Die Machtverschiebung von Parlamenten zu Regierungen in der EU

Die Gewaltenteilung ist ein fundamentaler Bestandteil freiheitlicher Gesellschaftsordnungen. Durch die Aufteilung der staatlichen Macht in gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt soll verhindert werden, dass eines der Staatsorgane zu viel Macht oder gar die alleinige Macht im Staat inne hat.

In allen Ländern der EU gibt es daher für die Legislative, also die Gesetzgebung, ein Parlament und für die Exekutive, also die Ausführung der Staatsgeschäfte, eine Regierung. Es gibt zwar hier und da kleinere Vermischungen, z.B. wird in Deutschland die Regierung vom Parlament gewählt und die Bundesregierung hat auch kleinere Freiräume eigene Rechtsvorschriften zu erlassen, aber im Großen und Ganzen wird die Gewaltenteilung gut eingehalten. Dasselbe gilt auch für die übrigen EU-Mitgliedsstaaten, die zwar jeweils andere Ausgestaltungen ihres Staatswesens haben, aber allesamt auf dem Prinzip der Gewaltenteilung aufbauen.

Gewaltenteilung und Demokratie in Deutschland und der EU (www.mister-ede.de – 12.09.2012)

Durch die Konstruktion der EU haben sich jedoch die Zuständigkeiten zwischen Parlamenten und Regierungen in nicht unerheblichem Maße verschoben. Zwar gibt es auf der europäischen Ebene genauso wie in den Mitgliedsstaaten ein Parlament, das Europaparlament, und für die Ausführung der EU-Politik mit der EU-Kommission eine Art europäische Regierung, allerdings sind daneben auch die Regierungen der EU-Mitgliedsländer über zwei EU-Institutionen entscheidend an der Gestaltung der Europapolitik beteiligt. Über den Europäischen Rat, der mit den Regierungschefs der EU-Staaten besetzt ist, und den Räten der Europäischen Union, die sich aus den Ministern der verschiedenen nationalen Regierungen zusammensetzen, wirken die Regierung der EU-Mitgliedsländer an der europäischen Gesetzgebung mit. Dem Europaparlament, das wie die nationalen Parlamente direkt demokratisch legitimiert ist, stehen damit gleich zwei EU-Organe gegenüber, die sich ausschließlich aus den Regierungen der EU-Staaten zusammensetzen.
Daneben sind die Regierungen der EU-Mitgliedsländer über die verschiedenen Räte auch an der Wahl der Europäischen Kommission beteiligt, wodurch sich der Einfluss der nationalen Regierungen noch einmal ausweitet.

EU-Kommission wird zum verlängerten Arm nationaler Regierungen:

Im Wesentlichen wird die Europäische Kommission von den Regierungen der EU-Mitgliedsländer bestimmt, die sowohl ein Vorschlagsrecht für die EU-Kommission haben als auch am Ende die Kommission bestätigen müssen. Das Europaparlament hat somit lediglich die Möglichkeit, dazwischen Änderungen bei der Zusammensetzung der Europäischen Kommission einzufordern oder eine mögliche EU-Kommission abzulehnen bzw. nicht zu wählen. Selbst wenn man, das Vorschlagsrecht des Rates ignorierend, die Wahl Jean-Claude Junckers im Juli 2014 zum Kommissionspräsidenten als Erfolg des Europaparlamentes feiert, bleiben immer noch 27 weitere EU-Kommissare, die von den Regierungen der EU-Staaten entsandt werden, wie zuletzt Günther Oettinger für Deutschland. Auf diese Weise sind die ausgesuchten Kommissare sehr eng mit den jeweiligen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten verbunden, auch wenn die EU-Kommission gegenüber den nationalen Regierungen am Ende nicht formell weisungsgebunden ist.

Während damit in allen EU-Staaten die Regierungen entweder direkt vom Wähler legitimiert oder über demokratisch breit legitimierte Parlamente gewählt werden, wird auf der europäischen Ebene die Regierung, also die EU-Kommission, im Wesentlichen durch 28 nationale Regierungen bestimmt, die zwar auch demokratisch legitimiert sind, allerdings nur in ihrem jeweiligen Land und nicht für die Europäische Union im Ganzen. Die EU-Kommission, also die europäische Exekutiv, wird damit ein wenig zu einer Art verlängertem Arm der nationalen Regierung bzw. der nationalen Exekutiven. Während insgesamt die parlamentarische Kontrolle hierdurch zurückgedrängt wird, wächst der Einfluss der Regierung der EU-Staaten auf die Politikgestaltung innerhalb der EU an.

Europaparlament ist nur halbe Legislative:

Neben der Wahl der Europäischen Kommission sind die nationalen Regierungen über die verschiedenen Räte an der Gesetzgebung der EU beteiligt, womit sie direkt in die legislative Arbeit und damit in die Kernaufgabe eines Parlamentes eingreifen.
Von zwei Seiten wird dabei das Europaparlament bei der Gesetzgebung in seiner Kompetenz beschnitten. Auf der einen Seite kann das Europaparlament keine eigenen Gesetze einbringen, weil ihm das Initiativrecht fehlt, und auf der anderen Seite kann das Parlament keine Gesetze alleine verabschieden, da stets auch die Zustimmung des Rates der Europäischen Union notwendig ist.
Während zum einen die EU-Kommission, die zumindest in einer gewissen formellen und informellen Abhängigkeit von den nationalen Regierung steht, für das Einbringen von Gesetzesinitiativen verantwortlich ist, müssen die EU-Gesetze nach der Verabschiedung im Parlament zum anderen auch noch von den Europäischen Räten, die direkt aus den Regierungen der EU-Staaten bestehen, bestätigt werden. Allerdings anders als zum Beispiel der Bundesrat in Deutschland, der nur in einzelnen Bereichen an der Gestaltung von Bundesgesetzen mitwirkt, sind die Räte der EU grundsätzlich immer an der legislativen Arbeit zu beteiligen und ein Beschluss der Räte kann auch nicht z.B. durch eine 2/3-Mehrheit des Parlamentes gekippt werden.

Die nationalen Parlamente, z.B. der Bundestag, verlieren somit einen Teil ihrer Gesetzgebungskompetenz an den europäischen Gesetzgeber. Nachdem jedoch die Kompetenzen des Europäischen Parlaments durch die Beteiligung der nationalen Regierungen an der Gesetzgebung beschränkt sind, kann das Europaparlament diesen Kompetenzverlust der nationalen Parlamente nicht vollständig ausgleichen. Umgekehrt gewinnen hierfür die nationalen Regierungen durch ihre Mitwirkung an der legislativen Arbeit über die europäischen Ebenen genau jenen Teil an Gesetzgebungskompetenz hinzu. Die nationalen Exekutiven haben damit nicht nur Einfluss auf die europäische Exekutive, also die EU-Kommission, sondern sind auch fester Bestandteil der europäischen Legislative.

Weitere Kompetenzverschiebungen:

Zusätzlich zu den Einschränkungen bei der Gesetzgebungskompetenz verschieben sich auch zwei weitere wesentliche Aufgaben vom Europäischen Parlament zu den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten.
Nachdem das EU-Parlament weder Steuern festlegen noch Kredite aufnehmen kann, ist es bei der Budgetplanung maßgeblich auf die Zusammenarbeit mit den nationalen Regierungen angewiesen, die für die Bereitstellung der Finanzmittel der EU verantwortlich sind. Somit ist auch beim Königsrecht eines Parlamentes, dem Budgetrecht, das Europaparlament in einer ziemlich schwachen Position. Es hat zwar die Möglichkeit, Änderungen zu dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Haushaltsplan einzubringen oder den Haushaltsplan abzulehnen, es kann damit allerdings, wie bei der Wahl der EU-Kommission, nur blockieren und nicht selbständig gestalten.

Daneben verschiebt sich auch das fundamentalste Recht der Legislative, die Möglichkeit die Verfassung zu ändern, stillschweigend vom Parlament hin zu den Regierungen und Regierungschefs der EU-Staaten. Eine Verfassung, wie zum Beispiel das deutsche Grundgesetz, sind die Spielregeln eines Staatswesens, weshalb nur unter engen Voraussetzungen, z.B. einer 2/3-Mehrheit, Verfassungsänderungen durch die demokratisch breit-legitimierten Parlamente möglich sind. Die EU ist allerdings kein Staat, weshalb die Spielregeln nicht in einer Verfassung, sondern in Verträgen zwischen den Mitgliedsländern festgeschrieben sind. Diese Verträge wurden jedoch von den Regierungen abgeschlossen, die entsprechend auch für Anpassungen der Verträge zuständig sind.
Während damit z.B. in Deutschland für eine Verfassungsänderung eine 2/3-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig ist, sind für die Änderungen dieser Spielregeln auf europäischer Ebene alleine die Regierungschefs verantwortlich. Auch wenn es hierbei Grenzen durch die Verfassungen der jeweiligen EU-Staaten gibt, verschieben sich, durch diesen Aufbau der EU mithilfe multilateraler Verträge, Macht und Einfluss weiter vom Parlament zu den Regierungen.

Zusammenfassung:

Durch die Konstruktion der EU verschiebt sich die politische Macht von Parlamenten zu Regierungen. Dies resultiert unter anderem aus dem großen Einfluss der nationalen Regierungen auf die Zusammensetzung der europäischen Kommission, den ausgeprägten Gesetzgebungskompetenzen für die von nationalen Regierungen besetzten Räte, der finanziellen Abhängigkeit der EU von den Nationalstaaten und dem grundsätzlichen Problem, dass die EU nicht auf einer Verfassung sondern auf multilateralen Verträgen beruht. Das Europaparlament, als einzige demokratisch direkt legitimierte Institution der EU, kann dabei den Matchverlust der nationalen Parlamente aufgrund seiner beschränkten Kompetenz nicht ausgleichen.
Insgesamt führt der Aufbau der EU damit zu einer erheblichen Machtkonzentration bei den nationalen Regierungen, die auf der europäischen Ebene weitreichenden Einfluss haben. Eine weitere Folge dieser Struktur ist eine verstärkte Vermischung von Legislative und Exekutive entgegen dem Prinzip der Gewaltenteilung sowie eine Schwächung der demokratischen Legitimation der EU-Politik.


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