Elitenversagen live: Erfahrungsbericht zu einem misslungenen Brexit-Vortrag

Es war der Donnerstagmorgen des 10.11.2016, als ich gespannt auf den Vortrag mit anschließender Diskussion zum Thema „Brexit-Referendum: Ursachen und mögliche Folgen“ wartete. Ich hoffte vom Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Siegen, Dr. Hannes Rösler, Neues zu erfahren und freute mich auf eine weitere Perspektive und die Möglichkeit, in der anschließenden Diskussion die Frage zu stellen, ob die Überschrift nicht schon einer Fehlannahme unterliege. Schließlich hat ja fast die Hälfte der am Referendum teilnehmenden Briten für einen Verbleib in der EU votiert, weshalb man bei ihnen ja nicht nach Ursachen suchen braucht. Vielmehr hätte man mit Hinblick auf die Ursachen also fragen müssen, warum im anderen Teil der Bevölkerung die „Leave“-Option als besser empfunden wurde.

Doch leider kam es erst gar nicht soweit, denn der Vortrag befasste sich fast ausschließlich mit der Geschichte und der Entwicklung des Rechts in Großbritannien. Einem Schüler hätte man für ein solches Referat wohl eine 6 mit dem Hinweis „Thema komplett verfehlt“ gegeben. Und so zog sich der mit unsinnigen Anekdoten, z.B. zum Fanshop eines britischen Gerichts, und zu meinem Erstaunen auch mit ziemlich schrägen Darstellungen durchsetzte Vortrag des Professors von der Magna Carta über die Kolonialgeschichte bis zum Zerfall des Commonwealth. Hingegen fiel kein Wort zum massiven Eliteversagen, kein Wort zu Cameron, kein Wort zu den Konstruktionsfehlern der EU, kein Wort zur Spaltung zwischen Arm und Reich oder zur neoliberalen Deindustrialisierungspolitik im Großbritannien der 80er- und 90er-Jahre.

Wer also Elitenversagen mal live erleben wollte, war bei diesem Vortrag auf jeden Fall richtig, wer sich aber für die Ursachen des Brexits interessierte, war hier definitiv falsch. Meine entsprechende Nachfrage gegen Ende des Vortrags, übrigens die einzige, trotz angekündigter Diskussion, empfand der Professor dann wohl auch als Majestätsbeleidigung. Dabei wollte ich nur wissen, ob er ernsthaft glaubt, dass das, was er uns da jetzt erzählt hat, irgendwas mit dem Brexit-Votum zu tun hat. Auf meine Ergänzung, dass GB auch keine 11 Mrd. zur EU beiträgt, sondern nur rund 4 Milliarden Euro, bezweifelte er einfach meine Zahlen. Diese kann man zwar bei der Bundeszentrale für politische Bildung nachlesen, aber ein Professor fällt halt lieber auf Zahlen der Brexiteers herein, bevor er vor Publikum seine Ahnungslosigkeit eingesteht. Auf seinen Vorschlag, ich solle doch einfach selbst einen Vortrag halten und er würde Fragen stellen, habe ich gleich nachmittags per Mail geantwortet – gehört habe ich seitdem aber nichts mehr von ihm…


Ergänzung vom 05.02.2017: Auf Grund eines Einmaleffektes, wie die Wirtschaftswoche im Sommer 2016 schrieb, lag der Nettobeitrag Großbritanniens 2015 bei 11,5 Mrd. Euro. (Link zur Auflistung der Nettozahler 2015 auf www.wiwo.de)


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