kollektive Sicherheit zu erwarten. Entsprechend wenig Hilfe konnte Putin anfänglich auch seinen weltweiten Partnern, oftmals korrupte Diktatoren, im Krisenfall bereitstellen und so schwand der russische Einfluss in der Welt massiv – eine Lücke, in die ab den 2000ern oftmals China stieß.
Bis dahin aber war es vor allem der Siegeszug der Demokratie, der z.B. alle ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten in EU und NATO brachte oder zu einem Zerfall Jugoslawiens in einzelne Republiken führte. Auch weltweit stürzten in den 90er-Jahren einige ehemalige sowjettreue Verbündete ab, z.B. Daniel Ortega, der seit einer linken Revolution Ende der 70er-Jahre (gegen einen US-treuen Diktator) in Nicaragua herrschte und 1990 in demokratischen Wahlen wieder von US-freundlicheren Kräften abgelöst wurde.
Als Putin im Jahr 2000 an die Macht kam, musste er dann zuerst erleben, wie in Folge des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der USA gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein die Ordnung im Nahen Osten militärisch verschoben wurde. Kurze Zeit später gab es die westlichen Demokratisierungsbestrebungen in Afghanistan und 2003 fand dann mit der Rosenrevolution ein Umsturz in Georgien statt, gegen den Putin nichts unternehmen konnte. Nach der Orangenen Revolution 2004 in der Ukraine konnte er 2005 ebenfalls nicht verhindern, dass dort ein dem Westen zugewandter Präsident Juschtschenko an die Macht kommt. 2008, Putin hatte Russland inzwischen stabilisiert, die Armee gestärkt und den Krieg in Tschetschenien zu seinen Gunsten entschieden, kam es dann zum Kaukasuskrieg gegen Georgien, den Putin mit deutlichem Einflussgewinn in der Region beendete. Und kurze Zeit später, im Jahr 2010, gelang mit russischer Hilfe außerdem, den Putin-freundlichen Janukowytsch ins ukrainische Präsidentenamt zu bringen. Allerdings konnte weder der Krieg gegen Georgien noch der neue Präsident in der Ukraine etwas daran ändern, dass sich die Menschen in diesen Ländern immer weiter Richtung Westen entwickelten.

Mit dem arabischen Frühling 2011 und der Demokratiebewegung in Nordafrika und dem Nahen Osten drohte kurze Zeit später dann außerdem an anderer Stelle Ungemach für Russlands Einfluss in der Welt. So stürzte im Frühjahr 2011 zunächst der ägyptische Diktator Hosni Mubarak, im Sommer verlor Putin – nach völkerrechtlich mindestens fragwürdigen Luftschlägen von NATO-Mitgliedern – mit dem libyschen Machthaber Muammar al-Gaddafi einen weiteren langjährigen Verbündeten Russlands. Und kurz darauf drohte dann auch noch dem syrischen Regime, das ebenfalls eng verbunden mit Russland ist, dasselbe Schicksal. Diesmal konnte Putin allerdings den „Regime-Change“ verhindern, indem er den dortigen Machthaber Baschar al-Assad militärisch massiv unterstützte und gleichzeitig im UN-Sicherheitsrat deckte, als dieser die Aufstände gewaltsam niederschlagen ließ. In einem bis heute andauernden Bürgerkrieg, in dessen Verlauf auch die Terrororganisation IS (Islamischer Staat) große Territorien im Nahen Osten einnehmen konnte, eroberte sich das Assad-Regime dann mit Hilfe Russlands weite Teile des Landes zurück und ist nun wieder weitestgehend stabil im Amt, wenn auch in einem heute deutlich geschwächten Syrien.
Und ein ähnliches Vorgehen, also das blutige Niederschlagen eines Volksaufstandes, hätte Putin dann wohl auch gerne 2013 in der Ukraine von Janukowytsch und seinem Apparat gesehen. Dort allerdings lief es anders.

Vom Maidan bis Minsk II

Als Ende 2013 die Menschen in der Ukraine auf die Straße gingen, weil Janukowytsch die Annäherung an die EU auf Druck des Kremls stoppte, reagierte der „gewählte“ ukrainische Präsident zunächst mit Repressionen. Diese konnten die Proteste jedoch nicht stoppen und Anfang 2014 hatten sie ein solches Level erreicht, dass nur noch ein brachiales Vorgehen das politische Überleben des Regimes hätte sichern können. Hierfür standen, außer ein paar Spezialkräften, allerdings weder Militär- noch Polizeiapparat zur Verfügung und auch die Oligarchen, die die ukrainische Wirtschaft kontrollierten und um gute Geschäfte im Westen fürchteten, gingen auf Abstand zum gewählten Präsidenten. Unter diesem Eindruck gelang es dann der Opposition, einen Teil der bisherigen Unterstützer Janukowytschs von der Ernennung eines Übergangspräsidenten zu überzeugen. Noch vor seiner offiziellen Absetzung floh Janukowytsch nach Russland, ein Übergangs-Nachfolger wurde vom Parlament gewählt und die Geschichte nahm ihren bekannten Lauf. Noch am selben Tag gingen nun dort, wo Janukowytsch viele Anhänger hatte, die Menschen gegen seine Absetzung auf die Straße und die lokalen und regionalen Machthaber verweigerten Kiew die Gefolgschaft. Kurz darauf folgten „grüne Männchen“, also irreguläre russische Truppen, die die örtlichen Separatisten (man könnte sie auch als „Konterrevolutionäre“ bezeichnen) unterstützten und keinen Monat später erfolgte auf der Krim ein Referendum, durch das die Halbinsel seither de facto Teil der Russischen Föderation und damit für die ukrainische Armee unangreifbar geworden ist. In der restlichen Ostukraine setzten sich die Kämpfe zwischen dem ukrainischen Militär und den Separatisten, die sich zum Teil ja auch aus ehemals ukrainischem Militär rekrutierten, jedoch unvermindert fort und insbesondere in den Gebieten um Donezk und Luhansk, die sich zu unabhängigen Volksrepubliken erklärten, hatte die Kiewer Zentralregierung nun keinen Durchgriff mehr. Erst mit zunehmender Stabilisierung der neuen Macht- und Verwaltungsstrukturen im Kiewer Staatsapparat, insbesondere nach der Wahl von Poroschenko im Sommer 2014 zum Ukrainischen Präsidenten, gelang es der Armee allmählich, die von Russland inoffiziell unterstützten Separatisten in die Enge zu treiben, bis sich beide Seiten 2015 auf einen Waffenstillstand und den Minsk-Prozess verständigten.

Hätte sich Poroschenko damals nicht darauf eingelassen und versucht, die Separatisten zu besiegen, wäre Russland vermutlich schon 2015 offiziell in die Ukraine einmarschiert, um einen solchen „Genozid“ (das wäre wohl auch damals schon der Vorwand gewesen) zu verhindern. Poroschenko hat deshalb die Bedingungen akzeptiert, wohlwissend, dass mit diesem schwelenden Konflikt für die Ukraine die Mitgliedschaften in der EU und der NATO verbaut sein würden.
Putin wiederum konnte damit vorerst seine größte Sorge beseitigen, dass mit der Ukraine die nächste und so bedeutende ehemalige Sowjetrepublik endgültig an die westlichen Systemrivalen verloren geht. Außerdem verschaffte er sich auf diese Weise Zeit, um zum einen die eigenen Streitkräfte zu stärken – kurz zuvor sprach Obama von der „Regionalmacht Russland“ – und um zum anderen sein Hauptproblem bei Kriegen zu lösen, nämlich die Proteste und Widerstände im eigenen Land. Heute nun sind ihm die Oligarchen und sein „Inner circle“ dank Zuckerbrot und Peitsche höriger denn je zuvor. Und durch Einschränkung der Pressefreiheit, Dezimierung der Opposition und mit einem brutalen Polizeiapparat ist für Putin auch die Gefahr eines Volksaufstandes wegen des Krieges heute deutlich geringer als 2015 – wenn auch immer noch nicht null, wir sehen ja die Proteste.

Die Entwicklung ab 2015

Es war sicher nicht Putins Wunschergebnis, welches er 2015 mit dem Waffenstillstand und dem Minsker-Prozess in der Ukraine erzielte. Aber in der damaligen Situation hatte er vermutlich geringe militärische Spielräume, war seine Armee zu diesem Zeitpunkt doch stark im Syrien-Krieg engagiert und mit der Bombardierung der dortigen Bevölkerung beschäftigt. Einen zweiten kriegerischen Großkonflikt wollte Putin daher zunächst vermeiden, zumal er sich damals auf dem Höhepunkt seines weltweiten Ansehens befand. Mit dem Platzen der Immobilienblase 2007, der anschließenden Subprime-Krise und dem Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008 schlitterten die USA in eine massive Wirtschaftskrise und im Anschluss seit 2010 viele EU-Länder in eine lang anhaltende Eurokrise. Zeitgleich wurden von Wikileaks immer mehr US-amerikanische Kriegsverbrechen aufgedeckt und spätestens seit dem NSA-Skandal und der spektakulären Flucht von Edward Snowden im Jahr 2013 nach Russland war das globale Sympathiekonto von Putin prall gefüllt, während die USA ökonomisch wie moralisch entblößt dastanden und der Westen in sich völlig zerrissen war.
Statt auf ein militärisches Vorgehen in der Ukraine, setzte Putin daher auf eine andere Karte, seine ebenfalls zunehmenden Erfolge auf der hybriden Ebene der Auseinandersetzung zwischen seiner Autokratie und dem freiheitlich-demokratischen, rechtstaatlichen Gesellschaftsmodell, sei es in anglo-amerikanischer, europäischer oder ostasiatischer Prägung. So beförderte Putin bereits seit Jahren die un- und antidemokratischen Kräfte in den verschiedenen Ländern dieser Bündnisse und mit Russia Today und anderen von Moskau abhängigen Medien nahm Putin Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung. Daneben wurden rechte und staatszersetzende Publikationen oder auch Kampagnen wie die „Leave Campaign“ der Brexiteers direkt oder indirekt aus Russland unterstützt – gut möglich, dass ohne diesen Support aus Moskau das Vereinigte Königreich heute noch Teil der EU wäre!
Dazu pflegten Putin, sein Umfeld und sein Apparat seit Jahren enge Beziehungen zu Parteien, wie der FPÖ oder der AfD, und zu Politikern und Politikerinnen, wie Marine Le Pen in Frankreich oder Viktor Orbán in Ungarn. Und auch wenn die Situation in der Ukraine für Putin nicht ideal war und es in Syrien nur schleppend vorranging, sah die Welt für ihn schon wieder deutlich besser aus, als die EU ab 2016 mit den Brexit-Folgen kämpfte und in den USA 2017 Donald Trump sein Amt als US-Präsident antrat.

Während Putin aber in den letzten vier, fünf Jahren die Situation in Syrien allmählich zu seinen Gunsten drehen konnte – Assad sitzt heute wieder fest im Sattel – hat sich die Situation in der Ukraine auch unter den geopolitisch günstigen Umständen mit einem selbstbeschäftigten Europa und nicht minder selbstbeschäftigten USA nicht im Sinne Putins entwickelt. 2018 trat die Ukraine aus der GUS aus und ist damit nach Estland, Lettland, Litauen und Georgien nun die 5. Ehemalige Teilrepublik der UdSSR, die nicht mehr Teil des sowjetischen Nachfolgebündnisses ist. Auch kulturell hat sich mit der Etablierung von Russland unabhängiger Medien in der Ukraine viel getan und überdies ist mit der Entstehung einer eigenständigen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche und damit der Abspaltung von der Russisch-Orthodoxen Kirche auch der religiöse Einfluss Moskaus in der Ukraine geschwunden.
Gleichwohl war Petro Poroschenko immer so schlau, die Volksrepubliken im Donbas weitestgehend in Ruhe zu lassen, obwohl es stets Provokationen und Zusammenstöße, auch Verletzte und Tote gab. Bei der Präsidentschaftswahl 2019 schaffte es Poroschenko mit dieser Politik dann aber auch nur haarscharf in die Stichwahl, bei der er letztlich dem Komiker und Schauspieler Wolodymyr Selenskyj, der im Wahlkampf mit vollmundigen Versprechen auftrumpfte, haushoch unterlag.

Im Amt angekommen bekräftigte Selenskyj dann zunächst sein zentrales Wahlversprechen, die Ukraine von den alten Eliten zu befreien und in die EU und die NATO zu führen. Aber auch er stand nun wieder vor dem (einst von Diplomaten bewusst geschaffenen) Hindernis, dass eine solche Mitgliedschaft ausgeschlossen ist, bis die Situation in der Ostukraine abschließend in einen stabilen und friedlichen Zustand überführt ist – so wie das früher mal bei BRD und DDR der Fall war oder wie man das heute für Zypern und Nordzypern sagen kann. Zwar hatte Selenskyj hierzu im Wahlkampf angekündigt, mit Putin zu sprechen und diese Probleme im Dialog mit Russland auszuräumen. Jedem halbwegs politischen Menschen war aber klar, dass das nicht gelingen kann. Da Putin unter allen Umständen eine Westbindung der Ukraine verhindern wollte und will, hatte und hat er seinerseits natürlich niemals ein Interesse an einer solchen Streitbeilegung – zumindest nicht zu realistischen Konditionen. Selbst wenn Selenskyj angeboten hätte, die Krim abzutreten und die Volksrepubliken in die Eigenständigkeit zu entlassen, wäre das für Putin ja nicht hinnehmbar gewesen, weil er damit den Weg für die restlichen 95% der Ukraine in EU und NATO freigemacht hätte und dadurch zementiert wäre, was er ja eigentlich zu revidieren versucht.

Doch anstatt in dieser Situation einzulenken und dem ukrainischen Volk endlich mal reinen Wein einzuschenken, dass eben auch der gewählte Präsident einer souveränen Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, sein Land nicht gegen den Willen eines Moskauer Despoten in EU und NATO führen können wird, versuchte er genau das: Die Armee wurde gestärkt, bekam Kampfdrohnen, und auch verbal bereitete Selenskyj sein Land darauf vor, über kurz oder lang die Kontrolle über die Separatistengebiete militärisch zurückzuerlangen. Allerdings blieb ihm auch kaum eine andere Chance, denn einem Verzicht auf sein zentrales Wahlkampfversprechen der Westbindung, für welches ihn viele Menschen in der Ukraine gewählt hatten, wäre wohl sein baldiges politisches Ende gefolgt. Letztlich – und das ist ja gerade der Unterschied zu Putins Autokratie – hängt die Politik in der demokratischen Ukraine eben nicht in erster Linie von den verqueren Wünschen eines durchgeknallten Präsidenten ab, sondern vor allem vom Willen des ukrainischen Volkes. Und spätestens bei der nächsten Präsidentschaftswahl hätte sich dieser Volkswille vermutlich wieder durchgesetzt und Selenskyj wäre es ähnlich ergangen wie zuvor Poroschenko.
Insofern stellte sich „dem geneigten Beobachter“ schon im Jahr 2020 die Frage, ob eine militärische Eskalation in diesem Territorialkonflikt überhaupt noch zu verhindern ist.

Der Territorialkonflikt

Viele Konflikte kann man dadurch lösen, dass man von außen für die Konfliktlösung bezahlt. Wenn sich zwei Länder über Schürf- oder Fischereirechte streiten, kann ein unbeteiligtes Land oder die Weltgemeinschaft den Streit lösen, indem man jene Streitpartei, die auf ihre Rechte verzichtet, kräftig entschädigt. Es reicht bei solchen Konflikten also schon aus, eine der beiden Seiten von einem anderen Weg und einem Nachgeben zu überzeugen.
Bei Territorialkonflikten, also der Frage, wem ein spezielles Stück Land gehört, wer dort die Kontrolle und die Gestaltungshoheit hat, ist das hingegen oft anders, weil es jeden Flecken der Erde halt nur einmal gibt und finanzielle Entschädigungen in diesen Fällen meist für keine der Streitparteien eine akzeptable Alternative sind. Insofern kann eine Lösung bei Territorialkonflikten aber nur von den Beteiligten selbst unter gegenseitigem Verzicht und nicht von außen herbeigeführt werden. Aus diesem Grund beschäftige ich mich auch selten mit dem Gaza-Konflikt. Nicht, weil mir das Leid der Israelis egal wäre, die von der Hamas mit Raketen beschossen werden. Nicht, weil mir das Leid der Palästinenser egal wäre, wenn die israelische Armee Gaza-Stadt bombardiert. Sondern weil ich weiß, dass Außenstehende zwar Hilfe anbieten können, eine (dauerhafte) Befriedung aber alleine vom Einigungswillen der Akteure vor Ort und auf beiden Seiten gleichermaßen abhängig ist.

Und das gilt ähnlich in der Ukraine. Auf der einen Seite steht das ukrainische Volk, das eine starke, eigenständige, faktisch und völkerrechtlich souveräne Nation ist (mit allen Rechten und Pflichten) und als Staat eine Westbindung anstrebt und Teil der EU sein möchte. Und auf der anderen Seite steht Putin – freilich nicht mit dem Recht im Rücken, dafür aber mit einer umso stärkeren russischen Armee – der all das verhindern will und am liebsten mindestens zurück in den Zustand vor 2014 möchte mit einem Moskau-treuen Präsidenten in Kiew.
Um einen friedlichen Weg einzuschlagen, hätte man also spätestens 2020 handeln müssen und versuchen, zwischen dem ukrainischen Volk und Putin zu vermitteln – genau das wäre der Job von Selenskyj gewesen, aber auch allen Verantwortlichen in EU und NATO. Stattdessen hat westliche Politik aber lieber damit kokettiert, wie interessant man doch für die Ukraine sei und hat Selenskyj auf seinem Weg zur Westbindung eher bestärkt als gebremst. Und nun weiß man zwar nicht, wie weit die Forderungen von Putin letztlich reichen. Wenn er mehr will als den Verzicht auf die NATO-Mitgliedschaft, z.B. eine völlige Demilitarisierung, oder bei den Gebietsforderungen über Krim und die von den Separatisten bislang kontrollierten Gebiete hinausgeht, dann ist das einfach für die Ukraine nicht erfüllbar. Gleichwohl wäre es dennoch sinnvoll gewesen, zumindest zu versuchen, der Entwicklung der Ukraine im Dialog mit Putin einen Rahmen zu geben, z.B. mit einem vertraglich zugesicherten Verzicht auf eine offizielle NATO-Mitgliedschaft oder auch durch Rüstungsbeschränkungen für die ukrainische Armee.
Anstatt Selenskyj zu vermitteln, man begrüße seine Schritte zur Westbindung, hätte man für Zurückhaltung werben und Selenskyj helfen müssen, von seinem hohen Wahlversprechens-Ross herabzusteigen und beim ukrainischen Volk Verständnis für die komplizierte außenpolitische Lage zu schaffen. Mit Blick auf die weitreichenden geostrategischen Forderungen von Putin – man lese, was er zu Georgien denkt, man schaue, was er in Transnistrien macht, und man höre, wie er über das Baltikum spricht – ist allerdings fraglich, ob eine solche „Appeasement-Politik“ wirklich eine dauerhafte Stabilität zur Folge gehabt hätte. Gut möglich, dass eine für Putin zufriedenstellende Lösung in dem einen territorialen Konflikt, nur zur Verschärfung anderer territorialer Konflikte geführt hätte – etwas, was uns jedoch nach einem für Putin zufriedenstellenden militärischen Ergebnis in der Ukraine genauso passieren kann.

Die Entwicklung seit 2020

Die regelmäßigen Menschenrechtsverstöße, das Bomben in Syrien, der Tiergartenmord 2019, der Umgang mit Journalisten – die Sympathien, die Putin während und nach dem NSA-Skandal und Snowdens Flucht aus den USA einige Jahre lang genoss, hatte er bis 2020 wieder vollständig verspielt. Und seitdem hat sich das Blatt für Putin auch in anderer Hinsicht weiter verschlechtert. So drohte ab Sommer 2020, dass sich in Minsk das 2014er Schauspiel von Kiew wiederholt. Nach einer unfairen und gefälschten Wahl waren es diesmal die Belarussen, die gegen ihren „demokratisch gewählten“ Präsidenten Lukaschenko auf die Straße gingen, um nach ukrainischem Vorbild einen Umsturz und einen demokratischen Neuanfang im Land herbeizuführen. Anders aber als in der Ukraine, war der Staatsapparat in Weißrussland jedoch bereit, den Befehlen der Führung zu folgen und auf die eigene Bevölkerung zu schießen.
Im Ergebnis dürfte sich Putin zwar gefreut haben, konnte er doch in dieser Zeit Lukaschenko mit Rat und Tat zur Seite stehen, z.B. wenn es um das Abfedern von Sanktionen ging, und damit die Zügel bei seinem belarussischen Vasallen wieder so richtig fest anziehen – Minsk ist nun abhängiger von Moskau denn jemals zuvor seit der Eigenständigkeit im Jahr 1991. Gleichwohl wurde Putin damit aber ein weiteres Mal vor Augen geführt, wie fragil seine eigene Autokratie und sein eurasischer Autokraten-Verbund in Wahrheit sind. Denn nicht nur in Belarus, sondern auch dem fast zeitgleich stattfindenden Konflikt um Bergkarabach zeigte sich diese Brüchigkeit. Dort kämpften mit Armenien und Aserbaidschan sogar zwei Nachfolgestaaten der UdSSR bzw. zwei GUS-Mitglieder gegeneinander. Daran sieht man auch, wie wertlos dieser Zusammenschluss inzwischen ist. Und im wichtigeren, engeren Verteidigungsbündnis mit Russland, also dem Vertrag über kollektive Sicherheit, stehen von den ehemaligen Sowjetrepubliken heute sowieso nur noch Belarus, Kasachstan, Armenien, Kirgisistan und Tadschikistan an der Seite von Putin.

Hinzu kam dann der neue Präsident in Kiew, der sich ob der ukrainischen Anliegen und Forderungen wenig verhandlungsbereit zeigte. Und während überdies durch Europa und Russland die große Corona-Winterwelle zog, zog mit Joe Biden im Januar 2021 dann auch noch im Weißen Haus ein anderer Schlag von Präsident und US-amerikanischer Außenpolitik ein. Und auch wenn wir in Deutschland in dieser Zeit dem wachsenden Druck nach Waffenlieferungen in die Ukraine stets standgehalten haben, waren natürlich die USA und andere NATO-Mitglieder schon längst dabei, die ukrainische Wehrfähigkeit zu erhöhen – die Türkei lieferte Drohnen, aus den USA kamen Panzerabwehrraketen und bei der Aus- und Fortbildung der Streitkräfte war „der Westen“ der Ukraine auch gerne behilflich. Für Putin lief die Zeit für eine militärische Lösung in diesem Konflikt damit eindeutig gegen ihn, denn mit jedem Monat wurde die Ukraine nun stärker.
Von seinem persönlichen Alter mal ganz zu schweigen, läuft die Zeit aber auch auf wirtschaftlicher Ebene rasend schnell gegen Putin und Russland, denn mit der Reduktion der CO2-Emissionen wird auch die Nachfrage nach den russischen Hauptexportgütern Öl und Gas in den nächsten 20 Jahren nicht mehr groß steigen, also kein reales Wachstum mehr erzeugen, und irgendwann dann sinken, also Einnahmeausfälle und wachsende Arbeitslosigkeit hervorrufen. Und als wäre das nicht genug, haben über die letzten Jahre niedrige Rohstoffpreise sowie Sanktionen wegen diverser russischer Vergehen sowie russische Gegensanktionen die dortige Volkswirtschaft gebremst. Gleichzeitig – das muss man sehen – hat der erschwerte Handel mit Europa und den USA die russische Wirtschaft aber auch ein Stück weit autarker gemacht bzw. zu einer Verlagerung des Außenhandels hin zu strategischen Partnern geführt. Gingen 2013 noch 25% der russischen Exporte nach Deutschland, Italien und in die Niederlande, sank dieser Anteil bis 2019 auf 19%. Und umgekehrt stieg der Anteil der Exporte nach China, Indien, Belarus und in die Türkei im selben Zeitraum von 15,5% auf 25% an. Auch Brasilien und Ägypten waren mit einem Anteil von 2% im Jahr 2019 doppelt so wichtige Abnehmer wie noch 2013. Und beim Import gibt es ähnliche Verschiebung. Hier nahm der Anteil der Importe aus China, Indien, Belarus und der Türkei von 22,7% im Jahr 2013 auf 28,5% im Jahr 2019 zu [2]. Es ist anzunehmen, dass sich diese Entwicklung in den letzten Jahren fortgesetzt hat, auch wenn Europa weiterhin der zentrale Markt sowohl für den Absatz von Rohstoffen als auch den Einkauf z.B. von Maschinen und Spezialgeräten geblieben sein dürfte. Dass die Öl- und Gaspreise 2021 wieder deutlich gestiegen sind, hat die wirtschaftliche Lage für Putin nun zwar kurzfristig wieder deutlich verbessert, langfristig bleibt für Russland die Problematik der grünen Energiewende aber bestehen und setzt Putin damit auch ökonomisch unter Handlungsdruck.

Die Monate vor dem Krieg

Auch wenn es für die russische Volkswirtschaft in den letzten Jahren weniger vorwärts, sondern eher in eine zunehmende Abhängigkeit von China ging, konnte Russland mit der Zeit große Geldreserven aufbauen und die steigenden Rohstoffpreise der letzten Monate haben Putins ökonomischen Handlungsspielraum noch einmal zusätzlich erweitert. Umgekehrt hat Putin (mit kräftiger Hilfe europäischer und vorneweg deutscher Politikerinnen und Politiker) in der Vergangenheit vieles dafür getan, um insbesondere bei der Gasversorgung den Handlungsspielraum Europas zu verringern, z.B. durch die Entwicklung neuer Pipeline-Routen (beileibe nicht nur Nordstream I und II), durch den Erwerb strategischer Infrastruktur (z.B. Gasspeicher) oder durch die Verhinderung einer europäischen Diversifizierung im Energiebereich mittels politische Einflussnahme (prominentester Fall, aber nicht der einzige: Gerdgas-Schröder). Ökonomisch war Russland damit schon 2021 für einen Feldzug gut gewappnet und das Anziehen der globalen Wirtschaft nach den tiefen Dellen der Corona-Pandemie würde unter normalen Umständen auch für die nächsten Jahre eine deutlich positive Entwicklung für Russland erwarten lassen.

Politisch brodelt es da hingegen schon mehr in Putins Welt. Nawalny sitzt zwar seit seiner Rückkehr nach Russland Anfang 2021 im Gefängnis, innenpolitisch allerdings Putin dennoch weiterhin im Nacken – vielleicht auch symbolisch, weil Putin zunehmend Angst haben muss, mal selbst dort zu landen, wo sich Nawalny gerade befindet. Daneben bekommt Putin das Nachbarland Belarus nur über die massive Gewalt von Lukaschenkos Staatsapparat kontrolliert und im Kaukasus hält er auch nur mit Müh und Not den Deckel auf den Konflikten. Gleichwohl hat er in all diesen Fällen noch die Kontrolle und droht diese bislang auch noch nicht zu verlieren.
Was die Ukraine anbelangt, sah das jedoch anders aus. Auf dem Verhandlungswege war für Putin gegen Selenskyj kein Blumentopf zu gewinnen und mit jeder westlichen Rüstungshilfe verschlechterte sich die militärische Position Putins. Er hat zwar noch bei weitem die absolute Oberhand, kann die Ukraine also problemlos in Schutt und Asche legen (ob er damit seine politischen Ziele erreicht, steht auf einem anderen Blatt), aber auf Dauer wäre diese militärische Drohung gegenüber der Ukraine immer schwächer geworden.
Das Afghanistan-Debakel der NATO hat dann womöglich Putins Hoffnung zusätzlich genährt, dass eine militärische Lösung in der Ukraine zurzeit noch mit recht geringem Aufwand möglich sei – wenn schon die Taliban „Sleepy Joe“ mit drei Raketenwerfen und ein paar Maschinengewehren vertreiben können und so in Kabul die Macht übernehmen, dann sollten die russischen Streitkräfte das doch allemal schaffen, wenigstens in der Ostukraine, vielleicht auch in Kiew. Und was die NATO anbelangt, hat Putin ja letztlich auch Recht behalten: Die NATO-Länder kämpfen ja gerade nicht in der Ukraine, sondern haben ihr Personal schleunigst abgezogen – mit der Erfahrung aus Afghanistan hat es diesmal bei der Evakuierung dann ja auch ganz gut geklappt. Womit Putin, ich und so ziemlich alle anderen Beobachter aber nicht gerechnet haben, waren der riesige Widerstandswille und die unglaubliche Kampfleistung der Ukrainerinnen und Ukrainer. Vielleicht hat Putin in dem Punkt auch mehr Recht, als ihm lieb sein kann, dass nämlich die Ukrainer sehr viel Ähnlichkeit mit den Russen haben – ein gutes Stück irre und mit Todesmut und Kampfgeist, wenn es um die Verteidigung ihre Heimat geht. Nur mal zum Vergleich: In Afghanistan sind bewaffnete „Berufssoldaten“ vor den Taliban weggerannt, in der Ukraine haben sich unbewaffnete Zivilisten vor russische Panzer gestellt.

Insofern könnte es im Herbst 2021 für Putin aber tatsächlich noch so ausgesehen haben, als wäre es für ihn möglich, mit einer kurzen und begrenzten „Militäroperation“ in der Ukraine all jene Ziele zu erreichen, die er auf diplomatischem Wege sonst niemals gegen Selenskyj durchbekommen würde. Wenn die NATO kuscht wie in Afghanistan, werden die „vaterlandslosen Marionetten“ der Kiewer Regierung möglichst schnell das Weite suchen und dann wird die breite Masse der Bevölkerung den Machtwechsel eingeschüchtert von russischen Panzern und beschwichtigt von russischer Propaganda schon über sich ergehen lassen – so oder so ähnlich könnte Putins Plan ausgesehen haben.
Und als hätte es noch eines finalen Beleges bedurft, dass schon ein paar Spezialkräften ausreichen können, um ein ganzes Volk zum Stillhalten zu bringen, gelang es Putin im Januar 2022 binnen weniger Tage die aufflammenden Proteste gegen die Regierung im verbündeten Kasachstan, ein Land mit immerhin knapp 20 Mio. Einwohnern, bereits im Keim zu ersticken. Der Preis für die dortige Bevölkerung waren nach offiziellen Angaben über 200 tote, über 4.000 verletzte und über 7.000 verhaftete Protestierende [3].
Möglicherweise hat dieser Einsatz in Kasachstan aber auch Putins Zeitplan nochmal durcheinandergeworfen. Zumindest hinsichtlich der Gasversorgung Europas wäre Putins Erpressungspotential bei einem Einmarsch zum Jahresbeginn nochmal deutlich größer gewesen und der Ukraine hätten – möglicherweise entscheidende – Wochen und vielleicht auch manch eine Waffenlieferung für die Vorbereitungen zur Verteidigung gefehlt.

Meine Fehleinschätzung

Nachdem an den Händen von Putin bereits das Blut von Tschetschenen und Georgiern, von zehntausenden Syrerinnen und Syrern, zuletzt hunderten Kasachen und über Jahre hinweg von unzähliger Journalisten und Oppositionellen hängt, habe ich mir spätestens seit den Fassbomben auf Aleppo keinerlei Illusionen mehr gemacht: Für Putin ist das Töten von Zivilisten offenkundig ein Mittel zur Zielerreichung und zwar noch nicht mal das letzte Mittel, sondern einfach nur eines von vielen. Insofern habe ich die Drohung eines Einmarsches von Anfang an ernst genommen und war überzeugt, dass er zu einem Krieg gegen die Ukraine grundsätzlich bereit ist.
Genauso wenig mache ich mir Illusionen, dass es Putin auf Dauer nur um die Ukraine oder die NATO-Mitgliedschaft einzelner Länder geht. Sein strategisches Fernziel ist mindestens die Sicherung des Moskauer Einflusses in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, z.B. im Kaukasus oder in Moldawien, das sich seit 2010 kontinuierlich und zuletzt in immer größeren Schritten von Moskau entfernte. Mit seiner Unterstützung unter anderem von Transnistrien, Südossetien, Abchasien oder Arzach macht Putin ja bereits seit langem unmissverständlich klar, dass er auch dort die völkerrechtliche Situation nicht anerkennt und jene Länder, zu denen diese Gebiete offiziell gehören, als dauerhaftes russisches Einflussgebiet ansieht. Das heißt zwar nicht, dass er demnächst auch in Georgien, Moldawien oder gar dem Baltikum einmarschieren wird. Aber er wird militärisch auf jeden Fall alle (konventionellen) Mittel einsetzen, um einen weiteren Einflussverlust in diesen Ländern zu verhindern – und anders als 2000 oder 2010 sind die russischen Streitkräfte heute dazu auch in der Lage, vielleicht abgesehen vom NATO-geschützten Baltikum.
Allerdings halte ich Putin auch für äußerst rational, extrem auf die Sicherung seiner eigenen Position in Russland bedacht und auch sehr eitel und damit – anders als beispielsweise Xi Jinping – auch an einem hohen persönlichen Ansehen außerhalb Russlands interessiert. Insofern gehe ich bis heute davon aus, dass Putin bei seinen politischen Entscheidungen stets abwägt zwischen den strategischen Zielen und den Vor- und Nachteilen für seine innen- sowie außenpolitischen Positionen (Letzteres ist in vielen Fällen gleichzusetzen mit dem außenpolitischen Gewicht Russlands). Rückschläge bei seinen strategischen Zielen sind für ihn inakzeptabel, aber vom Status quo ausgehend überlegt er, wie er innen, außen und strategisch die größtmöglichen Gesamtfortschritte erzielt.

Was sein großes Fernziel anbelangt, musste Putin sich tatsächlich in der Ukraine sorgen machen. Die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk haben im aktuellen, irregulären Zustand wenig Chancen auf wirtschaftliche Prosperität und eine solide Zukunft. Und mit dem neue Präsident Selenskyj und der Militärhilfe der NATO war im „Gesamtkomplex Ukraine“ für Putin ohne Intervention auch keine positive Entwicklung zu erwarten. Zudem musste der Alleinherrscher Putin befürchten, dass ein Verzicht auf Gegenmaßnahmen, innenpolitisch sowie von all den Moskau-treuen Vasallen in fremden Hauptstädten als Schwäche interpretiert werden könnte. Es war daher anzunehmen, dass Putin nicht einfach zusehen und abwarten würde.
Gleichzeitig konnte und kann ich mir bis heute nicht vorstellen, dass man mit 200.000 Mann die Ukraine einnehmen und stabil kontrollieren kann – wäre im Vorfeld von 600.000 Soldaten die Sprache gewesen, wäre ich vielleicht zu einer anderen Einschätzung gekommen. So aber kommt gerademal ein Soldat auf drei Quadratkilometer Fläche bzw. auf 200 Ukrainerinnen und Ukrainer und das auch nur dann, wenn kein einziger Soldat im Kampf fällt und niemand mit Organisation, Transport oder Versorgung betraut ist – und Essen und Schlafen müssen die russischen Soldaten zwischendurch ja auch mal.
Hochgerechnet entspricht diese Personalstärke gerademal der Polizeidichte in Deutschland – und da wird mir jeder zustimmen, dass das einfach zu wenig Personal ist, um damit einen ordentlichen Polizeistaat aufzuziehen. Und das dürfte umso mehr bei einem ukrainischen Volk gelten, das in den letzten 20 Jahren zweimal den Russland-treuen Janukowytsch verhindert bzw. vertrieben hat, und einen ukrainischen Staatsapparat, der mit Rückgrat an der Seite dieses Volkes steht. Selbst wenn Selenskyj eine bedingungslose Kapitulation unterschreiben würde, fällt die Ukraine nicht einfach an Putin, weil die Menschen das dort einfach so nicht mitmachen würden. Das Land käme wohl von einem Generalstreik in den nächsten Generalstreik und vermutlich gäbe es auch eine Untergrundbewegung und immer wieder Anschläge auf die russischen Besatzer – ein Tschetschenien (1,2 Mio. Einwohner) in riesig.

Insofern erschien mir der Gedanke, dass Putin auch nur im Entferntesten einen Angriff auf die Gesamtukraine und eine anschließende Übernahme plant, als völlig absurd. Gut vorstellen konnte ich mir hingegen, dass Putin nach der „militärischen Unterstützung der Volksrepubliken“ einen Krieg in der Ostukraine provoziert, um dann mit zehntausenden Soldaten in einer gezielten Aktion zunächst Geländegewinne zu erreichen, z.B. den Landzugang zur Krim oder in den ländlichen Regionen der Nordostukraine, und diese dann in einem aufgezwungenen Friedensvertrag gegenüber einer neutralen, NATO-freien Restukraine abzusichern. Das hätte nach meiner Analyse die aus Sicht Putins rationale Entscheidung sein müssen. Er konnte seine (faktisch und völkerrechtlich unberechtigten) Forderungen gegenüber der Ukraine nur militärisch durchsetzen und mit einem solchen Angriff hätte er auch aller Welt (und seinen eigenen Leuten) zeigen können, dass er in der Lage ist, selbst ein 40 Mio. Einwohner Land problemlos militärisch in die Knie zu zwingen und seine Interessen brachial durchzusetzen.
Die Restukraine, aber auch NATO und EU hätten erst einmal einen schweren Schlag zu verdauen gehabt – das Leid, die Vertreibung und Migrationsbewegung aus der Ostukraine, die ökonomischen Folgen, die Niederlage. Gleichzeitig hätte Putin nach einem „begrenzten Militäreinsatz“ noch einigermaßen leicht behaupten können, es sei nur um die Verhinderung von Russophobie, den Schutz russischsprachiger Minderheiten und zentrale Sicherheitsinteressen gegangen – (Schein)Argumente, die nach dem jetzigen „full scale“ Angriff auf die Gesamtukraine, im Norden auf Kiew oder im Südwesten auf Odessa, den letzten Rest an Substanz verloren haben. Und nun mag man in Europa fragen, ob das überhaupt eine Rolle spielt, aber in einer Welt, in der Putin nicht nur von China und glasklaren Autokraten unterstützt wird, sondern eben auch gute Beziehungen zu Indien, in den Nahen Osten, zu jemandem wie Erdogan (da ist die NATO-Mitgliedschaft interessanterweise nachrangig) oder zu semi-demokratischen Ländern in Afrika, Süd- oder Mittelamerika hat, macht das schon einen Unterschied, ob Russland unter Vorwänden eine 2-wöchige „militärische Intervention“ durchführt oder einen offenkundigen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land startet, dessen Bevölkerung sich im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen und Füßen gegen diese Invasion stemmt.

Am Abend des 23. Februar 2022 hatte Putin daher noch eine bombastische Verhandlungssituation („wenn Waffenlieferungen nicht gestoppt werden, greife ich an“; „wenn NATO-Mitgliedschaft nicht ausgeschlossen wird, greife ich an“) und in den nächsten Wochen hätte er den Konflikt mit vielen Nadelstichen weiter eskalieren können und mit seinen Spielchen am Rande des Erlaubten und über diesen Rand hinaus in der EU und in der NATO sowohl Diskussionen als auch Risse heraufbeschwören.
Die Option zur militärischen Durchsetzung der Territorialforderungen hätte er zwar trotzdem noch ziehen müssen, weil die ukrainische Seite ja niemals im vorauseilenden Gehorsam Gebiete an Russland abgetreten hätte. Aber eingepackt in eine kurze Militäraktion innerhalb eines längeren Konfliktes, hätte er sich vermutlich einiges an außenpolitischem (und ökonomischem) Ärger erspart – nicht bei der EU oder der NATO, aber vielleicht bei der Schweiz oder auch der Türkei.
Der breitflächige Angriff auf die Ukraine, insbesondere von Belarus aus Richtung Kiew, hätte nach meiner Einschätzung also nie stattfinden dürfen, weil es eine irrationale Entscheidung war – der Angriff hat jedoch stattgefunden! Entweder habe ich mich in Putin getäuscht und er ist gar nicht rational, wogegen zwar Vieles aus der Vergangenheit spricht, was ja aber nicht zwangsläufig auch in der Gegenwart noch gelten muss – Nero soll am Ende Rom angezündet und anschließend Harfe gespielt haben, vielleicht tanzt bald auch Putin mit der Balalaika durch den Kreml. Oder Putin ist schlicht und ergreifend von falschen Tatsachen ausgegangen, beispielsweise, weil ihm geschönte Berichte über die Stimmung in der Ukraine vorgelegt wurden oder man im Kreml die nicht sonderlich hohen Zustimmungswerte für Selenskyj als schwelenden Wunsch der ukrainischen Bevölkerung nach einer Rückkehr in die Zeit vor 2014 fehlinterpretiert hat. Meiner Fehleinschätzung bezüglich des breitflächigen Angriffs auf die Ukraine könnten daher auch einfach falsche Annahmen auf Seiten der russischen Geheimdienste zugrunde liegen.

Meine viel größere Fehleinschätzung war deshalb, dass ich nach dem Komplettangriff auf die Ukraine keinen Pfifferling darauf gewettet hätte, dass die Ukraine nach einem Monat noch als eigenständiges Land existiert. Vielleicht hätte es noch in Kiew und in ein paar Städten im Westen militärischen Widerstand gegeben, aber von den meisten Rathäusern hatte ich schon russische Flaggen wehen sehen. Und das tut mir unendlich leid, weil ich dem ukrainischen Volk meine eigene Verweichlichung unterstellt und damit viel Unrecht getan habe. Ich kann hier nur um Verzeihung bitten!

Putins Fehleinschätzung

Eine ähnliche Fehleinschätzung bezüglich der militärischen Stärke könnte aber auch im Kreml vorgelegen haben, sodass sich Putin durchaus erhofft haben könnte, mit Hilfe seiner Streitkräfte zwar nicht die gesamte Ukraine, aber doch wenigstens weite Gebiete rechts des Dnepr, vielleicht die Hauptstadt Kiew und dazu noch einen Korridor nach Moldawien bzw. Transnistrien relativ zügig erobern zu können. Zusammen mit der Fehlannahme, dass er in manchen Landesteilen noch einige Anhänger habe und vielen Menschen auch gleichgültig sei, ob nun ein Putin im fernen Moskau oder ein Selenskyj im fernen Kiew regiert, könnte es auf Putin in diesem Moment tatsächlich rational gewirkt haben, einen Feldzug in dieser Form zu starten, um damit seine territorialen Forderungen durchzusetzen. Und vielleicht wäre sein Plan dann auch aufgegangen, denn die ersten fünf Kriegswochen hat er innenpolitisch ja nun tatsächlich gut überstanden und außenpolitisch hat sich trotz des breitflächigen Angriffs leider gezeigt, dass Israel noch immer keine Waffen an die Ukraine liefert, Indien sich über Discount-Öl aus Moskau freut – das Öl ist sozusagen subventioniert, zum Teil bezahlt mit dem Blut der Ukrainerinnen und Ukrainer – und China sowieso weiterhin fest zu Putin steht. Eine solche „kurze Militäroperation“, wie es die russische Propaganda der Welt anfangs verkaufen wollte, hätte zwar NATO und EU erzürnt, Putin de facto aber wohl wenig auf dem internationalen Parkett geschadet und ihn bei seinen strategischen Zielen dafür sehr weit vorangebracht.

Doch es kam, wie es kommen musste, nämlich ganz anders. Seit Kriegsbeginn vor fünf Wochen haben die russischen Streitkräfte nicht annährend die territorialen Gewinne erzielen können, die Militärexperten im Vorfeld des Krieges erwartet hatten, und vermutlich schon gar nicht das, was russische Geheimdienste und Armeeführung ihrem Chef in Moskau versprochen haben.
Offenkundig wurde die Ukraine sowohl im militärischen Bereich als auch hinsichtlich der Zivilbevölkerung maßlos unterschätzt und die russischen Fähigkeiten gründlich überschätzt. Putin kann zwar die Städte einnehmen, aber nur nach schweren Bombardements und unter heftigen Verlusten im Häuserkampf – ein absolutes Fiasko, angesichts der Tatsache, dass er diese Landesteile ja eigentlich samt Bevölkerung in sein Reich eingliedern wollte. Stattdessen schließen sich die Menschen dort nun der ukrainischen Armee an, werden im Kampf oder durch Putins Bomben verletzt oder getötet oder packen das Nötigste und verlassen die Region, zumindest die, die noch können. Zurück bleiben komplett zerstörte Städte und eine gnadenlos ausgedünnte Bevölkerung.
Und dadurch, dass Russland an vielen Fronten gleichzeitig auf solchen erbitterten Widerstand stößt, sowohl in den Städten, in Mykolajiw im Süden, in Mariupol im Südosten, im Nordosten bei Charkiw (englisch Kharkiv) und Sumy, als auch im ländlichen Raum, z.B. auf dem Weg nach Kiew, droht inzwischen sogar ein völliges Scheitern des russischen Feldzugs in der Ukraine. Um seine Ziele militärisch noch halbwegs durchzusetzen, müsste Putin entweder noch gewaltsamer vorgehen oder noch höhere Verluste in den eigenen Reihen in Kauf nehmen. Letzteres könnte aber innenpolitisch schwierig werden, zumal auch russische Offiziere und Generäle Kinder und Enkel haben, die dann in diesem (idiotischen) Krieg verheizt werden. Und Ersteres, also ein noch gewaltsameres Vorgehen, würde die internationalen Partner der Ukraine noch einmal stärker zusammenrücken lassen und könnte überdies dann tatsächlich dazu führen, dass auch in Indien, Israel und vielleicht noch manch einem weiteren Land umgedacht wird. Natürlich würde das Putin auch nicht direkt stoppen, aber es wäre schon eine Demütigung für ihn, wenn der im Jahr 2000 einst demokratisch frei gewählte Präsident eines unabhängigen Russlands, Vladimir Putin, als brüllender sibirischer Tiger gestartet, nun im Jahr 2022 nichts mehr weiter darstellen würde als Chinas Schoßhündchen – ein kleiner kläffender Köter, an der kurzen Leine von Xi Jinping. Und abgesehen davon, wäre eine so weitgehende Isolation für die russische Volkswirtschaft mittel- und langfristig natürlich schon ein ernsthaftes Problem.

Mit dem breitflächigen Angriff auf die Ukraine am Morgen des 24. Februars hat Putin somit seine bombastische Verhandlungsposition vom Abend des 23. Februars auf einen Schlag zerstört und gegen Proteste im Inland, Belastungen der internationalen Beziehungen und möglicherweise ein militärisches Debakel in der Ukraine eingetauscht. Welche Risiken er dabei bewusst in Kauf genommen hat und auf welche er sich möglicherweise wegen Fehlannahmen eingelassen hat, lässt sich derzeit nicht klären. Weiterhin gehe ich allerdings davon aus, dass Putin auch bei Kenntnis des Kriegsverlaufs der letzten Wochen nicht auf einen Angriff auf die Ukraine verzichtet hätte – er wäre vermutlich nur anders vorgegangen.

Die Reaktionen auf Putins Angriff

Die wichtigste Reaktion auf die russische Aggression ist mit Abstand das grandiose Aufbäumen der Ukrainerinnen und Ukrainer, mit dem vielleicht nicht mal Selenskyj oder das ukrainische Volk selbst in diesem Maße gerechnet haben. Falls Putins Erzählung doch stimmen sollte, dass die Ukraine nur eine Erfindung von Lenin war, dann ist Putin mit seinem Angriff nun auf jeden Fall zum Vollender dieser Nation geworden. Und dank der Aufopferungsbereitschaft der Bevölkerung und dem Kampfeswillen der Soldatinnen und Soldaten hat die Ukraine auch nach fünf Wochen verheerender Luftschläge und blutiger Kämpfe noch immer kaum Boden verloren.

Im Vergleich zu dieser Antwort des ukrainischen Volkes sind alle anderen Reaktionen auf den russischen Überfall nahezu bedeutungslos. Und dennoch waren auch die übrigen getroffenen Maßnahmen gegen Putins Krieg in ihrer Originalität, Intensität, und Massivität für Beobachter überraschend, vielleicht auch für den ein oder anderen Beteiligten und vor allem wohl auch für den Kreml und Putin.
So gelang es Europa und Amerika, in nur wenigen Stunden die informationellen Massenvernichtungswaffen des Kremls, „Sputnik News“ und „Russia Today“, auszuschalten sowie einen erheblichen Teil der professionellen Desinformationsnetzwerke, z.B. auf Social-Media-Plattformen oder bei YouTube, lahmzulegen. Zwar ist zu erwarten, dass sich Putins Propagandisten zügig reorganisieren werden, zunächst wurde ihre Schlagkraft damit aber deutlich eingedämmt.
In umgekehrter Richtung wurden dafür alle erdenklichen Kanäle genutzt, um die russische Bevölkerung wachzurütteln, denn klar ist, wenn morgen alle 140 Mio. Russen auf die Straße gehen, wird es in russischen Gefängniszellen zwar recht eng, aber um Putin auch ziemlich leer. Anders als 2014/2015, sind meine Hoffnungen heute jedoch gering, dass aus Russland selbst ausreichend politischer Druck auf Putin erzeugt wird, um die Kämpfe in der Ukraine zu beenden. Zwar bleibt die russische Öffentlichkeit das größte Risiko für Putin und der Widerstand dürfte mit zunehmender Kriegsdauer auch wachsen, allerding eine echte Gegenöffentlichkeit zu den russischen Staatsmedien gibt es heute so nicht mehr und auch die früher wenigstens noch leise wahrnehmbare russische Opposition dringt mittlerweile nur noch selten zu den Menschen durch.
Umso wichtiger ist daher vielleicht, dass mit der globalen Hackergruppe „Anonymous“ eine weitere Kraft das Regime in Moskau ins Visier genommen hat. Sollte es dem weltweiten Hackerkollektiv beispielsweise gelingen, auf russischen Regierungswebseiten Informationen über Putins Krieg in der Ukraine und zu den willkürlichen Verhaftungen in Moskau zu verbreiten oder gar russische Staatsmedien zu kapern und dort z.B. die Selenskyj-Ansprachen zu übertragen, könnte das durchaus Teile der russischen Bevölkerung zum Umdenken bringen. Schon jetzt ist ein gewisser Exodus an hochqualifizierten Personen zu beobachten und gerade jene, die im Ausland ein schönes Leben führen könnten, werden sich zunehmend Gedanken machen, ob sie wirklich mit ihren Familien in einem isolierten Überwachungs-Russland versauern wollen.

Neben den Reaktionen seitens der EU, den USA und anderer Staaten auf der Informations-Ebene und im Cyberspace sind aber auch die wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen und Sanktionen erstaunlich zielsicher und beeinträchtigen die russische Volkswirtschaft und das Leben in Russland durchaus erheblich. So wurden beispielsweise nicht nur die Lufträume über Europa und Nordamerika für russische Flugzeuge gesperrt, sondern wurden auch Leasingflugzeuge aus Russland zurückbeordert und für den Betrieb notwendige Wartungen und Ersatzteile verweigert, um die russische Luftfahrt auch im Inland hart zu treffen. In einem Land, das mehrere Zeitzonen umfasst und dessen Wirtschaft und Bevölkerung auf den Flugverkehr zwischen den Städten und ins Ausland angewiesen sind, bedeutet das mittelfristig auf jeden Fall herbe Einschnitte.
Hinzu kommen das Einfrieren der Nationalbankgelder, der teilweise SWIFT-Ausschluss und zumindest seitens der USA das vollständige Energieembargo. Auch viele Unternehmen ziehen an dieser Stelle mit und haben ihren Geschäftsbetrieb in und Handelsbeziehungen zu Russland auf eigenes Betreiben hin eingeschränkt, unterbrochen oder beendet.
Um die Oligarchen zu treffen, wurden außerdem erstmals in großem Stil Vermögenswerte eingefroren und Sanktionen verhängt, die das Leben für die ökonomischen Stützpfeiler des Putin-Regimes künftig deutlich unbequemer machen werden. Dass sich diesen Maßnahmen auch Länder wie die Schweiz und Singapur angeschlossen haben, wirkt dabei zwar wie eine Randnotiz, ist tatsächlich aber fast schon historisch – natürlich noch immer kein Vergleich zum historischen Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer um ihr Land.

Daneben haben Kulturschaffende und internationale Sportverbände reagiert und so wurde Russland beispielsweise vom IOC, von der UEFA und der Fifa ausgeschlossen. Und mal ganz ernsthaft, wenn Du sogar von der Fifa gemieden wirst, dann musst Du wirklich schon extrem böse sein – üblicherweise lässt sich die Fifa von Krieg und Menschenrechtsverletzungen nämlich nicht das Geschäft verderben. Insofern ist das vielleicht sogar ein stärkeres Signal als all die Friedensaufrufe vom Papst oder anderen Vertretern der großen Religions- und Glaubensgemeinschaften, auch wenn das natürlich ebenfalls alles gut, richtig und zu begrüßen ist.
Auch die „diplomatische“ Reaktion auf der Ebene der Vereinten Nationen ließ nicht lange auf sich warten. Letztlich ist Putins völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine auch ein Krieg gegen eben diese UN-Weltordnung freier und souveräner Staaten. Und dass Putin den Einmarsch in die Ukraine zeitgleich zur Tagung des UN-Sicherheitsrates startete, macht ja nur noch einmal mehr deutlich, welchen Stellenwert Putin der UN und ihren Gremien beimisst.
Entsprechend hat aber eine große Mehrheit der UN-Länder – von den Bevölkerungen her die halbe Menschheit – Russlands Krieg gegen die Ukraine bei der UN-Vollversammlung verurteilt und einer entsprechenden Resolution zugestimmt. Auch Brasilien oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die eigentlich ganz gute Beziehungen zu Russland haben, schlossen sich dem an und selbst die Taliban, die ja nun wirklich keine Freunde der US-Regierung oder der NATO sind, haben der Vorlage bei den Vereinten Nationen zugestimmt und damit das Verhalten Russlands aktiv verurteilt.
Enttäuschend ist jedoch das bis heute zögerliche Verhalten Israels und auch die Zurückhaltung Mexikos. In beiden Ländern hätte man sich mit einer klaren Verurteilung von Putins Krieg echt keinen Zacken aus der Krone gebrochen. Einfach nur peinlich ist bislang hingegen das Verhalten von Indien, das zu Kriegsbeginn erst alle einspannte, um indische Studierende aus den von Russland umzingelten Städten rauszuholen, und danach dann die russischen Bomben auf Zivilisten mit einem Schulterzucken hinnahm und jetzt auch noch jenes Öl aus Russland zu Billigpreisen importieren will, das andere Länder mühsam zu boykottieren versuchen.

Wie geht es weiter?

Nachdem ich mich so grundlegend getäuscht habe, was den flächendeckenden Angriff auf die Ukraine anbelangt, will ich mich mit Prognosen über den weiteren Verlauf zurückhalten. Natürlich sollten wir alle die Daumen drücken, dass der ukrainische Widerstand und die internationalen Sanktionen wirken und Putin schnellstmöglich ein Einsehen hat und seine Truppen aus der Ukraine abzieht. Vorbereiten müssen wir uns aber auf einen langen und erbitterten Stellungskrieg.
Militärisch sieht es zum jetzigen Zeitpunkt nicht so aus, als würde eine der Seiten zügig ihre Ziele erreichen und auch eine Verhandlungslösung scheint momentan von beiden Seiten aus betrachtet noch in weiter Ferne. Selenskyj kann und will die weitreichenden territorialen Forderungen von Putin keinesfalls erfüllen und Putin wiederum hat keinerlei Interesse, bei den bislang unstrukturierten Geländegewinnen stehen zu bleiben oder diese gar wieder herzugeben. Insofern ist leider zu befürchten, dass die Kämpfe in der Ukraine vorerst unvermindert weitergehen (hoffentlich täusche ich mich auch diesmal).
Da Selenskyj für seine aktuelle Politik breiten Rückhalt genießt, ist außerdem nicht zu erwarten, dass sich an der ukrainischen Position in nächster Zeit viel verändert. Umgekehrt ist aber auch ein Umsturz in Moskau – es wäre vermutlich die beste Lösung für alle, außer natürlich für Putin – relativ unwahrscheinlich. Theoretisch möglich, vielleicht sogar etwas wahrscheinlicher, ist ein Umsturz in einem von Putins Vasallenstaaten. Was würde denn passieren, wenn die zweite Staatsebene in Minsk oder das belarussische Volk die Gunst der Stunde nutzt? Viele Reaktionsmöglichkeiten hätte Putin aktuell auf jeden Fall nicht.

All diese Gedankenspiele setzen aber stets voraus, dass die Ukraine im Kampf gegen die russischen Streitkräfte weiter durchhält. Zu befürchten ist hier zwar, dass Russland in den nächsten Wochen weitere Geländegewinne macht, vielleicht auch Mariupol oder Charkiw einnimmt und danach einen Großangriff auf Kiew startet. Genauso gut lässt sich nach den Meldungen der letzten Tage aber auch hoffen, dass sich das Blatt auf dem Schlachtfeld durch Versorgungsprobleme bei russischen Truppen, die Waffenhilfe für die ukrainische Armee und die seit Wochen laufende Rekrutierung ukrainischer Soldaten allmählich doch wendet. Gelingt es der ukrainischen Armee tatsächlich, die russischen Truppen zurückzuschlagen, wird es für Putin zunehmend eng. Zwar hat er noch einige weitere Optionen, jede aber ihrerseits mit neuen, unberechenbaren Risiken für ihn und seine Herrschaft behaftet. So könnte er zu nochmals brutaleren Methoden greifen, womit er aber eventuell bei seinen bisherigen Partnern in Fernost den Geduldsfaden überstrapaziert. Putin könnte auch weitere russische Truppen in die Ukraine entsenden, was aber womöglich die Stabilität in anderen Landesteilen oder auch in den von Moskau abhängigen Ländern negativ beeinflusst und dort zum Widerstand animieren könnte. Überdies könnte Putin auch seine Marionette Lukaschenko auffordern, in den Krieg einzutreten, jedoch auch hier mit der Gefahr, damit in Belarus ganz neue Dynamiken auszulösen. Aber auch die für uns beste Lösung, Putin hat ein Einsehen und beendet den Krieg, wäre für seine Herrschaft in Moskau mit erheblichen Gefahren verbunden. Vorstellbar ist daher, dass Putin nach dem gescheiterten „Blitzkrieg“ nun zunächst versucht, sich mit den vorhandenen Mitteln auf die leichter erreichbaren Kriegsziele zu fokussieren, um am Ende trotz des militärischen Debakels noch einige Erfolge für sich aus diesem Krieg herausziehen zu können. Auf diplomatischer Ebene könnte das zunächst ein Verzicht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft sein, anstatt gleich die „vollständige Demilitarisierung“ zu verlangen. Und militärisch könnte Putin vorerst auf einen Angriff auf Odessa oder Kiew verzichten und seine Streitkräfte östlich des Dnepr konzentrieren, um dort den Druck z.B. auf Charkiw und Mariupol zu erhöhen. Gelingt es Putin, diese Städte einzunehmen und damit ein „konsolidiertes“ von Russland besetztes Gebiet in der Ostukraine zu schaffen, werden die ukrainischen Streitkräfte an diesem Zustand so schnell vermutlich nichts mehr ändern können. Das wäre dann wohl auch der Zeitpunkt, an dem Putin bereit ist, unter Bedingungen den Konflikt vorerst einzufrieren – um seine strategischen Fernziele zu einem für ihn günstigeren Zeitpunkt weiterzuverfolgen.

Auf internationaler Ebene stellt sich hingegen die Frage, ob es den USA, der EU, Japan und anderen Verbündeten mit zunehmender Kriegsdauer und Brutalität vielleicht doch noch gelingt, weitere UN-Mitgliedsstaaten von einem strikteren Kurs gegenüber Putins Russland zu überzeugen. Möglicherweise hätte die EU als direkt betroffene Region einen besseren Zugang zur mexikanischen Regierung als die in Mexiko nicht sonderlich beliebten USA. Eventuell könnten dafür die USA als enger Partner von Israel oder Pakistan nochmal mit diesen Ländern sprechen. Und wenn es Japan oder Australien gelingen würde, Indien davon zu überzeugen, im Vergleich zu den Vorjahren wenigstens kein zusätzliches Öl oder andere Rohstoffe aus Russland zu importieren, würde das die Handlungsspielräume Putins ebenfalls nachhaltig reduzieren.
Gleichzeitig ist die Verlagerung von Handelsströmen auch eine Chance und kann als Verhandlungsmasse seitens Europas und Nordamerikas genutzt werden. Wenn die USA und Venezuela tatsächlich wieder miteinander reden und einen besseren Umgang finden, kann daraus für Millionen Menschen in Südamerika eine neue Perspektive erwachsen. Und wenn die EU mit Ländern des Nahen Ostens redet, kann dabei auch über die Zeit fossiler Energieträger hinausgedacht werden, z.B. mit Blick auf Sonnenenergie und die Herstellung von Wasserstoff. Europa müsste aus meiner Sicht auch gar nicht so arg weit in die Ferne schauen. Tunesien ist ein Land, das in den letzten Jahren sehr viel geleistet hat, z.B. hinsichtlich der eigenen Transformation oder auch bei der Bewältigung von Flüchtlingsströmen, und längst mehr Unterstützung aus Europa verdient hätte. Die in Folge des Ukraine-Krieges entstandene Notwendigkeit, neue Energiequellen für Europa zu erschließen, könnte hier nun zu mehr Augenhöhe und einer neuen Form gegenseitiger Partnerschaft führen. Auch in Algerien könnte die EU helfen, den augenscheinlich notwendigen gesellschaftlichen Transformationsprozess – es kommt regelmäßig zu Protesten gegen den verkrusteten algerischen Staatsapparat – abgesichert durch eine gute ökonomische Perspektive in einen friedlichen Rahmen einzubetten. Das wäre etwas, was man sich als EU eh überlegen sollte und wozu die jetzige Situation in der Ukraine dann nur ein weiterer Anlass wäre.

Neben all diesen Überlegungen, werden wir uns in Deutschland und der EU demnächst aber auch fragen müssen, wie mit Vertriebenen aus der Ukraine umgegangen werden soll. Noch sind wir in einer akuten Phase, also bei der Notversorgung mit Schlafplätzen, Lebensmitteln und Gesundheitsleistungen. Bei einem Fortgang des Krieges wird jedoch bald auch die Frage nach der Integration dieser Menschen in den Arbeitsmarkt drängend werden. Und so sehr es dabei zu wünschen ist, dass möglichst viele Ukrainerinnen und Ukrainer in der EU schnell zu einem Job finden – das hilft diesen wie auch den jeweiligen Gastländern – so ärgerlich ist es natürlich, dass die Ukraine damit umgekehrt zumindest einen Teil gerade auch der gut qualifizierten Arbeitskräfte verliert.
Überdies darf Europa jetzt nicht nur auf sich, auf den Krieg in der Ukraine und die Folgen für uns Europäerinnen und Europäer schauen. Auch die Hilferufe der UN bezüglich der weltweiten Versorgung, insbesondere mit Lebensmitteln, müssen in Europa gehört werden. Das Welternährungsprogramm und andere UN-Programme müssen ausreichend finanziert sein und bleiben. Auch dieser Herausforderung muss sich Europa stellen, nicht nur aus humanitären Gründen, sondern alleine schon, um nicht noch mehr Länder in ihrer Not in die Arme von Putins Russland oder den nicht intervenierenden Chinesen zu treiben.

Wie es am Ende kommt, müssen wir abwarten. Was mir zum Abschluss daher nur noch bleibt, ist den Ukrainerinnen und Ukrainern für den mutigen Kampf um ihr Land viel Erfolg und möglichst wenige Opfer zu wünschen und ihnen dafür, dass sie nicht nur ihr Land, sondern damit auch Europa, unsere freie Welt und die gesamte Friedensordnung souveräner Staaten verteidigen, von ganzem Herzen zu danken – Slawa Ukrajini!


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[1] Genaue Zusammensetzung und Zahlen zur Sowjetunion, zum Warschauer-Pakt sowie weitere Länderdaten und Ähnliches von Wikipedia entnommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Sowjetunion

[2] Außenhandelsdaten von oec.world (Ein Datenprojekt zu Handelsströmen): https://oec.world/en/home-b

[3] Zahlen von Wikipedia übernommen: https://de.wikipedia.org/wiki/Unruhen_in_Kasachstan_2022

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https://www.mister-ede.de/politik/putins-krieg-in-der-ukraine/9234/feed 0
Die Europäische Einigung ist mehr als die EU https://www.mister-ede.de/politik/europaeische-einigung-und-eu/8781 https://www.mister-ede.de/politik/europaeische-einigung-und-eu/8781#comments Wed, 16 Jan 2019 15:25:22 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8781 Weiterlesen ]]> Die Europäische Einigung ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Die jeweils aktuellen Strukturen und europäischen Institutionen sind kein Selbstzweck, sondern nur Instrumente, um Harmonisierung und Vertiefung innerhalb Europas weiter voranzutreiben und das Erreichte abzusichern. In der Geschichte hatte die EU deshalb auch schon viele Gesichter – EGKS, EURATOM, EG, „Maastricht“ und jetzt „Lissabon“. Immer wieder wurden die Strukturen an die Gegebenheiten der Zeit und die Erfordernisse der jeweiligen Integrationsfelder und Integrationstiefen angepasst.
Die Europäische Einigung ist aber auch kein einzelner, einheitlicher Prozess, sondern eine Vielzahl sich teilweise überlappender, oft parallel und manchmal auch gegeneinander ablaufender Prozesse – man denke hierbei z.B. an die Visegrád-Gruppe innerhalb der EU. Entsprechend ist die Europäische Union eben gerade nicht das einheitliche Gebilde, als das sie häufig wahrgenommen wird. Beispielsweise ist die Eurozone eine noch einmal weitaus engere Kooperation, als es die EU für sich alleine genommen ist. Und auch Schengen oder das Europäische Asylsystem sind Teilbereiche der Integration, an denen auch Nicht-EU-Länder wie die Schweiz teilnehmen, sich umgekehrt aber nicht alle EU-Länder beteiligen – Dänemark nimmt z.B. nicht am Europäischen Asylsystem teil und Irland ist kein Schengen-Mitglied.
Darüber hinaus findet die Europäische Integration nicht nur auf der Ebene der EU statt. Auch außerhalb der EU gibt es mit dem Europarat inklusive Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine eigenständige Ebene der Europäischen Einigung mit eigenen Strukturen. Fast 50 Staaten in Europa, inklusive Russland und der Türkei, haben die Menschenrechtskonvention unterzeichnet. Rund 850 Millionen Menschen haben damit Anspruch auf Schutz durch den EGMR. Bei allen Defiziten und Verbesserungspotentialen ist auch das ein Erfolg europäischer Einigungspolitik.

„die EU ist lediglich ein Werkzeug der Europäischen Einigung“

Alles, was dazu beiträgt, europäische Länder und Bevölkerungen in Kooperation zu vernetzen oder gar zu vereinen, dient der Europäischen Integration. Natürlich spielt die EU hierbei eine herausragende Rolle. Sie und ihre Vorläuferorganisationen haben sich große Verdienste erworben, auch in den letzten 20, 30 Jahren: Das Auffangen der Staaten Osteuropas nach dem Zerfall der Sowjetunion, festgelegte einheitliche Grundstandards – auch Ungarn muss Mindestnormen bei der Flüchtlingsaufnahme erfüllen – und ein unglaublich positiver Austausch auf kultureller und persönlicher Ebene durch Städtepartnerschaften und eine Vielzahl anderer Programme wie Erasmus oder das Deutsch-Französische Jugendwerk. Und natürlich sind auch die erheblichen Wohlstandsgewinne durch eine deutliche Erleichterung des grenzüberschreitenden Wirtschaftens ein riesiger Erfolg. Wenn man das heutige Prag mit dem Prag vor 20 Jahren vergleicht – was für eine unglaubliche Entwicklung!
Und dennoch, die EU ist lediglich ein Werkzeug der Europäischen Einigung, dessen Tauglichkeit immer wieder geprüft werden muss. Wofür sind die Strukturen der EU gut? Welche Integrationsprozesse können mit dem Werkzeug EU bearbeitet werden? Und wo braucht es Anpassungen oder wo werden auch ganz andere, neue Werkzeuge benötigt, um die in den kommenden Jahren anstehenden Arbeiten am Haus Europa ordentlich durchführen zu können?

„ein geeignetes Instrument, um bisherige Erfolge der Europäischen Einigung zu bewahren“

Außerhalb der EU gibt es eine Vielzahl von Strukturen, die eine Zusammenarbeit von Staaten in Europa und global fördern – z.B. die Vereinten Nationen. Diese Strukturen, wie auch die allermeisten anderen Formen bi- und multilateraler Zusammenarbeit, beruhen auf der intergouvernementalen Kooperation souveräner Nationalstaaten. Die EU ist hier ein gutes Stück weiter, mit direkt gewähltem Europäischem Parlament und zum Teil sehr umfassenden Kompetenzübertragungen, z.B. in Angelegenheiten des Binnenmarkts oder der Zollpolitik. Gleichwohl handelt es sich bei den EU-Mitgliedsländern noch immer um vollkommen souveräne Nationalstaaten, die lediglich für die Dauer der Mitgliedschaft einen Teil ihrer Souveränitätsrechte übertragen. Das sieht man natürlich am deutlichsten am Brexit, aber auch daran, dass die Mitgliedsländer sogar an EU-Außengrenzen die Anwesenheit europäischer Grenzschützer ablehnen können. Im Aufbau der EU spiegelt sich diese Souveränität der Mitgliedsländer in der Tatsache wider, dass Vertragsänderung ausschließlich einstimmig von den Mitgliedsländern beschlossen werden können und dass auch im Rahmen der EU-Prozesse, insbesondere bei weitreichenderen Entscheidungen wie CETA, immer wieder die Zustimmung jedes einzelnen EU-Mitgliedslands notwendig ist.
Diese Struktur der EU wird häufig kritisiert und ist dennoch einer der wichtigsten Pfeiler auf dem diese Union steht. Die Akzeptanz der grundsätzlichen Souveränität ist für viele EU-Länder, z.B. Dänemark, ein unverzichtbares Element des Integrations-Werkzeugs „EU“. Außerdem wird damit gewährleistet, dass die Schwelle zur Europäischen Union nicht zu einer unüberwindbaren Hürde für andere Länder wird. Die EU bleibt auf diese Weise für all jene souveränen Nationalstaaten anschlussfähig, die sich im Europarat versammelt haben, und auch der Brückenschlag zu Serbien und Montenegro und den übrigen Ländern des Westbalkans, zu Norwegen, Island, der Schweiz und künftig vielleicht auch zu Großbritannien wird erleichtert.
Für viele Einigungsprozesse, z.B. die Harmonisierung des Verbraucherschutzes, ist es auch überhaupt kein Hindernis, dass die EU aus souveränen Nationalstaaten besteht. Zahllose Integrationsschritte, man denke an die Datenschutzgrundverordnung oder das gemeinsame Freihandelsabkommen mit Japan, konnten bisher problemlos innerhalb dieser EU-Struktur gegangen werden. Und auch für die Zukunft gibt es noch vieles, was im Rahmen dieser EU vorangetrieben werden kann. Es wäre daher töricht, zugunsten einer weiteren Vertiefung nun genau diesen Pfeiler der nationalen Souveränität und die damit einhergehende EU-Struktur einzureißen. Auch in Zukunft wird die EU ein geeignetes Instrument sein, um die bisherigen Erfolge der Europäischen Einigung zu bewahren und weitere Integrationsschritte zu ermöglichen, sei es im Rahmen der EU-Prozesse innerhalb der Union oder auch durch die Aufnahme weiterer Länder in diese Union. Im Rahmen der Europäischen Einigung sollten die Bemühungen daher stärker darauf abzielen, das bislang Erreichte zu verteidigen und zu erhalten, also die Grundwerte auf denen die EU steht, die gemeinsamen Institutionen und die Prinzipien und das Prozedere der Zusammenarbeit.

„für neue Herausforderungen immer häufiger ungeeignet“

An einigen Punkten des europäischen Einigungsprozesses stößt die EU als Verbund souveräner Nationalstaaten aber auch an Grenzen. Die Verteidigungsunion ist beispielsweise nicht viel mehr als ein wohlklingender Name für eine Einkaufsgenossenschaft für Kriegsgeräte – und sie kann es auch nie werden. Natürlich kann man deutsch-französische Brigaden aufstellen, die Waffensysteme harmonisieren und gemeinsam militärisch agieren, aber die letztendliche Entscheidungsbefugnis wird im Rahmen der aktuellen EU-Struktur immer bei den nationalen Regierungen mit ihren Verteidigungsministern liegen, die weiterhin zuallererst den nationalen Verfassungen verpflichtet sind. Denn wie auch sollte ohne massive Übertragung von Souveränitätsrechten ein europäisches Verteidigungsministerium entstehen? Und wie sollte die EU diese Verantwortung überhaupt tragen können ohne adäquate Prozesse und Institutionen?
Die Liste solcher Beispiele ist lang und reicht von der Erhebung EU-eigener Steuern über einen echten gemeinsamen Außengrenzschutz bis hin zu einer Vielzahl von Problemstellungen rund um die gemeinsame Währung. Und die Liste wird zusehends länger, denn immer häufiger kommt der europäische Einigungsprozess an eben jenen Punkt, ab dem die sinnvollen oder sogar notwendigen Integrationsschritte eine noch erheblich umfassendere Einschränkung der nationalen Eigenständigkeit erfordern. Solche Integrationsschritte müssten dann aber zum einen von einer grundlegend anderen prozessualen Struktur, beispielsweise mit Mehrheitsentscheidungen, und einem dazu passenden institutionellen Unterbau mit Verfassung, vollwertigem Parlament und echter Regierung begleitet werden. Zum anderen bräuchte es aber auch wenigstens von einer größeren Zahl der EU-Mitgliedsländer die Bereitschaft, Souveränitätsrechte an die EU zu übertragen. Weder das eine noch das andere ist zurzeit gegeben. In ihrer jetzigen Form ist die EU deshalb für neue Herausforderungen immer häufiger ungeeignet.

„neue Integrations-Werkzeuge in den Werkzeugkoffer der Europäischen Einigung packen“

Auf der einen Seite ist die EU gerade wegen ihrer Struktur und ihrem Aufbau auf souveränen Nationalstaaten ein sinnvolles Integrations-Werkzeug, das es auf jeden Fall beizubehalten gilt. Auf der anderen Seite müsste genau diese Struktur geändert werden, damit die EU für jene weiteren Integrationsschritte das geeignete Werkzeug wird, die eine Übertragung von Souveränitätsrechten in deutlich größerem Umfang erfordern. Beides gleichzeitig kann die EU aber nicht erfüllen. Sie bleibt entweder der jetzige Verbund souveräner Nationalstaaten oder aus ihr wird eben mehr.
Es sollte daher eine Rückbesinnung auf das Wesentliche stattfinden, nämlich auf die Frage, was dient dem Integrationsprozess insgesamt. Nachdem die EU in ihrer jetzigen Form im Rahmen der Europäischen Einigung noch für vieles nützlich ist, macht es wenig Sinn, dieses Integrations-Instrument umzugestalten – und nachdem zahlreiche EU-Mitglieder die jetzige EU-Struktur erhalten wollen, würde dies auch nicht gelingen. Gleichzeitig lehrt uns die Geschichte, dass es immer mal wieder Zeitpunkte gab, an denen es notwendig wurde, für neue Herausforderungen neue Integrations-Werkzeuge zu entwickeln und in den Werkzeugkoffer der Europäischen Einigung zu packen. Ideen dafür gibt es genug. Sie beginnen bei einem Umbau der Eurozone und Ausstattung mit eigenen Institutionen, z.B. einem Eurozonen-Parlament, und gehen über verschiedenste Vorstellung eines Kerneuropas bis hin zur völligen Neukonstruktion einer föderativen Ebene auf bi- oder multilateralem Wege. Eine solche Weiterentwicklung der europäischen Einigung hätte dabei nicht nur den Vorteil, dass wichtige Integrationsschritte gegangen werden können, sondern auch, dass die EU in ihrer Form erhalten bliebe und der Integrationsdruck innerhalb der Europäischen Union reduziert würde. Dies könnte die Akzeptanz der EU insbesondere bei jenen Bevölkerungen wieder erhöhen, denen die nationale Eigenständigkeit sehr wichtig ist, bei Polen, Tschechen, Dänen aber eben auch bei Norwegern oder Briten.

Fazit:

Die EU ist nur ein Werkzeug der Europäischen Integration. Sie hat in der Vergangenheit viele Erfolge gebracht und sie wird in ihrer jetzigen Form auch weiterhin benötigt. Gleichzeitig ist die EU den neuen Herausforderungen nicht mehr vollständig gewachsen und zahlreiche Mitgliedsländer lehnen eine weitere Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU ab. Anstatt nur nach Möglichkeiten einer tieferen Integration innerhalb der EU zu suchen, sollte deshalb viel stärker überlegt werden, ob es außerhalb des Systems der 27/28 eine Möglichkeit für Schritte nach vorne gibt, z.B. durch die Entwicklung eines Kerneuropas.


Text als PDF: Die Europäische Einigung ist mehr als die EU


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Die EU ist also immer häufiger selbst Teil des Problems und eine wesentliche Ursache dafür liegt in der fehlenden oder nicht ausreichenden europäischen Integration. Folgerichtig wird an vielen Baustellen der EU immer wieder der Ruf nach weiteren Integrationsschritten der EU laut. Um dem Steuerdumping zu begegnen, soll es eine gemeinsame Unternehmensbesteuerung geben und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine europäische Arbeitslosenversicherung. Die Währungsunion soll endlich durch eine politische Union ergänzt werden und zur Bewältigung der Flüchtlingskrise soll es ein solidarisches europäisches Migrations- und Asylsystem geben. Die Außengrenzen sollen gemeinschaftlich geschützt und mit einer Verteidigungsunion soll die Abwehrfähigkeit aller EU-Länder verbessert werden. Doch trotz der klaren Forderungen nach mehr Kooperation, die quer durch das politische Spektrum der Pro-Europäer erhoben werden, hat sich bislang nichts geändert – und dafür gibt es Gründe.

Für viele der eigentlich notwendigen Integrationsschritte innerhalb der EU, z.B. der Entwicklung eines echten EU-Außengrenzschutzes, wäre die Einstimmigkeit der EU-Länder notwendig und oftmals sogar eine Änderung der EU-Verträge. Doch durch die Vielzahl nationaler Egoismen ist es inzwischen kaum noch möglich, diese notwendige Einstimmigkeit unter den 28, bald 27, EU-Ländern zu erreichen. So blockiert beispielsweise Deutschland alles, was auch nur im Verdacht stehen könnte, der deutschen Automobilindustrie zu schaden, während andere EU-Länder umgekehrt ihre wichtigen nationalen Unternehmen und Wirtschaftszweige schützen. Und auch bei der Steuergesetzgebung versucht jedes Land immer genau seine eigenen Schlupflöcher zu verteidigen. Die in der Versenkung verschwundene gemeinsame europäische Finanztransaktionssteuer ist ein Musterbeispiel hierfür.
Hinzukommen dann aber auch noch EU-Länder, vorneweg Ungarn und Polen, deren Regierungen den Status quo sowieso ganz gerne erhalten möchten, weil ihnen überhaupt nicht an einer starken EU-Ebene gelegen ist. An dieser Gruppe scheiterte beispielsweise ein erster Versuch, die Verantwortung für die EU-Außengrenzen an die EU zu übertragen, weil diese Länder nicht bereit waren, die Hoheit über den Grenzschutz an ihren eigenen EU-Außengrenzen aufzugeben. Und darüber hinaus gibt es dann sogar noch weitere EU-Länder, z.B. Dänemark, die sich die Möglichkeit zur Nichtteilnahme am Euro-Währungsverbund, an Schengen oder am Dublin-System vertraglich haben zusichern lassen.

Es ist daher extrem schwer, die Hürde der Einstimmigkeit für substanzielle Änderungen innerhalb der EU zu überwinden. Aus diesem Grund laufen auch die vielen Forderungen, z.B. nach einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung oder einer EU-Migrations- und Asylpolitik, kontinuierlich ins Leere. Dadurch ist es inzwischen kaum noch möglich, die EU durch eine tiefere Integration handlungsfähig zu machen und sie damit in die Lage zu versetzen, vom Teil des Problems wieder zum Teil der Lösung zu werden.
Neben den Rufen nach einer tieferen Integration muss daher künftig die Tatsache diskutiert werden, dass solche Vertiefungen nicht mehr mit allen EU-Ländern zusammen gegangen werden können. So schön z.B. Ulrike Guérots „Europäische Republik“ ist, hilft sie solange nicht weiter, bis die Frage beantwortet wurde, welche EU-Länder bei dieser Umgestaltung mitmachen und was das für jene EU-Länder bedeutet, in denen die Bevölkerung nicht zu diesem Schritt bereit ist. Hier setzt nun das „Konzept der Europäischen Föderation“ an, aber auch der frisch gewählte französische Präsident Macron beantwortet mit seinen Vorstellungen zur Reform der Eurozone und einer Weiterentwicklung zu einem Kern innerhalb der EU die Frage, welche EU-Länder an den Integrationsschritten beteiligt wären. Doch in der Öffentlichkeit fehlt es noch immer an einem breiten Diskurs dazu, während sich die Europa-Debatte weiterhin überwiegend in einer Dauerschleife zwischen der Forderung nach tieferer Integration und einer blockierten EU befindet.
Das Ziel muss daher sein, auf die Beantwortung der Frage hinzuarbeiten, mit welchen EU-Ländern eine tiefere Integration umgesetzt werden kann und soll. Denn zum einen hat die Zusammensetzung der Länder umgekehrt Einfluss darauf, in welchem Rahmen und in welcher Tiefe Integrationsschritte verwirklicht werden können und sollen. Und zum anderen wird damit die Europa-Debatte auf die tatsächliche Umsetzung einer tieferen Integration ausgerichtet, was hilfreich wäre, um der Debatte neuen Schwung zu geben und sie endlich wieder vorwärts zu bewegen.


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Und so kam es, wie es kommen musste. 2006 scheiterte der Versuch, der EU eine Verfassung zu geben, und die europäische Integration kam zum Stillstand. Als nächstes crashte 2009 das europäische Bankenwesen und mit ihm zahlreiche Euro-Länder. Die einstige wirtschaftliche Prosperität in Europa gehört seitdem der Vergangenheit an und im Hinblick auf das Wohlstandsversprechen der europäischen Idee wurde die Eurozone zu einem Krisengebiet.
Von 2012 bis heute starben dann rund 20.000 Menschen, darunter zahlreiche Kriegsflüchtlinge, an den EU-Außengrenzen und mit ihnen der Mythos von der europäischen Wertegemeinschaft, die der Würde des Menschen und den Menschenrechten verpflichtet ist. Ab 2013 wurde dann Italien bei der Versorgung von Flüchtlingen von den europäischen Partnern im Stich gelassen und jeder konnte sehen, dass auch die bis dahin viel beschworene europäische Solidargemeinschaft nichts weiter ist als eine hohle Phrase. Danach löste 2015 das schon lange zuvor gescheiterte Dublin-System eine tiefe politische Krise in Europa aus und mit dem Bau von Grenzzäunen zwischen EU-Ländern wurde die völlige Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union offenkundig.
Letztendlich mündete der Niedergang der EU dann im Jahr 2016 in der Entscheidung der Briten, das europäische Projekt zu beenden und die britische Politik künftig wieder vollständig im Rahmen ihres Nationalstaats zu organisieren.

So steht die EU-Bürgerschaft heute vor einer desintegrierenden europäischen Integration, vor einer wertlosen Wertegemeinschaft, vor einer unwirtschaftlichen Wirtschaftsgemeinschaft, vor einer unsolidarischen Solidargemeinschaft und vor einer EU, in der das nationale Handeln die gemeinschaftliche Handlungsunfähigkeit ersetzt. Sahen sich viele EU-Bürger vor zehn Jahren noch auf dem Weg in eine europäische Oase des Glücks, hat sich dieses Ziel in den letzten Jahren immer mehr als Fata Morgana entpuppt. Vom europäischen Projekt ist somit nichts geblieben, außer der bitteren Erkenntnis, sich viel zu lange von einem schönen Schein blenden haben zu lassen.


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Mit Le Pen droht Europa ein Ende mit Schrecken, mit Macron ein Schrecken ohne Ende! https://www.mister-ede.de/politik/le-pen-macron-und-europa/8384 https://www.mister-ede.de/politik/le-pen-macron-und-europa/8384#comments Thu, 04 May 2017 19:34:27 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8384 Weiterlesen ]]> Es ist kein Geheimnis, dass Marine Le Pen für ein Ende der EU eintritt und zurück in den Nationalstaat will. Insofern bedarf es, was Le Pen anbelangt, keiner großen Erläuterungen. Gewinnt sie bei den französischen Stichwahlen um das Präsidentenamt am kommenden Sonntag, droht der EU, die nach dem Brexit bereits angezählt ist, das endgültige Scheitern. Doch auch mit Emmanuel Macron als nächstem Präsidenten Frankreichs sieht die Zukunft des europäischen Projektes alles andere als rosig aus.

Bereits in seiner Amtszeit als Wirtschaftsminister von 2014 – 2016 hat sich Macron als neoliberaler Ideologe entpuppt und auch in seinem jetzigen Wahlkampf hat er immer wieder erklärt, an dieser aktuellen EU der neoliberalen Ideologie festhalten zu wollen. Obwohl also die europäische Integration inzwischen zum Stillstand gekommen ist, sogar mit dem Brexit schon ein Zerfallsprozess eingesetzt hat, will Macron keine substanziellen Reformen am europäischen Projekt durchsetzen. Vielmehr beharrt er auf einem strikten „Weiter so“ und einem nochmals verstärkten gegenseitigen Wettbewerb der Nationalstaaten. Entsprechend wird Macron nach einem Wahlsieg dafür sorgen, dass sich Frankreich mit niedrigeren Steuern für Reiche und Vermögende, Lohn- und Sozialkürzungen sowie einem Abbau von Arbeitnehmerrechten einen Wettbewerbsvorteil innerhalb des EU-Binnenmarkts gegenüber den europäischen Partnern verschafft. Wenn aber künftig auch Frankreich kräftig an dieser Abwärtsspirale im Standortwettbewerb dreht, wird das erhebliche negative Auswirkungen für die restliche EU haben.

Deutschland wird in diesem Fall unter Druck geraten, den in den letzten Jahren begonnen Kurs der internen Aufwertung wieder zu verlassen, was insbesondere jenen Ländern schadet, die aufgrund der gemeinsamen Euro-Währung keine Abwertungsmöglichkeiten gegenüber Deutschland haben. Vor allem Italien, dessen Staatsfinanzen und Bankensystem bereits jetzt am Rande eines Kollaps stehen, würde durch die wachsende wirtschaftliche Konkurrenz aus Frankreich und Deutschland noch mehr in die Bredouille geraten. Aber auch der spanischen und portugiesischen Wirtschaft, die in den vergangenen zwei Jahren zumindest wieder einen leichten Aufwärtstrend verzeichnen konnte, droht damit der nächste schwere Schlag. Verzichten diese Länder auf ähnlich harte Einschnitte, wie Macron sie in Frankreich plant, werden bei ihnen Arbeitslosigkeit und Haushaltsdefizite steigen und die nächste Wirtschaftskrise in diesen Ländern wäre vorprogrammiert. Gehen sie allerdings denselben Weg wie Frankreich, droht die gesamte Eurozone in eine Rezessionsspirale zu geraten, wie wir sie bereits in der Folge der fatalen Austeritätspolitik erleben mussten.

Erneut werden die Leidtragenden dieser Entwicklung vor allem die normalen Bürger der EU-Länder sein – besonders innerhalb des Euro-Währungsraums. Entweder werden sie von steigender Arbeitslosigkeit betroffen sein oder von unsichereren Beschäftigungsverhältnissen, der Lockerung des Kündigungsschutzes und sinkenden Reallöhnen und Renten. Außerdem werden sie am stärksten unter dem Abbau des Sozialstaats, z.B. geringerem Kindergeld oder schlechterem Krankenversicherungsschutz, leiden.
Doch auch für die europäischen Einkommens- und Vermögenseliten könnte die Rechnung nicht aufgehen. Zwar werden sie von niedrigeren Steuern profitieren und ihre Unternehmen von geringeren Arbeitskosten und einem flexibleren Arbeitsmarkt. Doch ob diese Vorteile am Ende den Schaden einer von Macron ausgelösten europaweiten Rezession übersteigen, ist fraglich.

Klar ist hingegen, dass mit Macrons Wirtschaftspolitik eine wesentliche Grundlage des europäischen Einigungsprozesses zerstört wird, nämlich das Versprechen, gemeinsam in Europa den Wohlstand für alle Beteiligten zu mehren. Möglicherweise wird also gerade Macron, der im französischen Präsidentschaftswahlkampf als Fan dieser EU auftritt, ungewollt zu ihrem Totengräber. Insbesondere in jenen Ländern, in denen es bereits jetzt eine starke nationalistische Strömung gibt, könnte Macron mit seiner Politik des verschärften Standortwettbewerbs wie ein Brandbeschleuniger wirken.
Im schlimmsten Falle wäre dann zwar Le Pen in Frankreich verhindert worden, allerdings zum Preis, dass in anderen EU-Ländern die Nationalisten die Oberhand gewinnen. Aber selbst in Frankreich könnte es am Ende darauf hinauslaufen, dass Le Pen in fünf Jahren bei den nächsten Präsidentschaftswahlen von enttäuschten Macron-Wählern doch noch in den Élysée-Palast geschickt wird.

Insofern muss man zwar jedem, dem an einem europäischen Miteinander gelegen ist, abraten, Le Pen zu wählen und Europa damit den Todesstoß zu versetzen. Allerdings muss man auch Macron dringend davon abraten, seine angekündigte Politik tatsächlich zu verwirklichen und damit das Dahinsiechen Europas fortzusetzen.


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Macron steht für ein geeintes Europa, aber eines der neoliberalen Ideologie https://www.mister-ede.de/politik/macron-neoliberale-ideologie/8378 https://www.mister-ede.de/politik/macron-neoliberale-ideologie/8378#comments Sun, 30 Apr 2017 17:03:54 +0000 MisterEde http://www.mister-ede.de/?p=8378 Weiterlesen ]]> Es ist natürlich nicht falsch, wenn Emmanuel Macron von vielen Medien als Europafreund bezeichnet wird. Denn im Gegensatz zu Marine Le Pen, die zurück in den Nationalstaat will, setzt Macron auf das europäische Miteinander. Doch worüber die Medien nicht berichten: Für welches Europa Macron eigentlich steht – ein Europa der neoliberalen Ideologie.

Als Wirtschaftsminister scheiterte Macron an der Bevölkerung

Von 2014 bis 2016 war Macron bereits für zwei Jahre französischer Wirtschaftsminister und trat in dieser Zeit für einen Abbau des Sozialstaats, für eine Begrenzung der Arbeitnehmerrechte, für Rentenkürzungen und deregulierte Märkte ein. In einem ersten Reformschritt wollte er dafür unter anderem die Arbeitszeit verlängern, die Zahl der Flächentarife massiv zurückfahren und den Kündigungsschutz aufweichen. Letztendlich scheiterte er allerdings mit seinen weitgehenden Vorschlägen nicht nur am Widerstand des linken Flügels der französischen Sozialisten, sondern vor allem am Widerstand der Bevölkerung. So gingen im Frühjahr 2016 an manchen Tagen weit über eine Million Franzosen im Rahmen der landesweiten Proteste von „Nuit debout“ gegen diese Reformen auf die Straße und im weiteren Verlauf kam es dann auch zu Generalstreiks und Straßenblockaden, die Frankreich lahmlegten.

Macrons Politik ist nicht sozialliberal, sondern kapitalliberal

Aber auch im jetzigen Wahlkampf betonte Macron immer wieder, dass er die französische Wirtschaft in Schwung bringen will, indem er die staatlichen und gewerkschaftlichen Institutionen schwächt und im Gegenzug dafür der Wirtschaft und dem Kapital weitgehende Freiheiten einräumt. Seine Politik ist also keinesfalls sozialliberal, wie das in einigen Medien behauptet wird, sondern durch und durch kapitalliberal.
Macron steht damit, wie kein Zweiter unter den angetretenen Präsidentschaftskandidaten, für die neoliberale Ideologie. Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht, das ist seine Philosophie. Der schwache Staat, der euphemistisch gerne als „schlank“ bezeichnet wird, ist sein Ziel. Für das Gemeinwesen, den sozialen Ausgleich und das Solidarprinzip wird es unter ihm als Präsidenten hingegen keinen Platz mehr in der französischen Politik geben.

Macron ist ein französischer Gerhard Schröder

Blickt man auf Macrons bisherige politische Arbeit und sein Wahlprogramm, wird deutlich, dass er ein Agenda-Politiker im Stile von Gerhard Schröder ist. Dieser hat in seiner Regierungszeit in Deutschland Vermögende und Einkommensstarke steuerlich massiv entlastet, die jahrzehntelang gut funktionierende staatliche Rente zugunsten der privaten Riester-Rente aufgeweicht, auf dem Arbeitsmarkt die tarifliche Beschäftigung durch Leih- und Zeitarbeit und geringfügige Beschäftigung ausgehöhlt und das soziale Sicherungssystem auf Hartz-IV eingeschmolzen. Was hierzulande seither Realität ist, droht nun auch der französischen Bevölkerung, wenn sich Macron am 7. Mai in der Stichwahl durchsetzt und zum Präsidenten gewählt wird.
Gerade für jene Franzosen, die mit Macron die Hoffnung auf ein besseres Leben verbinden, könnte es daher ein bitteres Erwachen geben. Es ist daher nicht ganz unwahrscheinlich, dass ein Sieg Macrons am Ende Le Pen als französische Präsidentin nicht verhindert, sondern lediglich ihren Amtsantritt um 5 Jahre nach hinten verschiebt.

Mit Macron droht dem europäischen Projekt eine fatale Entwicklung

Aber auch für das europäische Miteinander droht mit Macron eine fatale Entwicklung, weil seine europäische Agenda anstelle grundlegender Reformen ein schlichtes „Weiter so“ vorsieht. Trägt er damit allerdings in den kommenden Jahren zur Verfestigung der vorhandenen Struktur der EU im Sinne der neoliberalen Ideologie bei, sind erhebliche Kollateralschäden vorprogrammiert. Denn steigt mit Macron auch Frankreich voll in den gemeinwohlschädlichen Dumpingwettbewerb der EU-Staaten bei Steuern, Löhnen und Sozialleistungen ein, wird sich die Abwärtsspirale innerhalb der EU künftig noch wesentlich schneller drehen. Die Folgen würden die Bürger aller EU-Länder spüren und so könnten z.B. die italienische Movimento Cinque Stelle oder die österreichische FPÖ noch mehr an Zulauf gewinnen. Im schlimmsten Falle birgt also ein Sieg Macrons die Gefahr, dass in den nächsten Jahren in Österreich Heinz-Christian Strache und in Italien Beppe Grillo die Staatsführungen übernehmen.


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Rollback ins Nationale:

Eine Vielzahl nationalistischer Kräfte in Europa möchte die europäische Integration am liebsten auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen und den Kontinent wieder in Nationalstaaten aufspalten. Ihr Narrativ ist, dass sich der Nationalstaat in der Vergangenheit bewährt habe und auch heute besser als die gemeinschaftlichen europäischen Institutionen in der Lage sei, die Interessen der Bürger zu vertreten. Dabei spielt diesen Kräften zurzeit in die Hände, dass es die europäischen Institutionen bei zahlreichen Problemen tatsächlich nicht mehr schaffen, befriedigende Lösungen zu finden. So können die Nationalisten die für die Bevölkerungen der EU-Mitgliedsländer spürbaren und sichtbaren Schwachstellen der EU für ihre Erzählung nutzen, ohne den Beweis antreten zu müssen, dass die Nationalstaaten, wenn sie für sich alleine wären, diese Probleme wirklich besser lösen könnten.
Wichtige Vertreter dieser Hauptrichtung sind z.B. die britische UKIP, die vehement für den Brexit geworben hat, der französische Front National um die rechte Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen, die deutsche AfD, die österreichische FPÖ und die italienische Partei Movimento Cinque Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung) um Beppe Grillo.

Status quo verteidigen:

Für ein Beibehalten der EU in ihrer jetzigen Form treten vor allem diejenigen ein, die zu den Gewinnern der bisherigen Ausgestaltung des europäischen Miteinanders gehören und deshalb wenig bis gar kein Interesse daran haben, etwas zu ändern. Hierzu gehören insbesondere die Eigentümer und Vertreter jener Unternehmen, die vom gemeinsamen Binnenmarkt und dem Wettbewerb der EU-Länder stark profitieren. Bleibt es bei der aktuellen Konstruktion, können sich deren Unternehmen weiterhin in manchen EU-Ländern das Steuerdumping, in anderen das Lohn- und Sozialdumping und in nochmals anderen EU-Ländern z.B. niedrige Umweltschutzauflagen zunutze machen. Hinzugesellen sich aber auch einige Betriebsräte und Spitzenfunktionäre der Gewerkschaften, die weit weg sind von Fehlentwicklungen wie wachsendem Niedriglohnsektor und prekärer Beschäftigung und daher ebenfalls für den Erhalt der EU in ihrer bisherigen Struktur plädieren. Mit dem Status quo gut leben können außerdem Politiker wie Viktor Orbán, die keine tiefere Integration und schon gar keine gestärkten europäischen Institutionen möchten, deren Länder allerdings weiterhin vom Binnenmarkt und den EU-Fördergeldern profitieren sollen.
Zu diesen konservativen Kräften hinzuzählen muss man allerdings auch den parteilosen französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron, der sich in seinem Wahlkampf nicht für einen Umbau Europas stark gemacht hat, sondern für eine Agenda-Politik in Frankreich, wie sie Gerhard Schröder einst in Deutschland durchführte. Zum Kreis derer, die vor allem die jetzige EU erhalten und bestenfalls an einzelnen Stellschrauben moderat drehen wollen, gehören außerdem Wolfgang Schäuble, der anstelle tiefgreifender Reformen lediglich einen Euro-Aufseher zur Durchsetzung des Spardiktats in Südeuropa befürwortet, genauso wie der in Deutschland stark gehypte #PulseOfEurope, der zum Fahnenschwenken für die aktuelle EU aufruft, statt substanzielle Veränderungen an dieser EU einzufordern.

Europäische Integration neu denken:

Last but not least gibt es dann noch all jene, die das europäische Miteinander weiterentwickeln und die europäische Integration neu denken wollen. Allerdings sind die Anhänger dieser Strömung quer über das politische Spektrum verteilt, weshalb es innerhalb dieser Gruppe sehr unterschiedliche Vorstellungen davon gibt, wie ein Europa der Zukunft am Ende gestaltet sein sollte und wie ein Weg dorthin aussehen könnte. Trotz dieser Vielfalt lassen sich diese progressiven pro-europäischen Kräfte aber dennoch auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Sie erkennen die Strukturprobleme der jetzigen EU an, beispielsweise das Demokratiedefizit, und erachten es deshalb für das europäische Miteinander als unabdingbar, diese Konstruktionsfehler der EU durch grundlegende Reformen zu beseitigen.
Zu dieser Gruppe gehören zahlreiche Politiker von Linken und Grünen sowie einige der SPD und auch z.B. die EU-Parlamentarier Manfred Weber (CSU) und Alexander Graf Lambsdorff (FDP). Hinzu kommen außerdem verschiedene zivilgesellschaftliche Initiativen, wie die Union Europäischer Föderalisten, die sich für ein föderales Europa einsetzt, oder die Bewegung DIEM25 um den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, die europaweit Dialoge für ein neues Europa durchführt. Aber auch die Wissenschaftlerin Ulrike Guérot, die ihre Vorstellung einer European Republic in ihrem Buch „Warum Europa eine Republik werden muss!“ niedergeschrieben hat und dieser Blog, der sich unter anderem für eine europäische Verfassung stark macht, sind zu dieser Gruppe progressiver Pro-Europäer zu zählen.


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Was sich also zurzeit sonntags europaflaggenschwenkend auf deutschen Marktplätzen herumtreibt, sind nicht progressive und humanistische Europäer, sondern vor allem Menschen, die gerne ungestört eine Donaukreuzfahrt nach Ungarn machen oder vielleicht in Budapest studieren wollen. Und wenn Orbán dafür Flüchtlinge aus Ungarn draußen hält, dann sind das eben die hochgelobten europäischen Werte, die es nun lautstark zu verteidigen gilt. Entsprechend sind es auch nicht die verarmten Rentner aus Griechenland, nicht die arbeitslosen Jugendlichen aus Spanien und nicht die Ausgegrenzten und Abgehängten Europas, die sich hinter #PulseOfEurope versammeln. Vielmehr ist es die wohlsituierte Stadtbevölkerung Deutschlands, die ihre Pfründe sichern und die eigenen Vorteile aus der Eliten-EU verteidigen will. Und während Solidarität, Menschenrechte und Demokratie in der EU immer kleiner geschrieben werden, ruft #PulseOfEurope: „Super, weiter so und jetzt erst recht!“

Wenig verwunderlich ist deshalb auch, dass man diesem deutschen Egoismus in den übrigen EU-Ländern vor allem mit Kopfschütteln und einem „Die spinnen, die Germanen!“ begegnet. Und so bilden die Deutschen bei #PulseOfEurope unbeirrt tolle Menschenketten, während gleichzeitig Merkels Spardiktat die EU zerstört und die deutsche Flüchtlingspolitik die Zahl der Toten im Mittelmeer explodieren lässt. Diese Naivität der #PulseOfEurope-Anhänger gepaart mit ihrer Selbstsucht und dem hochnäsigem Herabschauen ist daher einfach nur tief enttäuschend.
Sicher, noch ist die Bewegung jung und man kann hoffen, dass sie sich irgendwann doch zu einem humanistischen und progressiven Projekt weiterentwickelt. Bleibt es allerdings weiterhin bei dieser bizarren Verteidigung einer EU, mit der die europäische Integration in den Sand gesetzt wurde, dann muss man für die Zukunft Europas tatsächlich hoffen, dass #PulseOfEurope bald Geschichte ist.


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Union der Europäischen Föderalisten:

Schon seit 1946 gibt es die Union der Europäischen Föderalisten, die sich seit ihrer Gründung für das Zusammenwachsen Europas engagiert. Mit rund 20.000 europaweit organisierten Mitgliedern ist sie die größte überparteiliche Organisation, die sich für ein demokratisches und rechtsstaatliches Europa einsetzt. Die Grundfreiheiten der Bürger, die Solidarität untereinander und die Wahrung der Menschenrechte sind für die Union der Europäischen Föderalisten nicht verhandelbar. Ihr deutscher Ableger ist die Europa-Union Deutschland.

Link zur Europa-Union Deutschland e.V.

Die Europäische Föderation:

Die Europäische Föderation ist eine dialogorientierte Vision zur Weiterentwicklung der europäischen Integration. Mit ihrer Verfassung stellt sie sich auf die Seite derer, die den Mangel an Humanität und Solidarität in Europa beklagen und ermöglicht es den europäischen Bürgern, sich in einem fairen und gleichberechtigten Miteinander an der Gestaltung der europäischen Integration zu beteiligen.

Link zur Europäischen Föderation

The European Republic:

Die Europäische Republik verkörpert ein Europa der Regionen und Bürger. Sie ist aus dem 2013 gegründeten European Democracy Lab an der European School of Governance in Berlin hervorgegangen und setzt vor allem auf ein Europa mit starker Zivilgesellschaft. Hierzu gibt es daher Vorträge und Veranstaltungen, in denen die Bürger ermutigt und befähigt werden, aktiv an der Zukunft Europas mitzuarbeiten.

Link zur European Republic


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