Bundestagswahlrecht: Vom Verfassungsgericht bis zum Riesen-Parlament

Es ist schon eine peinliche Situation: Alle Parteien wissen, dass die Wahlrechtsreform von 2013, durch die es zu einer massiven Aufblähung des Bundestages kommen kann, ein echter Griff ins Klo war. Und trotzdem ist eine Lösung des Problems bis heute nicht in Sicht. Aber dafür gibt es Gründe:

Noch immer beharren viele Parlamentarier auf einer zum Teil mutwilligen Fehlinterpretation des Bundesverfassungsgerichts. Dieses hatte am 25.7.2012 zwar geurteilt, dass das bis dahin geltende Bundestagswahlrecht verfassungswidrig sei [1]. Doch liest man sich das Urteil des Zweiten Senats durch, wird einem schnell klar, dass den Verfassungsrichtern die vorhandenen Zielkonflikte (Wahlrechts-Trilemma) sehr bewusst waren. Sie sehen und benennen diese und lassen dem Gesetzgeber deshalb auch einen angemessenen Spielraum, um bei der Gestaltung des Wahlrechts zwischen den verschiedenen Zielen abwägen zu können.
Die Richter geben den Klägern zwar insoweit Recht, als die Gleichheit der Wahl ein hohes Gut ist und deshalb eine korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses notwendig sei. Allerdings schränken sie diesen Grundsatz mit Hinblick auf die Zielkonflikte auch ein: Zum einen darf es, wenn es sich nicht vermeiden lässt, bis zu einem gewissen Maße Abweichungen von der korrekten Abbildung des Zweitstimmenergebnisses geben. Wenn damit andere wichtige Ziele verfolgt werden und die Maßnahmen wirksam sind, können solche Einschränkungen also zulässig sein. Zum anderen muss das Wahlgesetz die Einhaltung dieses Grundsatzes auch nur für solche Wahlergebnisse sicherstellen, die objektiv auch eine gewisse Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Wenn es also bei einem Ausnahme-Wahlergebnis zu einer nicht ganz korrekten Abbildung des Zweitstimmenergebnisses käme, kann das durchaus vertretbar sein.

Damit haben die Verfassungsrichter ein sehr bedachtes Urteil gefällt. Und letztlich wäre es auch verwunderlich gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht auf der einen Seite eine 5%-Hürde tolerieren würde, durch die 2013 deutlich über 10% der Zweitstimmen gar keinen Einfluss auf die Sitzverteilung im Bundestag hatten, aber dann auf der anderen Seite für die restlichen 90% eine haargenaue Abbildung des Zweitstimmenergebnisses ohne irgendwelche Ausnahmen einfordern würde.
Gleichwohl, auf politischer Ebene hat sich bei zahlreichen Parlamentariern eine andere Lesart des Urteils etabliert. Die korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses hat für diese Abgeordneten nun höchste Priorität und folgerichtig sind andere Bestandteile des Wahlrechts, z.B. die garantierten Sitze für die Direktkandidaten, oder eben auch das Ziel einer Größenbeschränkung des Bundestages nachrangig. Und tatsächlich hat sich diese Haltung bei der Neugestaltung des Wahlrechts am Ende auch durchgesetzt. Das kurz vor der Bundestagswahl 2013 verabschiedete Wahlgesetz ist jetzt so gestaltet, dass das Zweitstimmenergebnis stets korrekt abgebildet wird, allerdings zum Preis, dass aktuell eben 709 statt 598 Abgeordnete im Parlament sitzen – und bei kommenden Wahlen könnten es auch noch deutlich mehr werden.

Entsprechend gibt es seit der Bundestagswahl 2013 Bestrebungen, das Wahlgesetz einer neuerlichen Reform zu unterziehen. So forderte beispielsweise der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert die Fraktionen bereits in der ersten Sitzung des letzten Bundestages auf, eine Lösung zu erarbeiten [2]. Doch seitdem ist es trotz zahlreicher Anläufe noch immer nicht gelungen, die Parlamentarier zu einem vernünftigen Kompromiss zu bringen. Und daran wird sich vermutlich auch nichts ändern, solange größere Teile des Parlaments weiter auf ihrer Fehlinterpretation des Verfassungsgerichtsurteils beharren und die korrekte Abbildung des Zweitstimmenergebnisses unter keinen Umständen aufgeben wollen. Es bleibt daher abzuwarten, ob der erneute Versuch, dieses Mal von Wolfgang Schäuble initiiert [3], endlich zu einem brauchbaren Ergebnis führt.


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[1] Urteil des Zweiten Senats des BVerfG zum Bundestagswahlrecht vom 25.7.2012 (Link zum Urteil auf www.bundesverfassungsgericht.de)

[2] Bericht des Bundestages zur konstituierenden Sitzung 2013 (Link zum Bericht auf www.bundestag.de)

[3] Artikel des Tagesspiegel vom 25.07.2018 zur geforderten Wahlrechtsreform (Link zum Artikel auf www.tagesspiegel.de)

Diskussion:

3 Gedanken zu “Bundestagswahlrecht: Vom Verfassungsgericht bis zum Riesen-Parlament

  1. Das Urteil von 2012 würd ich schon für ziemlich klar halten, was die zulässige Abweichung vom Proporz unter den berücksichtigten Parteien betrifft, und sicherstellen lässt sich das kaum, ohne dabei negatives Stimmengewicht zu erzeugen. Trotzdem hat es schon entsprechende Vorschläge gegeben.

    Den eigentlichen Hebel seh ich darin, dass das Bundesverfassungsgericht den Zwang zu weitgehendem Proporz im Wesentlichen aus dem grundsätzlichen Willen des (einfachen) Gesetzgebers dazu ableitet. Das lässt sich ändern, indem man die Verhältniswahl aus § 1 BWG rausnimmt und es von vornherein so formuliert, dass lediglich verbliebene Sitze nach vorhandenen Ansprüchen verteilt werden, solang der Vorrat reicht. So funktioniert es z.B. in Schottland. Feste Sitzzahlen für die Bundesländer ohne bundesweiten Verhältnisausgleich würden auch den Anspruch unterstreichen, keine reine Verhältniswahl zu wollen.

    Ein Wahlsystem für den Bundestag mit fester Maximalsitzzahl hab ich mal hier formuliert: http://deponie.bplaced.net/wahlen/wahlsystem-bundestag/sitzverteilung.html

    • Ob das BVerfG eine Abkehr von der Verhältniswahl als GG-konform ansehen würde, bliebe abzuwarten. Immerhin würde das die garantierte Chancengleichheit kleinerer Parteien erheblich einschränken.

      • Dass das Bundesverfassungsgericht zunehmend von der Wählersicht auf die nicht äquivalente Parteiensicht wechselt, ist schon richtig. Es hat aber auch bis zuletzt die Mehrheitswahl ausdrücklich als zulässig bezeichnet und muss deshalb eine Chancengleichheit, die nicht im proportionalen Sinn zu verstehn ist, für möglich halten. Bei den Wählern gebraucht es das selbe Wort auch gerade im Gegensatz zu einer Proportionalität (“Erfolgschancengleichheit” ersetzt zunehmend den Begriff der reinen “Zählwertgleichheit” bei Mehrheitswahl).

        Unklar ist halt, ob es überhaupt was zulässt, was weder Mehrheits- noch Verhältniswahl ist. Zumindest hält es aber entstellte Verhältniswahl durch mehr oder weniger kleinere, unverbundene Wahlkreise und gemischte Systeme (Grabenwahl) offensichtlich für zulässig.

        Bedingung wird aber sein, dass die Wahlkreisgrößen viel gleichmäßiger werden. Die relativ großen Toleranzen dabei gelten ausdrücklich nur für den Fall, dass das keinen wesentlichen Einfluss auf die Aufteilung der Sitze bezüglich der Parteien hat.

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