Bewertung des EGMR-Urteils zum französischen Verschleierungsverbot

Am 1. Juli hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geurteilt, dass das in Frankreich bestehende Verschleierungsverbot mit europäischem Recht vereinbar ist und keinen unrechtmäßigen Eingriff in die Grundrechte darstellt [1].
Bei meiner Bewertung des Urteils komme ich allerdings zu einer etwas anderen Einschätzung als Maximilian Steinbeis, der sich mit dem Urteil im Verfassungsblog auseinandergesetzt hat [2]. Obwohl ich eine ähnliche Auffassung zu dem zugrundeliegenden Gesetz habe wie er, halte ich das Urteil für absolut richtig.

Aus meiner Sicht ist schon die Überschrift von Steinbeis‘ Artikel nicht ganz passend gewählt und führt daher in die falsche Richtung, denn eigentlich geht es bei diesem Gesetz am Ende nicht um ein Burka-Verbot, sondern allgemein um die Verhüllung im öffentlichen Raum. Durch das französische Gesetz ist weder das Tragen der Burka im nicht-öffentlichen Raum verboten, noch darf man sich im öffentlichen Raum anderweitig verhüllen. Steinbeis stellt das in seinem Text zwar auch dar, kommt dann aber zum Schluss, „man macht sicher keinen Fehler, wenn man vermutet, dass es faktisch hier nur um eine ganz konkrete Bevölkerungsgruppe geht“. Dem stimme ich zwar zu, allerdings kann daraus aus meiner Sicht noch nicht auf eine Diskriminierung geschlossen werden. Das Rauchverbot trifft nur Raucher, die Anschnallpflicht nur Autofahrer und dennoch handelt es sich bei beidem um zulässige Eingriffe in Freiheiten und nicht um eine verbotene Diskriminierung.
Darüber hinaus halte ich Steinbeis‘ Einlassung auch in einem gewissen Maße für unkonventionell, da es juristisch sowieso irrelevant ist, wie viele andere Gruppen neben Burka-Trägerinnen noch von dem Verschleierungsverbot betroffen sind. Es wäre grotesk, wenn dies eine Rolle spielen würde, denn das hieße ja, das Verbot wäre rechtmäßig, solange nur eine andere Gruppe, z.B. eine Vereinigung verschleierter Landfrauen, von dem Verschleierungsverbot stärker betroffen wäre.

Das Gericht hat entsprechend weder zu berücksichtigen, welche Intentionen im Vorlauf des Gesetzes eine Rolle gespielt haben, noch zu beachten, welche weiteren Hintergedanken es womöglich gibt, sondern lediglich darüber zu entscheiden, ob die am Ende erlassene Regelung mit den europäischen Gesetzen vereinbar ist. Ein noch so gut gemeintes Gesetz kann z.B. verfassungswidrig sein, während ein noch so schlecht gemeintes Gesetz das eben nicht sein muss.
Die einzige Frage, die das Gericht deshalb zu prüfen hat, ist, ob dieses Verhüllungsverbot, so es denn Burkas betrifft, in das Grundrecht der Freiheit der Religionsausübung in unzulässiger Weise eingreift.
Dabei steht außer Zweifel, dass ein Staat Regelungen zum Verhalten in der Öffentlichkeit treffen darf, ob das nun das Verbot ist, sich zu verhüllen, Alkohol zu konsumieren oder nackt über den Marktplatz zu rennen. Fraglich ist dann allerdings immer, ob mit solchen Verboten irgendein Grundrecht eingeschränkt wird, ob nun die Versammlungsfreiheit oder eben in diesem Fall die Freiheit der Religionsausübung, und ob diese Einschränkung im konkreten Fall vertretbar ist. Der Eingriff in die freie Religionsausübung ist bei diesem Gesetz natürlich zweifellos gegeben, da das Tragen einer Burka in der Öffentlichkeit eben nicht mehr erlaubt ist. Es stellt sich daher lediglich die Frage, ob dieser Eingriff verhältnismäßig ist und damit zu rechtfertigen.

Das Gericht muss aus diesem Grund zum Beispiel prüfen, ob sich das politische Ziel, in diesem Fall also in der Öffentlichkeit das Gesicht zu zeigen, durch ein milderes Mittel erreichen lässt. Allerdings dürfte es hier schwierig sein, ein milderes Mittel als das Verbot der Verschleierung zu finden.
Daneben muss das Gericht auch prüfen, ob das Gesetzesziel legitim und wichtig genug ist, um die Einschränkung zu rechtfertigen, und ob sich das angestrebte Ziel überhaupt mit dem Gesetz erreichen lässt. Letzteres ist zu bejahen, denn durch das Verbot der Verschleierung wird natürlich das Ziel des offenen Gesichtes erreicht und zu ersterem kann man nun verschieden Auffassungen haben. Dies allerdings bedeutet vor allem, dass der Gesetzgeber, in diesem Fall der französische, einen weiten Spielraum bei seiner Einschätzung hat. Aus diesem Grund muss das Gericht die Abwägung des französischen Gesetzgebers respektieren, solange nicht ein offensichtliches Missverhältnis bei der Abwägung vorliegt.
Ich bin daher auch nicht der Meinung von Steinbeis, dass das Gericht hier den Grundrechtsschutz aufweicht, sondern teile die Auffassung des Gerichts, das sagt [3]: „The national authorities have direct democratic legitimation and are, as the Court has held on many occasions, in principle better placed than an international court to evaluate local needs and conditions.“ Für den einen mag eine solche Zurückhaltung des Gerichts wirken, als seien die Ergebnisse beliebig, aus meiner Sicht ist eine solche Zurückhaltung aber einfach Ausdruck der Gewaltenteilung.

Um es ganz klar zu sagen, ich hätte als französischer Gesetzgeber anders abgewogen und ich befürworte das Gesetz nicht, allerdings möchte ich eben auch keinesfalls, dass künftig die Gerichte politische Entscheidungen treffen und nicht mehr die demokratisch legitimierten Volksvertreter, die man im Zweifel auch abwählen kann. Der deutsche Gesetzgeber soll bitte weiterhin im öffentlichen Interesse verbieten können, nackt, bewaffnet oder mit einer Nazi-Fahne durch die Stadt zu ziehen und der französische soll die Möglichkeit haben die Verschleierung zu untersagen.
Und wenn man mit der Abwägung dann nicht einverstanden ist, muss man politischen Druck aufbauen, damit die verantwortlichen Politiker abgewählt werden, und nicht von den Gerichten erwarten, dass diese zum Ersatzgesetzgeber mutieren.

Aus meiner Sicht hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte daher eine gute Arbeit gemacht. Allerdings hoffe ich, dass sich irgendwann eine politische Mehrheit in Frankreich findet, die dieses Gesetz einfach wieder abschafft.

Ergänzung vom 12.09.2016: Europäisches Recht ist hier nicht EU-Recht, sondern die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarats, dem 47 europäische Länder angehören und dessen Gericht der EGMR ist.

[1] Artikel auf sueddeutsche.de vom 01.07.2014 zum Urteil des EGMR (Link zum Artikel auf www.sueddeutsche.de)

[2] Beitrag von Maximilian Steinbeis vom 01.07.2014 auf Verfassungsblog.de (Link zum Artikel auf www.verfassungsblog.de)

[3] Urteil des EGMR (Link zum Urteil auf echr.coe.int)

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