Die Europäische Einigung ist mehr als die EU

Die Europäische Einigung ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Die jeweils aktuellen Strukturen und europäischen Institutionen sind kein Selbstzweck, sondern nur Instrumente, um Harmonisierung und Vertiefung innerhalb Europas weiter voranzutreiben und das Erreichte abzusichern. In der Geschichte hatte die EU deshalb auch schon viele Gesichter – EGKS, EURATOM, EG, „Maastricht“ und jetzt „Lissabon“. Immer wieder wurden die Strukturen an die Gegebenheiten der Zeit und die Erfordernisse der jeweiligen Integrationsfelder und Integrationstiefen angepasst.
Die Europäische Einigung ist aber auch kein einzelner, einheitlicher Prozess, sondern eine Vielzahl sich teilweise überlappender, oft parallel und manchmal auch gegeneinander ablaufender Prozesse – man denke hierbei z.B. an die Visegrád-Gruppe innerhalb der EU. Entsprechend ist die Europäische Union eben gerade nicht das einheitliche Gebilde, als das sie häufig wahrgenommen wird. Beispielsweise ist die Eurozone eine noch einmal weitaus engere Kooperation, als es die EU für sich alleine genommen ist. Und auch Schengen oder das Europäische Asylsystem sind Teilbereiche der Integration, an denen auch Nicht-EU-Länder wie die Schweiz teilnehmen, sich umgekehrt aber nicht alle EU-Länder beteiligen – Dänemark nimmt z.B. nicht am Europäischen Asylsystem teil und Irland ist kein Schengen-Mitglied.
Darüber hinaus findet die Europäische Integration nicht nur auf der Ebene der EU statt. Auch außerhalb der EU gibt es mit dem Europarat inklusive Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine eigenständige Ebene der Europäischen Einigung mit eigenen Strukturen. Fast 50 Staaten in Europa, inklusive Russland und der Türkei, haben die Menschenrechtskonvention unterzeichnet. Rund 850 Millionen Menschen haben damit Anspruch auf Schutz durch den EGMR. Bei allen Defiziten und Verbesserungspotentialen ist auch das ein Erfolg europäischer Einigungspolitik.

„die EU ist lediglich ein Werkzeug der Europäischen Einigung“

Alles, was dazu beiträgt, europäische Länder und Bevölkerungen in Kooperation zu vernetzen oder gar zu vereinen, dient der Europäischen Integration. Natürlich spielt die EU hierbei eine herausragende Rolle. Sie und ihre Vorläuferorganisationen haben sich große Verdienste erworben, auch in den letzten 20, 30 Jahren: Das Auffangen der Staaten Osteuropas nach dem Zerfall der Sowjetunion, festgelegte einheitliche Grundstandards – auch Ungarn muss Mindestnormen bei der Flüchtlingsaufnahme erfüllen – und ein unglaublich positiver Austausch auf kultureller und persönlicher Ebene durch Städtepartnerschaften und eine Vielzahl anderer Programme wie Erasmus oder das Deutsch-Französische Jugendwerk. Und natürlich sind auch die erheblichen Wohlstandsgewinne durch eine deutliche Erleichterung des grenzüberschreitenden Wirtschaftens ein riesiger Erfolg. Wenn man das heutige Prag mit dem Prag vor 20 Jahren vergleicht – was für eine unglaubliche Entwicklung!
Und dennoch, die EU ist lediglich ein Werkzeug der Europäischen Einigung, dessen Tauglichkeit immer wieder geprüft werden muss. Wofür sind die Strukturen der EU gut? Welche Integrationsprozesse können mit dem Werkzeug EU bearbeitet werden? Und wo braucht es Anpassungen oder wo werden auch ganz andere, neue Werkzeuge benötigt, um die in den kommenden Jahren anstehenden Arbeiten am Haus Europa ordentlich durchführen zu können?

„ein geeignetes Instrument, um bisherige Erfolge der Europäischen Einigung zu bewahren“

Außerhalb der EU gibt es eine Vielzahl von Strukturen, die eine Zusammenarbeit von Staaten in Europa und global fördern – z.B. die Vereinten Nationen. Diese Strukturen, wie auch die allermeisten anderen Formen bi- und multilateraler Zusammenarbeit, beruhen auf der intergouvernementalen Kooperation souveräner Nationalstaaten. Die EU ist hier ein gutes Stück weiter, mit direkt gewähltem Europäischem Parlament und zum Teil sehr umfassenden Kompetenzübertragungen, z.B. in Angelegenheiten des Binnenmarkts oder der Zollpolitik. Gleichwohl handelt es sich bei den EU-Mitgliedsländern noch immer um vollkommen souveräne Nationalstaaten, die lediglich für die Dauer der Mitgliedschaft einen Teil ihrer Souveränitätsrechte übertragen. Das sieht man natürlich am deutlichsten am Brexit, aber auch daran, dass die Mitgliedsländer sogar an EU-Außengrenzen die Anwesenheit europäischer Grenzschützer ablehnen können. Im Aufbau der EU spiegelt sich diese Souveränität der Mitgliedsländer in der Tatsache wider, dass Vertragsänderung ausschließlich einstimmig von den Mitgliedsländern beschlossen werden können und dass auch im Rahmen der EU-Prozesse, insbesondere bei weitreichenderen Entscheidungen wie CETA, immer wieder die Zustimmung jedes einzelnen EU-Mitgliedslands notwendig ist.
Diese Struktur der EU wird häufig kritisiert und ist dennoch einer der wichtigsten Pfeiler auf dem diese Union steht. Die Akzeptanz der grundsätzlichen Souveränität ist für viele EU-Länder, z.B. Dänemark, ein unverzichtbares Element des Integrations-Werkzeugs „EU“. Außerdem wird damit gewährleistet, dass die Schwelle zur Europäischen Union nicht zu einer unüberwindbaren Hürde für andere Länder wird. Die EU bleibt auf diese Weise für all jene souveränen Nationalstaaten anschlussfähig, die sich im Europarat versammelt haben, und auch der Brückenschlag zu Serbien und Montenegro und den übrigen Ländern des Westbalkans, zu Norwegen, Island, der Schweiz und künftig vielleicht auch zu Großbritannien wird erleichtert.
Für viele Einigungsprozesse, z.B. die Harmonisierung des Verbraucherschutzes, ist es auch überhaupt kein Hindernis, dass die EU aus souveränen Nationalstaaten besteht. Zahllose Integrationsschritte, man denke an die Datenschutzgrundverordnung oder das gemeinsame Freihandelsabkommen mit Japan, konnten bisher problemlos innerhalb dieser EU-Struktur gegangen werden. Und auch für die Zukunft gibt es noch vieles, was im Rahmen dieser EU vorangetrieben werden kann. Es wäre daher töricht, zugunsten einer weiteren Vertiefung nun genau diesen Pfeiler der nationalen Souveränität und die damit einhergehende EU-Struktur einzureißen. Auch in Zukunft wird die EU ein geeignetes Instrument sein, um die bisherigen Erfolge der Europäischen Einigung zu bewahren und weitere Integrationsschritte zu ermöglichen, sei es im Rahmen der EU-Prozesse innerhalb der Union oder auch durch die Aufnahme weiterer Länder in diese Union. Im Rahmen der Europäischen Einigung sollten die Bemühungen daher stärker darauf abzielen, das bislang Erreichte zu verteidigen und zu erhalten, also die Grundwerte auf denen die EU steht, die gemeinsamen Institutionen und die Prinzipien und das Prozedere der Zusammenarbeit.

„für neue Herausforderungen immer häufiger ungeeignet“

An einigen Punkten des europäischen Einigungsprozesses stößt die EU als Verbund souveräner Nationalstaaten aber auch an Grenzen. Die Verteidigungsunion ist beispielsweise nicht viel mehr als ein wohlklingender Name für eine Einkaufsgenossenschaft für Kriegsgeräte – und sie kann es auch nie werden. Natürlich kann man deutsch-französische Brigaden aufstellen, die Waffensysteme harmonisieren und gemeinsam militärisch agieren, aber die letztendliche Entscheidungsbefugnis wird im Rahmen der aktuellen EU-Struktur immer bei den nationalen Regierungen mit ihren Verteidigungsministern liegen, die weiterhin zuallererst den nationalen Verfassungen verpflichtet sind. Denn wie auch sollte ohne massive Übertragung von Souveränitätsrechten ein europäisches Verteidigungsministerium entstehen? Und wie sollte die EU diese Verantwortung überhaupt tragen können ohne adäquate Prozesse und Institutionen?
Die Liste solcher Beispiele ist lang und reicht von der Erhebung EU-eigener Steuern über einen echten gemeinsamen Außengrenzschutz bis hin zu einer Vielzahl von Problemstellungen rund um die gemeinsame Währung. Und die Liste wird zusehends länger, denn immer häufiger kommt der europäische Einigungsprozess an eben jenen Punkt, ab dem die sinnvollen oder sogar notwendigen Integrationsschritte eine noch erheblich umfassendere Einschränkung der nationalen Eigenständigkeit erfordern. Solche Integrationsschritte müssten dann aber zum einen von einer grundlegend anderen prozessualen Struktur, beispielsweise mit Mehrheitsentscheidungen, und einem dazu passenden institutionellen Unterbau mit Verfassung, vollwertigem Parlament und echter Regierung begleitet werden. Zum anderen bräuchte es aber auch wenigstens von einer größeren Zahl der EU-Mitgliedsländer die Bereitschaft, Souveränitätsrechte an die EU zu übertragen. Weder das eine noch das andere ist zurzeit gegeben. In ihrer jetzigen Form ist die EU deshalb für neue Herausforderungen immer häufiger ungeeignet.

„neue Integrations-Werkzeuge in den Werkzeugkoffer der Europäischen Einigung packen“

Auf der einen Seite ist die EU gerade wegen ihrer Struktur und ihrem Aufbau auf souveränen Nationalstaaten ein sinnvolles Integrations-Werkzeug, das es auf jeden Fall beizubehalten gilt. Auf der anderen Seite müsste genau diese Struktur geändert werden, damit die EU für jene weiteren Integrationsschritte das geeignete Werkzeug wird, die eine Übertragung von Souveränitätsrechten in deutlich größerem Umfang erfordern. Beides gleichzeitig kann die EU aber nicht erfüllen. Sie bleibt entweder der jetzige Verbund souveräner Nationalstaaten oder aus ihr wird eben mehr.
Es sollte daher eine Rückbesinnung auf das Wesentliche stattfinden, nämlich auf die Frage, was dient dem Integrationsprozess insgesamt. Nachdem die EU in ihrer jetzigen Form im Rahmen der Europäischen Einigung noch für vieles nützlich ist, macht es wenig Sinn, dieses Integrations-Instrument umzugestalten – und nachdem zahlreiche EU-Mitglieder die jetzige EU-Struktur erhalten wollen, würde dies auch nicht gelingen. Gleichzeitig lehrt uns die Geschichte, dass es immer mal wieder Zeitpunkte gab, an denen es notwendig wurde, für neue Herausforderungen neue Integrations-Werkzeuge zu entwickeln und in den Werkzeugkoffer der Europäischen Einigung zu packen. Ideen dafür gibt es genug. Sie beginnen bei einem Umbau der Eurozone und Ausstattung mit eigenen Institutionen, z.B. einem Eurozonen-Parlament, und gehen über verschiedenste Vorstellung eines Kerneuropas bis hin zur völligen Neukonstruktion einer föderativen Ebene auf bi- oder multilateralem Wege. Eine solche Weiterentwicklung der europäischen Einigung hätte dabei nicht nur den Vorteil, dass wichtige Integrationsschritte gegangen werden können, sondern auch, dass die EU in ihrer Form erhalten bliebe und der Integrationsdruck innerhalb der Europäischen Union reduziert würde. Dies könnte die Akzeptanz der EU insbesondere bei jenen Bevölkerungen wieder erhöhen, denen die nationale Eigenständigkeit sehr wichtig ist, bei Polen, Tschechen, Dänen aber eben auch bei Norwegern oder Briten.

Fazit:

Die EU ist nur ein Werkzeug der Europäischen Integration. Sie hat in der Vergangenheit viele Erfolge gebracht und sie wird in ihrer jetzigen Form auch weiterhin benötigt. Gleichzeitig ist die EU den neuen Herausforderungen nicht mehr vollständig gewachsen und zahlreiche Mitgliedsländer lehnen eine weitere Übertragung von Souveränitätsrechten an die EU ab. Anstatt nur nach Möglichkeiten einer tieferen Integration innerhalb der EU zu suchen, sollte deshalb viel stärker überlegt werden, ob es außerhalb des Systems der 27/28 eine Möglichkeit für Schritte nach vorne gibt, z.B. durch die Entwicklung eines Kerneuropas.


Text als PDF: Die Europäische Einigung ist mehr als die EU


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