Nachgefragt: Brief an das Europäische Informations-Zentrum Niedersachsen
Liebes Europäisches Informations-Zentrum Niedersachsen,
eigentlich bin ich überzeugter Europäer, also der festen Überzeugung, dass wir in Europa gemeinsam wesentlich mehr erreichen können als im nationalstaatlichen Kleinklein. Mittlerweile bin ich jedoch so unglaublich enttäuscht von der EU und vieler ihrer Akteure, dass sogar ich bei einer Volksabstimmung nahe daran wäre, für eine Auflösung der EU zu stimmen. Daher habe ich Ihre „10 guten Gründe für die EU“ [1] zum Anlass genommen, um mal meine Sichtweise darzulegen.
1.) In der Schweiz gibt es auch keinen Krieg – ganz ohne EU.
2.) Die 28 EU-Länder sind nicht wegen der EU der stärkste Wirtschaftsraum, sondern die EU ist es wegen der 28 Länder. Und die bleiben auch der stärkste Wirtschaftsraum ganz ohne die EU.
3.) Bei dem Verfehlen von Klimazielen, der Feinstaubbelastung in Städten, der Nitratverschmutzung des Grundwassers oder dem Abgasskandal ist es doch eine ziemlich gewagte These, dass die EU sich für unsere Umwelt einsetzt.
4.) Die Binnennachfrage ist in Deutschland seit Jahren zu schwach und das Wirtschaftswachstum krankt insbesondere in der Eurozone kräftig. Das sagen zumindest die Zahlen des IWF.
5.) Das stimmt natürlich mit den Freiheiten. Wo können Künstler freier schaffen als in Ungarn oder Journalisten besser als in Polen. Und erst der Minderheitenschutz z.B. der Roma in Rumänien. Ironie angekommen?
6.) Ich bezweifle, dass ein Arbeitsloser, egal ob jugendlich in Südeuropa oder 58-jährig in Deutschland, wirklich den Eindruck hat, die EU unterstützt Menschen vor Ort.
7.) Wenn Muslime z.B. in der Slowakei keinen Flüchtlingsschutz erhalten, wie verträgt sich das mit dem individuellen Recht auf die freie Religionswahl?
8.) Und wie grandios die EU unsere Rechte schützt. Kein europäischer Geheimdienst würde sich je trauen, Bürger gegen Recht und Gesetz auszuschnüffeln. Und fragen Sie mal einen Flüchtling, wie leicht er seinen in der GFK festgelegten Anspruch auf Flüchtlingsschutz an den EU-Außengrenzen geltend machen kann. Ich hoffe auch diese Ironie ist angekommen.
9.) Die Liberalisierung des Schienenverkehrs oder der Postdienstleistungen hat zu einem steigenden Angebot und einem Kostenrückgang in Ballungszentren geführt, allerdings auch zu einem Angebotsrückgang und Kostenanstieg in den ländlichen Regionen. Hierdurch wurde die Landflucht verstärkt.
10.) Unsere europäische Eine-Frau-Armee Federica Mogherini soll Europa verteidigen? Ich bin dann doch froh, dass das die NATO macht.
Natürlich bin ich auch weiterhin absolut dafür, dass wir in Europa zusammenarbeiten, aber so wie die EU organisiert ist, funktioniert es offensichtlich hinten und vorne nicht. Wir sollten in Europa an einem Strang ziehen, aber wir sollten schon schauen, dass er nicht um unseren eigenen Hals oder um den Hals anderer Menschen liegt, wenn man z.B. an die bisher 3.000 Toten im Jahr 2016 an den Außengrenzen des ach so tollen „stärksten Wirtschaftsraums der Welt“ denkt. Jeder vernünftige Mensch bekommt da doch das Grausen.
Dabei will ich ja gar nicht übermäßig viel. Die EU muss nicht die Arbeitslosigkeit komplett beseitigen, aber sie sollte eben zumindest nicht so schlecht funktionieren, dass die Arbeitslosigkeit noch zusätzlich steigt. Sie muss auch nicht alle Menschen der Welt retten, aber sie muss zumindest die GFK einhalten, z.B. an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei. Und auch mit Regierungen, die über die Stränge schlagen wollen, kann ich mich abfinden, wenn schlussendlich effektiv gewährleistet ist, dass trotzdem die Grundrechte und die demokratische und rechtsstaatliche Verfasstheit der einzelnen EU-Länder gewahrt bleiben. Aber genau diese Dinge funktionieren absolut nicht und ich kann eben auch nicht erkennen, dass sich daran in Zukunft etwas ändern wird.
Daher meine Frage an Sie vom Europäischen Informationszentrum, die Sie ja sozusagen professionelle Europäer sind: Warum sollte ich diese EU, die nicht funktioniert und die unfähig ist, ihre Konstruktionsfehler zu beseitigen, eigentlich noch wollen? Oder woraus sollte ich Hoffnung schöpfen, dass sich doch noch etwas zum Besseren ändert? Es würde mich sehr freuen, wenn Sie mir darauf eine Antwort geben könnten.
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Nachgefragt: Die EU und die humanitäre Katastrophe an den EU-Außengrenzen (www.mister-ede.de – 06.09.2016)
Die Widersprüche der europäischen Flüchtlingspolitik (www.mister-ede.de – 04.02.2016)
Statistik zur Entwicklung des realen BIP der Euro-Länder 2008-2014 (www.mister-ede.de – 19.04.2015)
[1] „Warum die EU wichtig ist: 10 gute Gründe“ des EIZ-Niedersachsen (Link zur Auflistung auf www.eiz-niedersachsen.de)
1. Ihr Beispiel ist absurd. Sie vergleichen einen Verbund von Staaten mit einem Staat. Gegen wen sollen die Schweizer Krieg führen? Meinen sie einen Bürgerkrieg? Deutsch-Schweizer gegen Lateinschweizer? Und wenn sie das so meinen kann ich nur anmerken, dass es eben einen gesamt-schweizerischen Regierungsapparat gibt. Man könnte auch sagen die Schweiz ist eine EU im kleinen und deshalb gibt es dort keinen Krieg, weil Konflikte auf dem politischen Schlachtfeld gelöst werden!
2. Können sie ihre Aussagen belegen? Wie wollen sie Effekte wie den gemeinsamen Markt aus der Betrachtung ausklammern?
3. 4. 5. Denken sie ohne Europäische Union wäre die Situation anders oder besser in einem der erwähnten Staaten?
Zum Rest: die EU hat größtenteils gar nicht genug Macht und Befugnisse, um hier verantwortlich gemacht zu werden. Was das Europäische Informations-Zentrum Niedersachsen schreibt ist natürlich kontraproduktiv, weil es gegenteiligen Eindruck erweckt. Man sollte sich bei der Informationspolitik lieber an harte belegbare Fakten halten.
10. Mir ist eine Europäische 1-Frau Armee in Form von Federica Mogherini lieber, weil sie Europäerin ist und sich um europäische Sicherheitsinteressen schert! Ich vertraue nicht in eine von Trump oder Clinton dominierte NATO. Zumal Trump die NATO wahrscheinlich auflöst… Ja, brandmarken sie diese Statements ruhig als stark anti-amerikanisch gefärbt! So sind sie beabsichtigt!
Hallo duodecim stellae,
Zu 1.: Dass die Schweiz kein Teil der EU ist, aber seit 100 Jahren Frieden hat, ist keine Erfindung. Aus meiner Sicht verhindert eine gute Zusammenarbeit von Ländern, egal ob in der EU oder in anderen Institutionen, Krieg zwischen diesen Ländern. Mir ist also eine gute Zusammenarbeit ohne EU lieber als eine EU, die z.B. schlecht mit Großbritannien zusammenarbeitet und Risse in Europa entstehen lässt. Die Äußerungen der EU-Politiker nach dem Brexit sind Ihnen ja sicher bekannt.
Zu 2.: Das ist einfache Addition. Aber sie können sich die Zahlen des IWF zum Wachstum in der Eurozone anschauen, wobei eigentlich war es ja eine Schrumpfung der Realwirtschaft von 2008 bis 2014 um 1,4 %. Subjektiv natürlich erfreulich, dass wir Deutschen das noch am wenigsten merken.
http://www.mister-ede.de/politik/reales-bip-eurozone-2008-2014/3816
Zu 3/5.: Vermag ich nicht abzuschätzen. Ich denke aber, dass die fehlenden Sanktionsmöglichkeiten eine Einladung sind. Gegen Russland können wir Sanktionen verhängen, aber Orbán kann ja munter machen was er will, ohne dass wir Ungarn z.B. aus dem Binnenmarkt werfen können.
Zu 4.: Ich denke das ist mit Verweis auf die Wachstumszahlen des Internationalen Währungsfonds (IWF) eindeutig.
Insgesamt sehe ich recht viel Verantwortung der EU dabei, dass Flüchtlinge an den Außengrenzen ertrinken oder die Slowakei eine Sonderrolle bei der Aufnahme von Muslimen geltend macht. Und zu 10 muss ich sagen, dass Sicherheitspolitik nicht auf Wunschdenken aufbauen sollte.
Danke für Ihren Versuch und Sie haben auch einige richtige Ansätze der EU erwähnt, die es zu erhalten lohnt. Aber wenn die EU für mich wieder attraktiv werden will, muss sich erst einiges ändern.
Irgendwie finde ich es bezeichnend, dass das EIZ-Niedersachen auf meine Mail nicht mal geantwortet hat. Ignorieren ist wohl ein nicht untypischer Umgang von EU-Einrichtungen mit EU-Bürgern, wie ich ja auch schon öfters feststellen musste.
Das EIZ (Niedersachsens) hat mir inzwischen recht ausführlich geantwortet.
Aus meiner Sicht hat das EIZ, wie auch schon duodecim stellae, das wohl beste Argument für die EU gefunden. Eine Non-EU würde nämlich an keiner Stelle zu besseren Ergebnissen, aber an vielen Stellen zu viel schlechteren Ergebnissen führen.
Kurz gesagt: Keine EU ist auch keine Lösung.
Und das EIZ hat auch recht, wenn es auf die Komplexität des europäischen Integrationsprozesses hinweist.
In meinen Worten: Von einer Bankenunion zu sprechen ist leicht. Regeln zu finden, die im globalen Finanzsystem funktionieren und gleichzeitig auch für 28 EU-Länder passen, verdammt schwer.
Ja, bis zur Europäischen Einigung ist es noch ein weiter weg, aber wir Pro-Europäer dürfen uns nicht entmutigen lassen, auch wenn es immer nur Zentimeter um Zentimeter vorangeht. Die Antwort des EIZ macht mir deshalb zumindest wieder etwas Mut, dass die EU gelingen kann.