Die Pandemie verschlafen: Jeder zweite Corona-Infizierte außerhalb Chinas befindet sich in der EU

Aktuell, Stand 10.3. um 10:35 Uhr, gibt es nach Angaben der US-amerikanischen John Hopkins Universität weltweit 114.544 bestätigte Corona-Infektionen. Die meisten davon gibt es mit 80.756 Fällen bislang in China, dem Ursprungsland des Virus. In allen anderen Ländern außerhalb Chinas gibt es damit insgesamt 33.788 bestätigte Corona-Fälle.
Hiervon entfallen auf Italien 9.172 Erkrankungen, auf Frankreich 1.412, auf Spanien 1.231, auf Deutschland 1.224 und auf die weiteren EU-Länder ca. 1.400 Erkrankungen – insgesamt sind das rund 14.500 Fälle in der EU [1]. Fast jeder zweite Corona-Infizierte außerhalb Chinas lebt somit in der Europäischen Union. Hier gibt es mehr Infizierte als in ganz Südostasien zusammen, obwohl von Bombay über Jakarta bis Tokio 2 Mrd. Menschen zum Teil in direkter Nachbarschaft zum Ausbruchsland China leben. Gut, vielleicht sind die Zahlen aus Vietnam nicht gar so zuverlässig wie aus Italien. Aber dass das Nachbarland Japan die Corona-Verbreitung mit 530 bestätigten Fällen im Gegensatz zum viel weiter entfernten Europa so einigermaßen unter Kontrolle hat, sollte einem dann doch zu denken geben.

Die EU liegt rund 10 Flugstunden von China entfernt. Das heißt, der Personenverkehr beschränkt sich fast ausschließlich auf den Luftverkehr. Es wäre daher vergleichsweise leicht gewesen, alle Flugreisende aus Risikoländern – Anfangs aus China, recht schnell auch aus Südkorea – für 72 Stunden samt Flugzeug in Quarantäne zu nehmen und in dieser Zeit einen Abstrich zu machen. Sobald man einen infizierten Fluggast findet, hätte man dann die übrigen Passagiere länger in Quarantäne behalten und das Flugzeug gründlich desinfizieren können.
Natürlich wäre das bei täglich alleine in Deutschland rund 5.000 Einreisen aus China ein gewisser Aufwand gewesen. Und natürlich hätte auch das nicht gänzlich ausgeschlossen, dass sich jemand kurz vor dem Flug ansteckt und so durch die Kontrollen rutscht. Aber die Zahl der Erstinfizierten in Europa hätte sich durch eine solche Vorsichtsquarantäne wohl um ein gutes Stück reduzieren lassen und mit etwas Glück hätten wir jetzt 10.000 Infizierte und ein gewaltiges Problem weniger.
Dass sich das Corona-Virus in der EU so breit niederlassen konnte, hängt insofern vor allem mit einer verantwortungslosen Überheblichkeit europäischer Politik zusammen, die durchweg den Eindruck vermittelte, das Virus stelle vielleicht für Schwellenländer ein Problem dar, aber keinesfalls für die hochentwickelten Staaten Europas.

Und dass sich das Virus anschließend zudem in so hoher Geschwindigkeit quer über den Kontinent ausbreiten konnte, liegt daran, dass sich hinter dieser völlig unangebrachten europäischen Überheblichkeit auch noch eine erschreckende Inkompetenz verbirgt.
Spätestens nachdem Mitte Februar klar war, dass sich das Corona-Virus unbemerkt in Italien verbreitet hat und keine Infektionsketten mehr feststellbar sind, hätten bei allen Verantwortlichen in Europa die Alarmglocken schrillen müssen – alleine sie taten es nicht. So lehnte man sich auch in der Bundesregierung erst nochmal zwei Wochen mit maximaler Naivität zurück, bevor man dann schließlich doch auf die Idee kam, einen Krisenstab einzurichten. Wie viele Menschen bis zu diesem Zeitpunkt schon infiziert aus Italien nach Deutschland oder in andere europäische Länder gereist waren – keiner weiß es. Und anstatt dann wenigstens sofort mit einer konsequenten Eindämmungspolitik wie in China, z.B. durch vorübergehende Reisebeschränkungen nach Italien, die weitere Verbreitung spürbar zu erschweren, hat man das Corona-Virus nochmal zwei Wochen munter durch Europa ziehen lassen. Eine denkbar schlechte Entscheidung angesichts der Tatsache, dass es sich bei Zentraleuropa um eines der am dichtesten besiedelten und stärksten vernetzten Gebiete der Welt handelt, mit hoher Mobilität der Bevölkerung, vielen öffentlichen Verkehren und einem veranstaltungsreichen öffentlichen Leben. Was zur Hölle haben sich Gesundheitsminister Spahn und Innenminister Seehofer dabei denn bitte gedacht? Dass es dem Virus in Italien so gut gefällt, dass es nicht nach Deutschland kommt?

Die wochenlange Arbeitsverweigerung deutscher und europäischer Politik rächt sich nun bitter. Durch die viel zu späten Reise- und Versammlungsbeschränkungen und das Fehlen routinemäßiger Kontrollen von Reisenden aus Italien und anderen Risikogebieten ist davon auszugehen, dass inzwischen zahlreiche unerkannte Corona-Infizierte in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Ländern angekommen sind. Der Überblick über die Infektionsketten dürfte zumindest in Mitteleuropa gänzlich und dauerhaft verloren gegangen sein. Damit ist die Lage soweit außer Kontrolle, dass eine Epidemie nicht mehr zu verhindern ist, sondern nur noch ihr Ausmaß beeinflusst werden kann.
Selbst die vollständige Abriegelung Italiens würde die Ausbreitung in Deutschland und anderen Ländern Mitteleuropas nicht mehr stoppen. Gegebenenfalls könnten sich noch einige osteuropäische Staaten durch Grenzschließungen bzw. Einreisequarantänen weitgehend Corona-frei halten. Aber auch dafür könnte es schon zu spät sein.

In Frankreich, Deutschland, Spanien, den anderen mitteleuropäischen Ländern und besonders natürlich Italien haben wir es hingegen bereits mit einer unkontrollierten Ausbreitung zu tun. In einer solchen Situation helfen – solange es keine Impfung gibt – nur noch isolierende Maßnahmen, um die Verbreitung wenigstens zu reduzieren.
Halten sich alle Menschen vier Wochen lang innerhalb ihrer jeweiligen Kommune auf, so bleiben all jene Kommunen samt ihrer Einwohner Corona-frei, in denen es bislang keine Erkrankten gibt. Und bleiben alle Menschen die nächste Zeit gleich ganz zuhause, geht das Ansteckungsrisiko sogar fast überall gegen null.
Insofern führen natürlich auch die Absagen größerer Veranstaltungen, die Schließungen von Unis, Schulen und KiTas, der Verzicht auf Großraumbüros oder die Einstellung des öffentlichen Personenverkehrs zu einer Verlangsamung der Infektionswelle. Weiterhin bleibt es selbstverständlich zielführend, bei Einreisenden aus anderen Risikogebieten der Welt durch geeignete Maßnahmen, z.B. eine obligatorische Quarantäne, die Corona-Freiheit sicherzustellen.
Es war ein schwerer Fehler, das nicht direkt bei den täglich 5.000 Einreisenden aus China gemacht zu haben. Und es war ein nicht minder schwerer Fehler, Italien nach dem dortigen Ausbruch nicht frühzeitig abgekapselt zu haben. Den restlichen Ländern der Welt ist wohl zu raten, mit Blick auf die EU und die nun in Mitteleuropa grassierende Corona-Epidemie einen ähnlichen Fehler nicht zu wiederholen. Das gilt insbesondere dann, wenn die Europäer weiterhin keine wirkungsvollen Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus treffen.

Nach den aktuellen Infektionszahlen erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass die Zahl der Corona-Infizierten in der EU in wenigen Wochen die Zahl der Infizierten in China übersteigt und Europa zum größten Corona-Risikogebiet wird. Sollte es soweit kommen, dürften Kontrollen und Quarantänen für Reisende aus Europa die Folge sein.
Nachdem bereits jetzt das Leben für 60 Mio. Italiener still steht, würden damit dann auch noch kollektive Ausreisesperren und ein völliger Shutdown der ganzen EU folgen. Und alles nur, weil man nicht rechtzeitig gehandelt und ein paar tausend Chinareisende für einige Tage sicherheitshalber in Quarantäne geschickt hat.


[1] Zahlen der John Hopkins Universität aufbereitet auf Tagesschau.de

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